Ideen von gestern

Der Klimaforscher Schellnhuber rät zur Abkehr vom Flächenfraß

Die Aussichten sind düster, sehr düster sogar. Mitten im Dürresommer dieses Jahres erlangte eine Veröffentlichung des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung weltweite Aufmerksamkeit. Forscher sprachen von einer neuen Heißzeit, wenn der Ausstoß von Treibhausgasen nicht radikal gesenkt werde. Hans Joachim Schellnhuber wirkte an der Arbeit mit, und er zweifelt ernsthaft daran, dass die Erderwärmung auf einen Anstieg von unter zwei Grad gedrosselt werden kann, wie es die Pariser Klimakonferenz 2015 beschlossen hatte. Für die Menschheit hätte das fatale Folgen. Angesichts des weltweiten Bevölkerungswachstums würde ein rasches Ansteigen der Erderwärmung zu einem Massensterben führen.

Angesichts der dramatischen Situation fühlt Schellnhuber sich dazu verpflichtet, sein Wissen über komplexe Klimasysteme weiterzugeben. Nicht zuletzt deshalb ist der 68-Jährige Mitglied der Weltklimakommission, sitzt in der Kohlekommission, berät den Papst - und nun auch die Bürgerinitiative in Neu-Eichenberg. Die will verhindern, dass in ihrer Gemeinde im äußersten Nordosten Hessens ein XXL-Logistikgebiet entsteht. Am Freitagabend stattete er der Initiative einen Besuch ab. Rund 150 Leute saßen dicht gedrängt im Dorfgemeinschaftshaus.

Die Initiative »Für ein lebenswertes Neu-Eichenberg« will mit einer Veranstaltungsreihe Alternativen zu einer rücksichtslosen Bebauung auf den Domänenflächen aufzeigen. »Wir wollen dem Wunsch der Gemeinde nach Prosperität aufgreifen«, erläuterte Anja Banzhaf, eine Sprecherin der Initiative eingangs. Aber sie wünsche sich eine behutsame Entwicklung, die keinen Raubbau am Ackerland betreibt. 80 Hektar sollen nach derzeitigen Plänen versiegelt werden. Zudem soll sämtlicher Transport über Lastwagen abgewickelt werden. Klimaschädlicher geht es kaum. Dabei liegt das »Sondergebiet Logistik«, wie es offiziell heißt, direkt an der Bahnstrecke von Göttingen nach Kassel. Aber für Zugverkehr gebe es keinen Bedarf, erläuterte die Dietz AG unlängst. Das Unternehmen will das Gelände entwickeln und die Hallen dann vermieten.

Dem Klimaforscher Schellnhuber kommt das Konzept für das Logistikgebiet wie eine Idee aus der Vergangenheit vor. »Vor dreißig Jahren wäre ein solcher Entwurf noch selbstverständlich gewesen.« Da war die Flächenversiegelung enorm. Mittlerweile strebt die Bundesregierung jedoch einen Stopp des Verbrauchs bis zum Jahr 2050 an. »Das Thema gewinnt an Bedeutung, weil Ackerland zur Ernährung einer stetig steigenden Weltbevölkerung gebraucht wird.« In Neu-Eichenberg gibt es gute Böden. Sie gehören zu den besten weit und breit, sollen nun aber dem Streben nach Wirtschaftswachstum geopfert werden.

Wie sich die Logistikbranche entwickeln wird, sei indes nur schwer vorherzusagen, meinte Schellnhuber. Derzeit deute nichts darauf hin, dass der »Hyperkonsum« im Online-Handel sich abschwäche. Möglicherweise werde aber durch die Digitalisierung der Versand effizienter, sodass weniger Transport benötigt werde - und damit weniger große Lager und weniger Arbeitskräfte, gab er zu bedenken. Zudem rechnet er damit, dass die Branche stark von den Märkten abhängig bleiben werde. Unweigerlich hänge eine Kommune wie Neu-Eichenberg damit am Tropf der Konjunktur. Das alles seien Überlegungen, die in die Entscheidung über ein solches Vorhaben einfließen müssen, gab der Klimaforscher zu bedenken.

Mittlerweile ist die Entwicklung des Sondergebiets fortgeschritten. Der hessische Landtag machte im September den Weg für den Verkauf der Domänenflächen frei. Als nächstes soll der Bebauungsplan für das Sondergebiet geändert werden, über den die Gemeindeversammlung entscheiden muss. Dort haben SPD und CDU als Befürworter des Projekts eine Mehrheit. Bislang zumindest. Aber auch in deren Reihen wachsen die Bedenken, ob das Vorhaben nicht doch zu groß für eine kleine Gemeinde ist. Bei diesen Zweiflern versucht die Bürgerinitiative nun anzusetzen und Überzeugungsarbeit zu leisten.

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