Vater in der Krise

Sigmund Freud lässt grüßen: Juli Zeh hat einen Roman über emanzipierte Eltern geschrieben

Eine Radtour am Neujahrsmorgen wird zu einer Fahrt zu sich selbst. Henning und Theresa verbringen Weihnachten und Silvester mit ihren beiden Kindern, 2 und 4, auf der Ferieninsel Lanzarote. Verbissen kämpft sich Henning den Atalaya-Vulkan hinauf zum Bergdorf Femés. Wie das so ist bei ausdauernden monotonen Bewegungen durch karge Landschaften, wenn nichts den Blick einfängt - dann fangen die Gedanken an zu schweifen. Und so lässt Juli Zeh in »Neujahr« Hennings bisheriges Leben Revue passieren.

Nach ihren letzten beiden Romanen »Unterleuten« und »Leere Herzen«, die sich mit der großen gesellschaftlichen Lage befassten, kreist der neue Roman wieder mehr um private Verhältnisse, Beziehungskisten, wie man so sagt. Allerdings verarbeitet Zeh auch dabei ein aktuelles, politisches Thema: emanzipierte Elternschaft und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.

Henning und Theresa führen eine gleichberechtigte Beziehung. Beide sind berufstätig, die traditionellen Rollen sind bei ihnen sogar vertauscht: Sie bringt mehr Geld nach Hause, dafür macht er mehr mit den Kindern und im Haushalt. Role models, wie man sie in Lifestylemagazinen wie »Vice« oder »Nido« gerne vorstellt, nur ohne die Schwierigkeiten zu betonen. Diesen Job übernimmt jetzt Juli Zeh.

Der Urlaub ist fast zu Ende. Da setzt sich Henning endlich doch noch aufs Rad, das wollte er schon längst getan haben. Aber so, wie es jetzt läuft, ist es auch wieder nicht richtig. Henning findet derzeit wenig, was rundum gut läuft, das hat man bald verstanden. Einerseits liebt er Frau und Kinder über alles, andererseits ist er genervt von ihren ständigen Ansprüchen an ihn. Eigentlich will er seine Ruhe. Aber wenn er sie hat, weiß er auch nichts mit sich anzufangen. Am Neujahrsmorgen hat er sich einmal Zeit für sich genommen. Doch dann sind da: falsche Schuhe, falsches Rad, Wasser vergessen. Der Mann ist wirklich in einem beklagenswerten Zustand.

Henning leidet unter dem Gefühl, seinen Platz zwischen Job und Kindern nicht zu finden. Er zweifelt, ob er dieser Aufgabe gewachsen ist. Vereinbarkeit ist in diesem Buch ein Problem des Mannes. Der »leicht linkslastige Sachbuchverlag«, in dem Henning arbeitet (seit wann ist dieser rechte Kampfbegriff eigentlich allgemein salonfähig?), legt seinem Wunsch nach kürzeren Arbeitszeiten Steine in den Weg, mehr sogar als das stinknormale Steuerbüro seiner Frau.

Vor allem aber steckt er mental in der Krise. Weil Henning sein Bestes gibt, die Kinder aber trotzdem zuerst zu Mama rennen, wenn etwas ist, weil man in dieser gleichberechtigten Beziehung ein »Schuldenkonto« anhäufen kann, wenn man dreimal in einer Woche nur etwas für sich tut und zum Beispiel Fahrrad fährt. Theresas Lieblingswort ist »machen«. Hennings »funktionieren«. Das Problem ist, dass Henning selbst nicht »funktioniert« - als Vater, Mann, Mensch.

Leute, denen es schon revolutionär erscheint, wenn Väter zwei Monate Elternzeit nehmen, werden diese Konflikte wie eine fremde Welt erleben. Wer jedoch eine gleichberechtigte Arbeitsteilung wenigstens anstrebt und vielleicht selbst gerade kleine Kinder hat, wird kaum überrascht sein, was Juli Zeh in dieser Geschichte beschreibt. Wie man den Urlaub an den Bedürfnissen der Kinder entlang plant: Spielplatz, Strand, Kamelreiten, Eis. Welche Reibereien aus Übermüdung und Dauerbeanspruchung durch den Nachwuchs entstehen. Wie die Großeltern die Frage aufwerfen, ob dieser ganze Aufwand, der bei der Kinderbetreuung heute getrieben wird, eigentlich notwendig sei. In diesem Familienalltag werden sich viele wiedererkennen und sich irgendwann aber anfangen zu fragen, ob sie das wirklich auch noch lesen wollen (naja, immerhin fühlt man sich verstanden).

Doch da kippt die alltägliche Geschichte in einen Albtraum: mit Spinnen, schwarzen Löchern und Monstern, die in der Tiefe lauern. Denn ab der zweiten Hälfte des Buches wird aus dieser allgemeinen Geschichte von Gleichberechtigung und Vaterschaft eine ganz spezielle, nämlich die eines Mannes, der ein verdrängtes Kindheitstrauma hat. Eben noch hing Henning auf dem Rad seinen Erinnerungen nach, da vermischen sich beide Zeitebenen, als er in der Gegenwart einen Ort aus seiner Vergangenheit wiederfindet.

Man hatte es die ganze Zeit schon geahnt, dass da noch etwas kommen müsste, dass Juli Zeh nicht einfach nur bei ihrem letzten Urlaub eine Kamera mitlaufen lassen hat (auch die Autorin mag Lanzarote und hat zwei kleine Kinder). Es gibt eine Reihe von Andeutungen, die aber nicht den unentrinnbaren Sog eines Thrillers entfalten. Vor allem hat Henning diese Panikattacken, er nennt sie groß und undefinierbar »ES« - Freud lässt grüßen. Inzwischen überfallen sie ihn nicht nur nachts, sondern auch tagsüber. Er versucht, sich nichts anmerken zu lassen, seit ein Arzt keine organische Ursache finden konnte und Theresa geschrien hat, er solle nicht die gesamte Familie mit seinen Neurosen belasten.

Was »ES« ist, dieser Konfrontation mit dem Trauma, widmet die Autorin die gesamte zweite Hälfte ihres Romans. In einem weißen Haus etwas oberhalb des Dorfes Femés löst sich alles auf. Dort erinnert sich Henning plötzlich an ein schreckliches Erlebnis.

Der Roman zerfällt damit in zwei fast gleich lange Teile. Es ist zumindest fragwürdig, ob man dem zweiten Teil noch folgen möchte, wenn man sich in den anfangs geschilderten Rollenkonflikt einfühlen konnte. Nun wird das gesellschaftliche Problem wieder individualisiert. Der erwachsene Henning erscheint nun nicht mehr so von den Zumutungen neuer Rollenerwartungen belastet, sondern gefangen in frühen Mustern, die Ängste vor Versagen und Verlust bestimmen. Es mag spannend sein, zu klären, was starken Einfluss auf unsere Identität hat, aber vielleicht hätte dafür das traumatische Erlebnis nicht in seiner ganzen Unerträglichkeit ausgebreitet werden müssen: auf über 60 Seiten. Die Lösung für Hennings Problem gerät schließlich so simpel, dass man sich fragt, ob Juli Zeh damit absichtlich die Irritation provozieren will: Kann das wirklich die Antwort auf all seine Probleme sein? Neues Jahr, neues Leben - das ist bei Henning eine runde Geschichte. Aber so richtig funktioniert sie nicht.

Juli Zeh: Neujahr. Luchterhand, 192 S., geb., 20 Euro

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