Europas Flüchtlingspolitik zerbricht an »nationalen Lösungen«

In Griechenland und Italien eröffnen erste Registrierungszentren / Österreich will Obergrenze einführen / CSU greift Merkel und SPD an / LINKE warnt vor blinden Aktivismus

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Die sogenannten Hotspots sollen in vier Wochen ankommende Flüchtlinge registrieren und auf ganz Europa verteilen. Derweil streiten die Staaten: Die einen fordern europäische Ansätze, die anderen nationale Lösungen.

München. In Italien und Griechenland soll es nach EU-Angaben bereits in vier Wochen Zentren zur Registrierung von Flüchtlingen geben. »Wir haben nicht mehr als vier Wochen Zeit, um an den Grenzen Ergebnisse zu erzielen«, sagte EU-Flüchtlingskommissar Dimitris Avramopoulos der »Süddeutschen Zeitung« angesichts der vielen ankommenden Flüchtlingen.

In den Zentren sollen künftig alle ankommenden Flüchtlinge umgehend registriert werden, um sie anschließend innerhalb der Europäischen Union zu verteilen. Dazu gehört auch, ihnen Fingerabdrücke zu nehmen und ihre Daten in einer EU-Sicherheitsdatei zu überprüfen. Wegen der zunehmend heftigen Debatte um den richtigen politischen Kurs sei es notwendig, schnell Fortschritte zu erreichen, sagte Avramopoulos vor allem mit Blick auf die politisch angespannte Lage in Deutschland. Die in Griechenland und Italien geplanten Registrierzentren seien in vier Wochen voll einsatzbereit, sagte der EU-Kommissar der Zeitung.

Er betonte, dass weiterhin viele Flüchtlinge ankämen und eine Ende nicht absehbar sei. Er sei im Gegenteil in Sorge, dass »in den nächsten Monaten die Zahlen noch höher sein werden«. Er warnte allerdings davor, den Schengen-Raum anzutasten, um den ungezügelten Zustrom von Flüchtlingen eindämmen zu wollen.

Österreichs Außenminister fordert Obergrenze für Flüchtlinge

Der österreichische Außenminister Sebastian Kurz hingegen setzt auf Lösungen auf nationaler Ebene und hat sich für eine Obergrenze für Flüchtlinge ausgesprochen. »Für uns in Österreich ist klar, dass sich die Situation vom vergangenen Jahr 2016 so nicht wiederholen kann«, sagte Kurz am Montagabend im ZDF-»heute-journal«. »Das überfordert uns massiv und insofern wird es für Österreich notwendig sein, hier eine Obergrenze festzulegen.«

Die rechtspopulistische FPÖ, größte Opposiationspartei und derzeit in Meinungsumfragen deutlich vor den regierenden Sozialdemokraten und Konservativen liegen, schlägt unterdessen immer schrillere Töne an. Der »Deutschlandfunk« berichtet vom verbalen Frontalangriff des FPÖ-Chefs Cristian Strache auf die Regierungskoalition: »Diese Regierung hat sich sogar als staatliche Schlepperorganisation in Wahrheit herausgestellt. [Österreichs Bundeskanzler] Faymann ist in Wahrheit ein Staatsfeind, wie er sich verhält, ein Bürgerfeind und ein Österreichfeind.«

Zuvor hatte Kurz in Brüssel für »nationale Maßnahmen« plädiert, solange eine europäische Lösung ausbleibt. Ohne eine sichere EU-Außengrenze müsse das Problem an den nationalen Grenzen angegangen werden. Kurz brachte dabei auch eine gemeinsame Grenzsicherung mit Deutschland in Slowenien ins Spiel.

Die Frage einer Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen wird auch in Deutschland diskutiert. Nach Auffassung des Präsidenten des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), Koen Lenaerts, würde dies europäischem Recht zuwiderlaufen. Er sagte der »Neuen Osnabrücker Zeitung« vom Montag: »Immer wenn jemand asylberechtigt ist, hat er nach dem Unionsrecht das Anrecht darauf, als Flüchtling anerkannt zu werden. Das ist schwer vereinbar mit irgendeiner Zahl oder Obergrenze.«

Bayerns CSU-Finanzminister Markus Söder hat der SPD vorgeworfen, wichtige Entscheidungen in der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung zu blockieren. »Die Koalition in Berlin kann sich erneut nicht einigen, die SPD blockiert ein wichtiges Asylpaket«, sagte Söder am Dienstag im Deutschlandfunk. Beim Asylpaket II streiten die Koalitionspartner vor allem um die Einschränkung des Familiennachzugs und die Beteiligung von Migranten an Kosten für Sprach- und Integrationskurse. »Die Entwicklung verschärft sich von Tag zu Tag, und Beschlüsse werden nicht umgesetzt«, kritisierte Söder. »Die Menschen erwarten ein Signal, dass es so nicht weitergeht.«

Zu wenige Zuschüsse für das Flüchtlingshilfswerk aus Deutschland

Der Vizepräsident des Europaparlaments, Alexander Graf Lambsdorff, hat Deutschland eine Mitschuld am starken Zustrom von Flüchtlingen nach Europa zugewiesen. Die Bundesregierung habe ihre Zuschüsse für das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen im vergangenen Jahr um 50 Prozent zusammengestrichen, sagte der FDP-Politiker am Dienstag im ZDF-»Morgenmagazin«. Den Flüchtlingen in der Türkei, im Libanon und Jordanien habe deshalb das Geld gefehlt, um ihre Kinder zu ernähren. »Das war ein ganz wesentlicher Faktor für die Flucht«, sagte er.

Lambsdorff wandte sich gegen eine Schließung der Grenzen innerhalb Europas. Stattdessen müssten die EU-Außengrenzen besser geschützt werden, wofür eine europaweite Grenzschutzagentur nötig sei. »Es macht doch keinen Sinn, wenn unsere Bundespolizisten die deutsche Grenze schützen, aber der Druck in Griechenland wächst ins Unermessliche - das sind Bilder, die wir in Europa nicht wollen«, erklärte er.

Unerwähnt lässt er dabei, die Lage der Flüchtlinge in der Türkei. Auch mit höheren Zuschüssen aus Deutschland ist die Situation für die vielen Geflüchteten bedenklich, zumal der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan seit geraumer Zeit Politik auf den Rücken der Flüchtenden macht.

CSU feindet Merkel und SPD an

Bayerns CSU-Finanzminister Markus Söder hat der SPD vorgeworfen, wichtige Entscheidungen in der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung zu blockieren. »Die Koalition in Berlin kann sich erneut nicht einigen, die SPD blockiert ein wichtiges Asylpaket«, sagte Söder am Dienstag im Deutschlandfunk. Beim Asylpaket II streiten die Koalitionspartner vor allem um die Einschränkung des Familiennachzugs und die Beteiligung von Migranten an Kosten für Sprach- und Integrationskurse. »Die Entwicklung verschärft sich von Tag zu Tag, und Beschlüsse werden nicht umgesetzt«, kritisierte Söder. »Die Menschen erwarten ein Signal, dass es so nicht weitergeht.«

In einem Brandbrief an Kanzlerin Angela Merkel (CDU) fordern mehr als 30 CSU-Landtagsabgeordnete einen Kursschwenk in der Flüchtlingspolitik - und die Festlegung einer Obergrenze für die Zuwanderung. »Mehr als 200 000 Zuwanderer pro Jahr - seien es Bürgerkriegsflüchtlinge oder Asylsuchende - kann Deutschland nicht verkraften«, heißt es in dem Schreiben, das Merkel bei ihrem Gastauftritt auf der CSU-Fraktionsklausur an diesem Mittwochabend in Wildbad Kreuth übergeben werden soll. »Wir haben die große Befürchtung, dass ohne eine schnelle Begrenzung in 2016 noch weit mehr Flüchtlinge nach Deutschland kommen werden als im Jahr 2015.«

LINKE wirft Bundesregierung Aktionismus vor

In einer Presseerklärung äußert sich Jan Korte, stellvertretender Vorsitzender der Linksfraktion zu dem Vorgehen der Regierung: »Selbst mit funktionierender Bundesregierung ist es eine große Aufgabe, die zu uns geflüchteten Menschen menschenwürdig unterzubringen und ihnen eine Perspektive zu geben, aber sie wäre lösbar. Stattdessen misst sich die Regierungskoalition von Gabriel über Schäuble bis zu Seehofer in einem AfD-Ähnlichkeitswettbewerb.«

Korte weiter: »Die LINKE fordert die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien dazu auf, geschlossen die Herausforderung, Menschen in Not zu helfen, anzunehmen statt Aktionismus zum Dauerzustand schwarz-roter Politik zu machen. Asylrechtsverschärfungen, Rückführungen oder der ständige Kampf gegen die Verfassung von denen, die Bundeswehreinsätze im Innern fordern, ändern nichts an der aktuellen Lage.«

Politiker der Linkspartei haben sich gegen die zunehmende Rhetorik einer angeblichen Überforderung durch den Zuzug von Geflüchteten gewandt. Agenturen/nd

Flucht nach Europa - Lesbos
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