Endlich Geheimtipp

Paul Gratzik ist tot

  • Matthias Hering
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Literatur der Bundesrepublik kam ausschließlich aus der DDR, Österreich und der Schweiz. Erklärungen zum erbärmlichen Zustand des Schreibwesens hierzulande sind nur aus Gräbern zu entbergen. Ein sehr fundreiches wird in den nächsten Wochen in der Uckermark versteckt. Am Montag verstarb Paul Gratzik, dessen Werk in den letzten Jahren unbemerkt vom Autor das Genre wechselte, aus Gegenwartsdramatik wurde utopischer Realismus.

Gratzik wuchs zum Dramatiker oder, wie er sich selbst beschied, zum »Deutschen Dichter«, weil es die DDR und ihre Theater gab. Der ostpreußische Sohn eines Knechts wurde Waise, als der Vater seinen Herrn in Russland aus sowjetischem Feuer trug, der Herr hatte für seinen Lieblingskutscher Kriegsteilnahme verfügt. Knechte besitzen eine klare Sozialperspektive: Aufruhr oder Dienst. Paul Gratzik entschied sich für beides, die Machtverhältnisse in der DDR Walter Ulbrichts (Mietpreisbremse Mauer) erlaubten das.

Fürs Hans-Otto-Theater Potsdam wurde der gelernte Tischler 1971 als Erzieher eines Jugendwerkhofes entdeckt, dessen Bühnendialoge das Menschenbild der fast Gescheiterten am humanistischen Anspruch der Gesellschaft maßen. Volksbühne und Berliner Ensemble förderten seine außerordentliche Begabung zum harten Dialog, Gratzik personifizierte den »Bitterfelder Weg«. Die Macht hatte verfügt, Künstler hätten sich im Sozialismus gefälligst mit sozialistischer Produktion zu beschäftigen, ansonsten müssten Arbeiter die Kunst übernehmen. Das gelang nur bei Gratzik; der betont derb saufende ehemalige Bergarbeiter trank Kantinen leer und schrieb Dramen. Es existiert nur ein schmaler Band einmaliger Elogen auf hart arbeitende alte Frauen, deren Fleiß die Welt zusammenhält, und schuftende Männer, die das Staatsgefüge infrage stellen.

Gratzik war produktiv, solange er mit seinen Händen arbeitete. Als er das Dresdener Transformatorenwerk verließ, um »freier Schriftsteller« zu sein, fand er sich auf einem Markt wieder, den er nicht verstand.

Er schrieb »Kohlenkutte«, einen Roman, dessen Anti-DDR-Passagen bis heute als schlechte Montage stören, und verkaufte ihn nach Westberlin. An seinen Vorgänger »Handbetrieb«, den letzten großen Roman aus der Produktionsrealität, reichte das Eigenplagiat nicht heran. Er restaurierte einen Bauernhof in der Uckermark und existierte bezahlt von Freaks und Frauen. In der BRD kam er nur in den Lexika über Stasi-Mitarbeiter vor. Ein tatsächlicher Outlaw, lebte er von Pump und Rum, dramatisierte für ein Off-Theater den »Schwejk« und den »Simplizissimus«, man findet keine besseren Dramatisierungen der Romane. Das Regietheater kann mit aufrecht stehenden Dialogen nichts anfangen. Frank Castorf lehnte »Hans Wurst in Mogadischu«, ein Bundeswehrdrama, ab.

Die Bühnenbildnerin Annekatrin Hendel drehte einen Film über Gratzik, 2011 durfte er zum Applaus auf die Bühne der Berlinale. Der Film »Vaterlandsverräter« ist ein Reklamefilm zur Arbeit der Gauck-Birthler-Jahn-Behörde, Literatur stört in Biopics. Der kurze Ruhm ließ Gratzik seinen Roman »Friedas Ort« doppelt verkaufen. 3000 Bücher lagern beim Eulenspiegel-Verlag und dürfen nicht vertrieben werden.

Gratzik wird als Dramatiker lange überleben; zum Aufbau eines neuen Staates finden sich bei ihm alle Komplikationen.

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