Den vollendeten Widerstand denken

Eine offene Forschungsplattform stellt sich der Frage, wie zukünftige Revolutionen aussehen werden

  • Alexander Isele
  • Lesedauer: 4 Min.

Passend zum kommenden Jahreswechsel wagt das »Institut für Widerstand im Postfordismus« einen Blick in die Zukunft. Mit Bleigießsets, die an (Revolutions-) Automaten in Kreuzberg gezogen werden können, kann man in klassischer Neujahrstradition Spekulationen über kommende Ereignisse treffen. Allerdings nicht auf das eigene Liebes- oder Lebensglück bezogen, sondern es werden revolutionäre Interpretationen vorgeschlagen: Gießt man eine Faust, zeichnet sich ein Generalstreik ab, sieht man im Bleigebilde einen Hammer, fällt die Mauer um Europa. So will das Institut das revolutionäre Potenzial in der »Keimzelle Kreuzberg« aktivieren: Werde Teil der Utopie! Beteilige Dich an der widerständigen Spekulation.

Noch bis April 2016 will das (Kunst-) Kollektiv »Institut für Widerstand im Postfordismus« kommende Revolutionen 2025 - 2029 erforschen. Als transdisziplinärer Zusammenschluss zwischen Kunst, Theorie und Aktivismus ist das Ziel, angelehnt an Harald Welzer, »Gegengeschichte« zu schreiben. An zwei Tagen im Monat lädt das Institut zu einer offenen Forschungsplattform »Forschen am Widerstand« nach Kreuzberg in die »Vierte Welt« ein, bei der Gäste aus Theorie und Praxis Einblicke in Techniken und Instrumente des Widerstands geben. Nach Vorträgen wird dann die Runde geöffnet und gemeinsam kann die Zukunft des Widerstands gedacht werden.

Als Ergebnis stehen Prognosen, »welche Revolution(en) wir erlebt haben werden«. Jeder ist dazu eingeladen, sich an der widerspenstigen Geschichtsschreibung zu beteiligen. Dazu will das Institut eine Form finden, die in den Raum eingreift, eine andere Wirklichkeit erzeugt. »Das ist natürlich Show, aber irgendwie auch nicht«, sagt Elisa Müller, die dem Institut angehört. »Wir wollen in den Raum eingreifen, auch wenn er erst mal nur imaginativ ist; das ist die Basis dafür, die Realität zu verändern.« Im doktorenhörigen Deutschland wird die Revolution allein deshalb möglicher, weil man sich institutionell mit ihr beschäftigt.

Das »Institut« arbeitet mit einem Gespann aus Analyse, Diskurs und Performance. Zu jedem Treffen gibt es einen Einführungsvortrag, in dem der Ist-Zustand aufgezeigt wird: Vega Damm führt ein in die postfordistische Subjektivität, in der die Eigenschaften der kapitalistischen Marktlogik sich in die Gehirne der Menschen geätzt haben: »Die Ratio als vernunftgeleitetes Denken und Handeln agiert nicht mehr selbstständig, sondern wird mehr und mehr der Marktlogik unterworfen ... Der Mensch wird User und Unternehmer in einem, ein Agent seiner Selbsterhaltung, Manager seines Ichs«, und damit im Streben nach Nutzenmaximierung ein »eminent regierbares« Wesen. Statt fordistische Massenproduktion nun Profitmaximierung und Kommerzialisierung im Postfordismus, immer auch auf sich selbst gerichtet.

Um vom »›Wie-der-Stand‹ zum Widerstand« (Damm) zu gelangen, setzt das Institut auf die Rückbesinnung auf die eigentlichen Werte des demokratischen Bewusstseins, zusammengefasst als: Menschlichkeit. Indem der Mensch wieder in den Mittelpunkt gerückt wird, leistet die im Postfordismus entwertete Menschheit Gegenwehr. Für den Diskurs wird für jede Veranstaltung ein anderer Gast einladen, der über sein Schaffen berichtet und der inspirieren soll beim Aufspüren und Weiterspinnen von revolutionär-widerspenstigen Praktiken. Sei es bei der »Verweigerung des Diktats der Effizienz«, inspiriert vom Zentrum für Karriereverweigerung, oder bei der »Bewegung Verfassungsklage für kollektive Belange« mit ihrer Klage gegen den Pflegenotstand, inspiriert vom Grundgesetz, das ein Grundrecht auf Widerstand garantiert.

Für 2020 sagt das »Institut für Widerstand im Postfordismus« aufgrund der gemeinsamen Nachforschungen einen Generalstreik in Deutschland voraus. Die Mitglieder sehen Widerstand aber nicht nur als gesamtgesellschaftliche Aktion; die Hälfte der Bevölkerung, so die Prognose, wird für sich anfangen, ein Leben auf Kosten anderer zu beenden, und sich der Effizienzpflicht verweigern.

Viele Vorschläge und Ideen zielen dann auch auf die Sphäre des Konsums - und dessen Verzicht erscheint als häufigste Form des Widerstands. Das hängt auch damit zusammen, dass ein offener Widerstandsbegriff zwar für einen Diskurs toll ist, aber er dem Vorwurf ausgesetzt ist, apolitisch zu sein. Betrachtet man die Seite der Produktion, wird es schwieriger, neue Widerstandsformen zu denken, speziell nachdem die großen Streiks der letzten Jahre - Amazon, Kita - mit Niederlagen oder wie bei der Bahn mit erheblichem Ansehensverlust der Streikenden geendet haben.

Dem Vorwurf der Beliebigkeit in den Widerstandsformen entgegnet Elisa Müller, dass das »Institut« beides ermöglichen will: eine detaillierte Analyse und daraus folgend mit Gedankenschnellschüssen neue Ideen, wie man sich wehren kann. Für die nächsten Veranstaltungen sind Stefan Heidenreich und Marcus Steinweg geladen, mit denen man über »Spekulative Praxen« und »Behauptungsphilosophie« weitere Prognosen über die kommenden Revolutionen erarbeiten will.

Nächste Veranstaltungen: 8. und 9. Jan., Vierte Welt, Adalbertstraße 96, Kreuzberg

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