Den Hammer einpacken

Neue Idole, »Empowerment« und Rachelust - über die Missverständnisse von Aufgaben und Möglichkeiten politischer Kunst

Während der Vorstellungspause bei der Premiere der neuinszenierten »Dreigroschenoper« am Berliner Ensemble höre ich, wie eine Person die darstellerische und musikalische Leistung an dem Abend lobt, bevor sie zum großen »Aber« ansetzt: Das sei alles nicht mehr zeitgemäß, ein reaktionäres Frauenbild, wer solle sich damit heute identifizieren. Schnitt.

Bei einer Podiumsdiskussion zum Thema Theater und Klima schlägt eine Aktivistin vor, statt vordergründig auf der Bühne gesellschaftspolitische Fragen zu klären, solle man eher - wie nebenbei - Figuren mit vorbildhaften Positionen versehen, »Role Models« schaffen, beispielsweise, wie sie erklärte, einen »coolen Typen«, der sich bei »Fridays for Future« engagiert. Schnitt.

In ihrer Besprechung des feministischen Films »Promising Young Woman« in dieser Zeitung kritisierte die Autorin Sibel Schick den fehlenden »Empowerment«-Aspekt. Das Werk, das um die brutalste Ausprägung patriarchaler Herrschaft, nämlich den Vergewaltigungsakt, kreist, zeigt keinen Ausweg aus Gewalt und Misogynie. »Ermächtigend oder ermutigend ist eine solche Geschichte (…) nicht. Der Film hätte darum einen Schritt weiter gehen müssen und Cassies Sieg zeigen sollen«, schreibt Schick. Und weiter: »In was für einer Gesellschaft wollen wir leben? Wie sollte ein künftiger Status quo aussehen, damit alle sein können? Feministische Kunst muss auch diese Fragen beantworten können. Wir wissen, wie das Patriarchat funktioniert, wir wissen, wie machtlos wir ihm ausgeliefert sind. Das kann man immer und immer wieder sagen, das allein wird daran aber nichts ändern.«

Dreimal Protest - selbstredend auf sehr unterschiedlichen Ebenen der Reflexion - gegen vermeintlich überkommene Kunstvorstellungen. Dieser Protest geht weit über ein konkretes politisches Anliegen hinaus und stellt alte grundlegende Fragen neu: Wie wirkmächtig ist Kunst? Welche Aufgaben kommen ihr zu? Was macht Kunst politisch? Und wie kann sie gelingen?

Das Beispiel »Dreigroschenoper« macht deutlich, dass es »die Kunst« nicht gibt. Der Name Brecht ist unweigerlich mit dem Konzept verbunden, Figuren eben nicht als Identifikationsangebot für ein Publikum auf die Bühne zu stellen. Sie sind Typen, keine lebendigen Abbilder realer Menschen. Die Kritik an dem Brecht’schen Frauenbild verfehlt daher auch ihr Ziel: Die Männer sind genauso typenhaft wie die Frauen - und beileibe nicht gerade vorteilhaft angelegt. Nicht die Einzelfigur ist von Interesse in diesem Stück Weltliteratur, sondern ihre Handlungsweisen in einem gesellschaftlichen Gefüge, das wir Kapitalismus nennen.

Brecht tat alles dafür, damit es gerade nicht zur »Einfühlung« - für ihn ein kleinbürgerliches Relikt - und damit zu rein affektiven Reaktionen wie Rührung oder Entsetzen kommt, sondern dass durch Kunst ein kühles Betrachten und damit Erkenntnisgewinn möglich werden.

Natürlich gibt es auch literarische Techniken, mit denen Figuren geschaffen werden, wie sie uns auf der Straße begegnet sein könnten, wodurch Identifikation also eher möglich sein sollte. Man denke an die Vertreter des bürgerlichen Realismus. Aber diese Figuren sind - im besten Fall! - gerade nicht vorbildhaft, sondern vor allem herausragend in ihrer Plastizität: facettenreich, widersprüchlich, manchmal unberechenbar. Literatur als Feier des Uneindeutigen also.

Die Zeit der positiven Helden ist bekanntlich vorbei - und die Ersetzung der Helden vergangener Tage durch solche, die eher unserem heutigen Idealbild einer aufgeklärten, diversen Gesellschaft entsprechen, wäre nur ein scheinbarer Fortschritt.

Die Vorstellung, dass in Kunstwerken Vorbilder untergebracht sein sollten, scheint dem Bereich der Pädagogik entwachsen zu sein. Und sie ist - kurz gesagt - reichlich naiv. Was für Kinderfilme und -bücher noch plausibel klingt (wenn auch hier Zweifel erlaubt sind), kann aber nicht zum allgemeinen Gesetz der Kunstproduktion werden. Ambivalente Charaktere - von Ophelia bis Orlando - haben sich zu Recht in unseren Kanon eingeschrieben. Wer mag schon daran glauben, dass die Rezipienten die guten Eigenschaften der Helden ihrer Filme und Romane einfach so adaptieren? Wer dazu noch Protagonisten ersehnt, die dieselben Merkmale wie er oder sie selbst aufweist, erliegt einem bitteren Trugschluss. Kunst gewährt immer nur die Selbsterkenntnis, vermittelt durch den Blick auf den Fremden; wem das zu krude ist, der greife besser zum Spiegel.

Zu welchem Ende führt eine Kunst, die dem Ruf nach Figuren, die vorrangig der Identifikation durch den Rezipienten dienen und die im Sinne einer Ermächtigung handeln, nachkommt? Im schlimmsten Fall ist die Abwesenheit von Kunst die Folge. Wo keinerlei Konflikte mehr gezeigt und Ideale verklärt werden, hält der Kitsch Einzug. Wo Konflikte immer lösbar im Sinne eines Besseren zur Darstellung kommen und das Happy End zum Dogma wird, ist die Kunst das Opfer eines äußerst simplen Schematismus.

Die schlimmsten Auswüchse des »sozialistischen Realismus« bestanden in seiner schablonenhaften Ausführung streng nach Maß. Die Kunst war damit nur noch die scheinschöpferische Entsprechung verwalterischer Vorgaben: Der positive Held mit der richtigen Klassenzugehörigkeit gerät in einen Konflikt, den er im Sinne des allgemeinen Fortschritts zu lösen imstande ist. Solche Banalitäten werden auch dadurch nicht ansehnlicher, indem man ihre politischen Vorzeichen einer Aktualisierung unterzieht. Man kann sich allerdings des Eindrucks nicht erwehren, dass ein »sozialistischer Realismus« ohne Sozialismus und mit zweifelhaften Vorstellungen von realistischer Kunst das Ziel von verschiedenen Kulturjournalisten, Aktivisten und auch einigen Künstlern ist.

Ein anderer Versuch, der Forderung nach »empowernder« Kunst gerecht zu werden, könnte man als das Tarantino-Prinzip bezeichnen: Der US-amerikanische Filmemacher Quentin Tarantino lässt, handwerklich sehr gekonnt, in seinen Werken unter anderem eine von einem besitzergreifenden Mann misshandelte Frau (»Kill Bill« 1 & 2), eine von Nazis bedrohte französische Jüdin (»Inglourious Basterds«) oder einen rechtlos dem Amerika der Sklaverei ausgesetzten Schwarzen (»Django Unchained«) ihre Peiniger mit allerhand Blutvergießen und durchaus genüsslich zur Strecke bringen. Ist das »Empowerment«? Wahrscheinlich ja. Das alte Hollywood-Lieblingsmotiv Rache wird aber auch dadurch nicht plötzlich erhebend und zu einem ehrenwerten Gefühl, weil es »die Richtigen« trifft.

Bei Quentin Tarantino weiß man zu jeder Zeit, wer der Gute und wer der Böse ist. Diese einfache Machart von Filmen nutzt sich allerdings ab und führt letztlich zur Ermüdung des Publikums. Tarantino gibt genehme Antworten, und er lässt dabei keine Fragen offen. Fragen aufzuwerfen, bereits erkannte oder einem zuvor noch verschlossene Problemlagen sinnlich erfahrbar zu machen, dürfte allerdings die vornehmliche Aufgabe von kritischer Kunst sein.

»Eingestandenermaßen ist die Kunst eine Waffe. Eingestandenermaßen ist ein Holzhammer eine Waffe. Nach Aristoteles folgt hieraus nicht, dass die Kunst ein Holzhammer sein müsse. Es folgt eher, dass die Kunst eine umso bessere Waffe sei, je bessere Kunst sie ist«, brachte es der Schriftsteller Peter Hacks auf den Punkt. Zugegeben, das ist nicht immer leicht zu akzeptieren. Natürlich wünscht man sich mitunter Kunst, die sich so einfach handhaben ließe wie ein Hammer, mit ebensolchen klar ersichtlichen Folgen. Außer Frage steht ebenfalls, dass der überwiegende Teil der Kunstproduktion ohne bleibenden Wert ist - ein etwas desillusionierender Umstand, der aber keineswegs neu ist.

Wenn Sibel Schick schreibt, dass es zu wenig sei, das Patriarchat immer wieder aufs Neue zu konstatieren und die Notwendigkeit von tatsächlichen Veränderungen betont, hat sie so sehr recht, wie sie sich irrt. Zweifellos passiert viel zu wenig, und die großen Schritte lassen viel zu lange auf sich warten. Aber es ist nicht die Kunst, die hier in der Verantwortung steht. Kunst ist bestenfalls ein Medium der Reflexion, ein Vehikel zur Weltverbesserung ist sie nicht. Wenn ein Film patriarchale Mechanismen zeigt und auch ihre Funktionsweisen sichtbar macht, ist das vielleicht nicht wenig, sondern viel.

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