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Rente und noch viel mehr
Man glaubt, die Bilder zu kennen - und doch unterscheidet sich die aktuelle Bewegung in Frankreich von früheren.
Auch nach über vierzig Tagen Streik, insbesondere in den Transportbetrieben und im Schulwesen, bleibt die Protestmobilisierung in Frankreich auf einem hohen Niveau. Zehntausende demonstrierten am Donnerstag in Paris, Hunderttausende in ganz Frankreich gegen die Regierungspläne zum Umbau des Rentensystems. Frankreichs Leitmedien versuchen zwar beharrlich den Eindruck zu erwecken, die Mobilisierung gehe unablässig zurück. Der einflussreiche Privatfernsehsender BFM TV warf am Abend gar die Suggestivfrage auf: »Wer sind die letzten Streikenden?« Auch das Innenministerium gibt sich alle Mühe, die Demonstrationen kleinzureden und verwies in seiner Veröffentlichung der Teilnehmer*innenzahlen süffisant auf die Demonstrationen der Vorwoche, die größer gewesen waren. Dies sollte wohl belegen, dass die Ankündigung des Premierministers, auf einen Teil der Rentenreform zu verzichten, den Konflikt befriedet habe. Davon kann jedoch keine Rede sein. Vielmehr waren an diesem Donnerstag deutlich mehr Menschen auf der Straße als am vergangenen Samstag und zu Wochenbeginn.
Die Proteste sind immer noch riesig. Zufriedenheit sieht anders aus.
Es ist nicht das erste Mal, dass Frankreich eine solche Protestwelle erlebt. Doch die aktuellen Streiks unterscheiden sich von früheren Bewegungen deutlich. Nicht nur hinsichtlich ihrer historischen Länge. Neuartig an dieser Protestbewegung ist, dass die Gewerkschaftsapparate die Protestbewegung zwar in wichtiger Weise unterstützen, jedoch weniger strukturieren als in der Vergangenheit. Vielmehr werden sie selbst durch ihre Basis überrannt. Die Apparate sind wichtig für die Mobilisierung, bestimmen aber nicht den Ablauf der Demonstrationen. Ausdruck dieses neuen Verhältnisses ist die Tatsache, dass Gewerkschaftsvorstände nicht länger den Spitzenblock anführen, sondern eher im letzten Drittel mitdemonstrieren - weite Teile ihrer Basis laufen vorne weg.
Eine weitere Neuerung dieser Streikbewegung sind Solidaritätskassen, die Streikende unabhängig von jeglicher Gewerkschaftszugehörigkeit finanziell unter die Arme greifen. Dafür werden in der Bevölkerung Spenden gesammelt - auf der Straße, bei Solipartys und im Internet. Auch postalisch treffen Schecks ein. Gewerkschaftliches Streikgeld wie in Deutschland gibt es in Frankreich nicht. In der Vergangenheit nahmen Beschäftigte Lohnausfälle mehr oder weniger stolz als ihren Beitrag zum Kampf hin oder sie traten nach dem Ende des inhaltlichen Streiks in einen weiteren Streik, dessen Forderung die Zahlung der Arbeitsausfalltage beinhaltete. Beides ist heute wesentlich schwieriger als in den 1970er oder noch in den 1990er Jahren. Denn die Prekarität hat zu- und der gewerkschaftliche Organisationsgrad abgenommen. Zu Wochenanfang schütteten die Streikkassen 2,5 Millionen Euro an Streikteilnehmer*innen aus.
Neu ist aber auch das Bündel an Themen, das Menschen ganz verschiedener Berufsgruppen gleichzeitig in den Ausstand treibt. Sie protestieren nicht nur gegen die Rentenpläne der Regierung Macron, sondern tragen zugleich berufsspezifische Anliegen auf die Straße. So befürchten die Eisenbahner eine Privatisierung der Eisenbahngesellschaft SNCF. Zum 1. Januar wurde das bisherige »Eisenbahnerstatut« für alle Neuzugänge abgeschafft und durch rein privatrechtliche Arbeitsverträge ersetzt. Seit 2018 ist die französische Staatsbahn eine Aktiengesellschaft. Bisher ist der Staat ihr einziger Aktionär, und der Regierung zufolge sollte das auch so bleiben. Eine Personalie erweckt nun allerdings den Eindruck, dass die Weichen doch anders gestellt werden könnten. So wurde Ende 2019 ein neuer Direktor für die Sparte Personentransport bestellt, der vormals bei der privatkapitalistischen Beraterfirma PricewaterhouseCoopers tätig war.
Auch die Beschäftigten im öffentlichen Dienst verteidigen derzeit mehr als ihre Rente. Ein im vergangenen August beschlossenes Gesetz, dessen Umsetzung zum Jahresanfang begonnen hat, dürfte vor allem das staatliche Bildungswesen umkrempeln. Besonders zwei neue Regelungen haben es in sich. Erstens sollen Leitungsfunktionen zukünftig auch mit Neuzugängen aus der Privatwirtschaft besetzt werden können - im Namen der »Diversifizierung« von Laufbahnen und Erfahrungen. Zudem wird es im öffentlichen Dienst künftig möglich sein, Arbeitsverträge aufzuheben. Bislang sind Beamte unkündbar. Konflikte führen allenfalls zu einer Versetzung innerhalb des öffentlichen Diensts.
Bei der »rupture conventionnelle«, wie die Aufhebungsvereinbarung heißt, handelt es sich um eine zweischneidige Sache. In der Privatwirtschaft gibt es diese Möglichkeit seit 2008. Sie basiert auf einer Einigung zwischen Beschäftigten und Unternehmen, die den Arbeitsvertrag beendet und eventuelle Abfindungsansprüche regelt. Der Gerichtsweg ist ausgeschlossen, jedenfalls nach Ablauf einer »Nachdenkfrist« für die Lohnabhängigen. Dieses Prozedere erspart dem Arbeitgeber das mit einer Kündigung verbundene Prozessrisiko. Auch für Arbeitnehmer kann diese Option attraktiv sein, etwa wenn sie dadurch eine Eigenkündigung umgehen können oder ohne jahrelange Gerichtsverfahren eine Abfindung erhalten.
Auf der anderen Seite ist der Aufhebungsvertrag zu einem Drohinstrument von Arbeitgebern geworden: Bist Du willig, dann treffen wir eine Einigung, gehst Du nicht freiwillig, dann bleibt mir immer noch die Kündigung. Sie bekommen nun ein Initiativrecht, können also ihrerseits eine Aufhebung des Arbeitsvertrags vorschlagen. Formal kann ein Arbeitnehmer natürlich Nein sagen, aber die Macht ist ungleich verteilt. In Konfliktfällen dürfte allein der Vorschlag Druck zur Einwilligung entfalten.
Neben Eisenbahnern und Lehrern lehnen sich Ärzte gegen die Regierung auf. In Frankreichs öffentlichen Krankenhäusern kracht es aufgrund mangelnder Mittel- und Personalausstattung an allen Ecken. Ausgehend von den besonders belasteten Notaufnahmen finden seit Monaten in regelmäßigen Abständen Protesttage statt. Erst in dieser Woche demonstrierten Abertausende von Krankenhausbeschäftigten in Paris gegen die katastrophalen Zustände. Viele von ihnen unterstützen die Proteste gegen die Rentenreform.
In einer aufsehenerregenden kollektiven Aktion traten am Mittwoch 1000 Ärztinnen, Ärzte und Führungskräfte in öffentlichen Krankenhäusern von ihren administrativen und vor allem finanziellen Funktionen zurück. Ihren medizinischen Auftrag wollen sie weiter erfüllen.
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