»Roma haben keine Wahl«

Aktivistin Tamara Baković-Jadžić über die Diskriminierung der Minderheit auf dem Balkan und das Konzept der »sicheren Herkunftsstaaten«

  • Lesedauer: 4 Min.

In Deutschland haben Roma aus Staaten des Balkans kaum eine Chance auf Asyl. Sie kommen laut der Bundesregierung aus angeblich sicheren Herkunftsstaaten. Wie bewerten Sie diese Politik?

Ganz formell ist das Recht auf Asyl in Deutschland nicht abgeschafft. Es sind aber juristische Spitzfindigkeiten, weswegen das individuelle Recht meist nicht wahrgenommen werden kann. In der Regelung der sicheren Herkunftsstaaten wird die Beweislast auf das Individuum übertragen. Die eigene Verfolgung nach diesen Kriterien nachzuweisen, ist sehr schwierig.

Warum ist das schwierig?

Die Asylbewerber sollen in einem verkürzten Verfahren, in zum Teil nur zehnminütigen Anhörungen, nachweisen, dass ihnen entgegen der »Regelvermutung« Verfolgung droht. Gerade für viele Analphabeten unter den Roma ist das eine kaum zu überwindende Hürde. So haben sie oftmals keine Dokumente, mit denen sie ihre Verfolgung nachweisen könnten. Opfer von rassistischer Gewalt wenden sich in Serbien zudem selten an die Polizei, da sie oft kein Vertrauen in die staatlichen Institutionen haben.

Würden Sie Roma trotzdem noch empfehlen, in Deutschland Asyl zu beantragen?

Die Roma haben keine Wahl. Sie leben unter so prekären Lebensbedingungen, dass selbst die Aussicht auf zwei Monate Abschiebelager, mit dem sie dem harten Winter in Serbien entkommen können, eine Option für sie darstellt.

Wie zeigt sich die Diskriminierung von Roma auf dem Balkan?

Diese Diskriminierung stellt eine historische Kontinuität dar. Für viele Roma existierte während der Zeit des sozialistischen Jugoslawiens jedoch noch die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs. Durch die Austeritätspolitik, den Abbau des Sozialstaates und die Privatisierung von öffentlichen Dienstleistungen hat sich die Diskriminierung aktuell wieder zugespitzt.

Können Sie Beispiele nennen?

Ein Bereich ist der Arbeitsmarkt. Arbeitgeber bevorzugen weiße Serben, der Zugang zu Lohnarbeit ist für Roma dadurch erschwert. Durch den Ausbruch der Wirtschaftskrise 2008 ist es noch mal schlimmer geworden. Vorurteile, die immer bestanden haben, werden wieder offen ausgelebt.

Fällt Diskriminierung bei der Stellenbesetzung unter das Asylrecht?

Allein der Ausschluss aus dem Arbeitsmarkt begründet nach deutscher Praxis noch keinen Asylgrund, denn die Behörden erkennen fast nur politische, also staatliche Verfolgung an. Allerdings ist laut internationalem und EU-Flüchtlingsrecht die sogenannte kumulative Diskriminierung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure sehr wohl anerkannter Asylgrund. Dazu zählen auch Diskriminierung in den Lebensbereichen Arbeit, Bildung, Wohnen und Gesundheitsversorgung.

Welche weitere Beispiele können Sie nennen?

Nur 15 bis 20 Prozent aller Roma-Schüler schaffen es in die Sekundarschule, nur ein Prozent schließt die Hochschule ab. Institutionell hängt das auch mit der weit verbreiteten Bildungssegregation zusammen. Roma-Kinder besuchen überdurchschnittlich oft Sonderschulen für geistig behinderte Schüler oder haben oft kaum eine Möglichkeit, Schulen zu besuchen, weil Schulmaterialien unerschwinglich für die Familien sind.

Welche Rolle spielt der serbische Staat?

Auf dem Papier gibt es Gesetze, die den Roma Schutz bieten sollen. Dies dient vor allem den Beitrittsverhandlungen mit der EU. De facto werden die Gesetze nicht umgesetzt.

Was meinen Sie mit institutioneller Diskriminierung?

Viele Roma haben wenige oder keine persönlichen Dokumente, was ihnen den Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen erschwert. Im Bereich der Bildung oder der Wohnungspolitik werden kaum Maßnahmen ergriffen, ihre Situation zu verbessern. So gibt es zwar eine Roma-Inklusionsstrategie der serbischen Regierung, allerdings keine Finanzierung.

Welche Gefahr geht von rechtsradikalen Gruppen aus?

Rechtsradikale hatten unter anderem versucht, informelle Siedlungen, in denen viele Roma leben, niederzubrennen. Diese Handlungen wurden von den Behörden aber nicht als Hassverbrechen bewertet. Es ergingen nur milde Urteile gegen die Täter.

Sollte die EU einen größeren Druck auf Serbien ausüben?

Die EU könnte den Druck erhöhen, damit die Gesetze zum Schutz und zur Inklusion von Roma auch umgesetzt werden. Aber wenn die EU eingestehen würde, dass die Balkanländer für die Minderheit nicht sicher sind, dann wäre das Konzept der sicheren Herkunftsstaaten am Ende.

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