Konfliktforscherin: »Man darf nichts unversucht lassen«

Die Konfliktforscherin Martina Fischer spricht über die Möglichkeiten, den Ukraine-Krieg über Verhandlungen zu stoppen

  • Cyrus Salimi-Asl
  • Lesedauer: 12 Min.

Sie sind langjährige Expertin für Friedens- und Konfliktforschung, arbeiten seit 2016 bei Brot für die Welt. Was für Hilfsprojekte führt Brot für die Welt in der Ukraine durch?

Wir haben eine Reihe von Partnern, die schon seit 2014 in der Ostukraine mit kriegstraumatisierten Menschen gearbeitet haben, also mit Kriegsversehrten oder auch Binnenflüchtlingen. Aber von denen kann im Moment niemand mehr seiner gewohnten Arbeit nachgehen. Die meisten sind geflüchtet, in den Westen des Landes, wo sich jetzt auch wieder bedroht sind, oder in die Nachbarländer oder nach Deutschland. Manche sind an Orte gegangen, wo sie selber auch humanitäre Hilfe leisten. Wir versuchen zusammen mit unserer Schwesterorganisation, der Diakonie Katastrophenhilfe, diese Leute zu unterstützen und irgendwie die humanitäre Versorgung zu verbessern und sicherzustellen. Aber vor allen Dingen setzen wir uns dafür ein, dass Geflüchtete aus der Ukraine in Europa und in Deutschland unbürokratisch aufgenommen werden. Das ist ja ein Stück weit von der EU zugesagt worden mit der Zusage eines vorübergehenden Schutzes von bis zu drei Jahren.

Das begrüßen wir sehr, aber wir wünschen uns, dass dieser Schutzstatus auch Menschen aus Drittstaaten zugesichert wird, zum Beispiel den vielen Studierenden aus afrikanischen Ländern. Deutschland hat angekündigt, diese Menschen genauso zu behandeln wie jene mit ukrainischem Pass, aber ich bin nicht sicher, ob das in allen EU-Ländern so gehandhabt wird, zum Beispiel in Polen und Ungarn. Wichtig ist uns auch, dass die Türen offen bleiben für Menschen aus der ganzen Region, die sich nicht aktiv an dem Krieg beteiligen wollen.

Interview
Martina Fischer ist Politikwissenschaftlerin und arbeitet seit 2016 als Referentin für Frieden und Konfliktbearbeitung bei Brot für die Welt. Davor war sie drei Jahrzehnte in der Friedens- und Konfliktforschung tätig, davon fast 20 Jahre bei der Berghof-Foundation in Berlin. Sie hat zu den Themen Konflikttransformation und Friedensförderung in Nachkriegsregionen geforscht und publiziert. Über die Chancen für eine Verhandlungslösung im Ukraine-Krieg sprach mit ihr Cyrus Salimi-Asl.

Es gab schon mehrere Verhandlungsrunden zwischen Russland und der Ukraine, um den Krieg zu beenden oder zumindest einen Waffenstillstand zu erreichen - mit dürftigen Ergebnissen. Glauben Sie aus Ihrer Erfahrung mit Konfliktlösung, dass eine Einigung dennoch möglich ist?

Zunächst denke ich, dass wirklich alles unternommen werden muss und man nichts unversucht lassen darf, um auf einen Waffenstillstand oder auf Feuerpausen hinzuwirken. Einfach, um Zivilistinnen und Zivilisten rauszuholen, vor weiteren Bombardierungen in Sicherheit zu bringen und humanitär zu versorgen.

Inwieweit die Gespräche von russischer Seite tatsächlich ernst gemeint sind, das ist unglaublich schwer zu beurteilen. Das kann alles taktischer Natur sein im Sinne einer Atempause, um Kräfte neu zu bündeln und Fakten zu schaffen. An ernsthaften Verhandlungen wäre die russische Regierung am ehesten dann interessiert, wenn sie selber den Preis inzwischen als zu hoch einschätzt, also die Opfer in den eigenen Reihen; wenn sich der Krieg militärisch doch als schwieriger darstellt, dann gibt es da vielleicht eine Chance. Ich fand es gar nicht schlecht, dass man auch Länder wie Indien und China mit in Betracht zieht, die sich neutral verhalten haben, die könnten ja eventuell Einfluss haben.

Und wie geht es danach weiter?

Das ist jetzt erst mal der Versuch, einen Waffenstillstand zu erreichen. Um dann einen längerfristigen Friedensvertrag anzuvisieren, braucht es natürlich noch sehr viel mehr, meines Erachtens auch ein Team von Mediator*innen, das dann gemeinsam mit dem UN-Generalsekretär oder einem Sonderbeauftragten vermittelt - nicht nur mit Russland und der Ukraine, sondern auch mit der Nato, die ja auch konfliktbeteiligt ist -, um nach tragfähigen Lösungen zu suchen. Die Mediator*innen - ob Politiker*innen oder Diplomat*innen - sollten aus Ländern kommen, die nicht aktiv am Konflikt beteiligt sind, und müssen Vermittler sein, die wirklich von allen anerkannt werden.

Es sind ja bereits mehrere Vermittler im Spiel: Israels Ministerpräsident Naftali Bennett, die Türkei. Wie schätzen Sie deren Chancen ein?

Das ist schwer für mich zu beurteilen. Aber wenn Sie mich fragen, wer mir sonst noch einfällt, könnte ich mir gut vorstellen, dass man auch mal Frauen ins Spiel bringt. Wir haben erfahrene Diplomatinnen auch im internationalen Kontext, und eine Figur, die ich in dem Zusammenhang erwähnen möchte, wäre Mary Robinson: Sie war viele Jahre Staatspräsidentin in Irland und Hochkommissarin für Menschenrechte bei den Vereinten Nationen, bringt also wirklich sehr viel diplomatische Erfahrung mit, auch beim Einsatz für die Menschenrechte. Eine zweite Figur, die mir einfällt, wäre Helga Schmid, die Generalsekretärin der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Als sie noch für die EU tätig war, hat sie zum Beispiel das Atomabkommen mit dem Iran maßgeblich mitverhandelt.

Das sind Menschen, von denen ich mir noch eine andere Perspektive erhoffen würde. Ob die für Herrn Putin und Herrn Selenskyj akzeptabel wären, weiß ich nicht. (lacht) Aber bislang wurden immer nur Männer ins Spiel gebracht, und ich glaube, wir haben auch fähige Frauen, die was zu bieten haben.

Welche Möglichkeiten der Konfliktlösung haben solche Vermittler?

Man kann nicht davon ausgehen, dass ein einzelner Akteur auf den Plan tritt, zwischen den Konfliktparteien vermittelt, dann legt man den Schalter um und es ist Frieden. Bei so einer eskalierten und auch gefährlichen Situation ist das Wichtigste, dass man erst mal schaut, was man alles tun kann, um zu verhindern, dass der Konflikt weiter eskaliert. Das andere ist zu schauen, wie man jetzt die Ukraine retten kann. Es ist unheimlich schwer, sich vorzustellen, sich mit dem russischen Präsidenten an einen Tisch zu setzen, erst recht nach seinen Reden, in denen er imperiale Interessen artikuliert hat, die weit über berechtigte Sicherheitsinteressen hinausgehen und der Ukraine praktisch die Existenzberechtigung absprechen. Trotzdem glaube ich, dass Gespräche sehr wichtig sind, auch in einem übergeordneten Rahmen dieses Konfliktes.

Irgendwie wird man auch transatlantisch sprechen müssen. Ich persönlich denke, dass man, um Frieden zu bekommen, wahrscheinlich diese Neutralitätslösung für die Ukraine akzeptieren muss, die ja auch von Selenskyj schon in die Diskussion eingebracht wurde, und dass sich auch die Nato von der Vorstellung verabschieden müsste, dass alle Staaten, die beitreten wollen, auch aufgenommen werden können. Im Sinne der Herstellung von Frieden muss man sich damit wahrscheinlich auseinandersetzen. Deshalb ist es auch so wichtig, dass man nicht nur fragt: Wer vermittelt, wer ist dafür der Richtige? - sondern auch: Was wird da genau verhandelt?

Reagieren denn die Konfliktparteien so, wie sie sollten, um diesen Konflikt nicht noch weiter eskalieren zu lassen? Also auf der einen Seite Russland, auf der anderen die Ukraine, hinter der ja pauschal gesagt der Westen und die Nato stehen - auch wenn die Ukraine nicht zur Nato gehört. Werden die richtigen Signale ausgesendet, die richtigen Schritte unternommen?

Die ukrainische Regierung hat ja schon einen weitreichenden Verhandlungsspielraum geöffnet, indem sie in Aussicht gestellt hat, unter bestimmten Bedingungen auf eine Nato-Mitgliedschaft zu verzichten, Neutralität zu akzeptieren und gleichzeitig im Donbas irgendeinen Sonderstatus auszuhandeln. Da sind sie der russischen Seite weit voraus. Von russischer Seite habe ich da bisher noch keine wirklich substanziellen Angebote oder Signale vernommen. Im Moment muss man vor allen Dingen darauf achten, dass der Krieg nicht auf andere Länder übergreift, auch angesichts dessen, dass der russische Präsident die Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft gesetzt hat. Da sind natürlich auch die Nato-Staaten gefragt.

Inwiefern?

Man muss wirklich alle Informationen gut nachprüfen und besonnen reagieren. Hierzu ein Beispiel, wo das meines Erachtens versäumt wurde: Nach der Schießerei am Atomkraftwerk haben hierzulande viele Mainstream-Medien berichtet, dass der Reaktor mit Raketen beschossen worden sei, was offenbar doch ein bisschen anders war. Später wurde berichtet, es habe eine Schießerei auf dem Gelände des AKWs gegeben und dabei sei eine Halle in Brand geraten, und das ist ja schon gefährlich genug. Aber es hat keinen systematischen Raketenbeschuss gegeben. Und noch bevor klar war, was eigentlich genau dort passiert, sagte der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz, wenn AKWs beschossen würden, müsste man über den Bündnisfall nachdenken. Was ja bedeuten würde, dass die Nato in den Krieg eintritt.

Solche Dinge sind nicht förderlich, die sind gefährlich. Man kann sich vorstellen, dass über ein Zusammenspiel von Medien, von Nichtwissen oder Halbwahrheiten auf einmal so eine Forderung entsteht, und dann befinden wir uns plötzlich in einer neuen Eskalationsstufe. Das finde ich fahrlässig. Daher ist es sehr wichtig, sich immer wieder zu gut vergewissern, worüber man redet. Man muss die Informationen sorgfältig beurteilen und überhaupt erst mal verifizieren. Man muss besonnen bleiben und sich auch in der Sprache und den Vorschlägen mäßigen, in öffentlichen Statements, um nicht weiter zu eskalieren.

Sie mahnen zur Mäßigung. Jetzt sind Deutschland und andere europäische Staaten jedoch praktisch jeden Tag konfrontiert mit Forderungen der Ukraine, mehr Waffen zu liefern. Das zu ignorieren ist schwierig, wenn Menschen durch Bomben und Raketen sterben. Was also tun?

Nun sind ja schon jede Menge Waffen unterwegs, und die Ukraine wurde schon viele Jahre vorher mit Waffen unterstützt. Brot für die Welt ist ein christliches Hilfswerk, und wir haben uns viele Jahre lang immer wieder dafür eingesetzt, dass keine Waffen in Spannungsgebiete geschickt werden, haben uns auch immer wieder für ein Rüstungsexportkontrollgesetz in Deutschland stark gemacht, auch für entsprechende Regelungen auf der europäischen Ebene, um sicherzustellen, dass Waffen nicht in Kriege und Bürgerkriege gelangen, wie beispielsweise im Jemen, oder auch an Diktaturen und in Gebiete, wo klar ist, dass sie dort für Dinge verwendet werden, die wir nicht unterstützen können.

Wir haben auch immer wieder gesagt - und dazu stehen wir auch -, dass Waffen in der Regel Kriege verlängern und eben auch weiterwandern: Man kann sie nicht kontrollieren. Und dass Waffen auch eskalieren können. In der jetzigen Situation ist es so, dass wir auch weiterhin nicht aktiv zu Waffenlieferungen aufrufen als christliches Hilfswerk, aber trotzdem Verständnis haben, wenn Menschen da zu anderen Schlüssen kommen und so etwas fordern. Es ist nun mal wirklich ein Angriffskrieg. Dieses Dilemma sehen wir, aber wir bleiben trotzdem unserem Prinzip treu und rufen nicht aktiv zu Waffenlieferungen auf. Wir sind auch Mitglied eines Bündnisses von Nichtregierungsorganisationen, die im Moment bundesweit eine Reihe von Kundgebungen organisieren. Dieses Bündnis hat sich darauf verständigt, dass man toleriert, dass die ukrainischen Vertreter*innen und Sprecher*innen Waffenlieferungen fordern, aber die deutschen Organisationen halten sich da zurück und sind eben nicht diejenigen, die zu Waffenexporten aufrufen. In einer solchen Zeit muss man solche Spannungen einfach aushalten.

Eine Reaktion der Bundesregierung auf den Krieg und die Forderungen der Ukraine nach Unterstützung ist die Aufrüstung der Bundeswehr mittels eines Sondervermögens und einer Erhöhung des Verteidigungshaushalts. Die Nato will zwar nicht militärisch in den Krieg eingreifen, aber das Signal geht in Richtung einer stärker militarisierten Außenpolitik. Ist das eine adäquate Reaktion?

Das Paket, das Bundeskanzler Olaf Scholz da jetzt geschnürt hat und vom Parlament verabschieden lassen will - also 100 Milliarden Euro Sondervermögen und Anhebung der Verteidigungsausgaben auf sogar mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts -, das scheint mir nicht einleuchtend und auch nicht zielführend. Es ist, ehrlich gesagt, ziemlich aktionistisch und zum anderen auch in seinem Umfang völlig überzogen. Warum aktionistisch? Die immense Investition soll auch in der Verfassung festgeschrieben werden, noch bevor Politik und Gesellschaft überhaupt darüber debattiert haben, welche Aufgaben und Prioritäten die Bundeswehr in Zukunft erfüllen soll. Wir bräuchten eine parlamentarische und gesellschaftliche Debatte, bevor wir uns festlegen auf Jahre und Jahrzehnte.

Was wäre aus Ihrer Sicht zu klären?

Diese Diskussion müsste zum einen klären, was die Bundeswehr schwerpunktmäßig machen soll - also primär Landesverteidigung - und welche Art von Auslandseinsätzen sie zusätzlich eigentlich verkraften kann. Meiner Ansicht nach allenfalls UN-Einsätze, und manches würde man dann eben vielleicht auch nicht mehr machen können. Diese Debatte müsste sich komplett lösen von der Vorstellung, dass im Wesentlichen das Militär Sicherheit herstellt. Wir waren ja schon mal weiter. Vor ein paar Jahren haben sich etliche Mandats- und Entscheidungsträger doch zu der Einsicht durchgerungen, dass deutsche Außen- und Sicherheitspolitik einem erweiterten Sicherheitsbegriff folgen muss, der neben Militär auch entwicklungspolitische Instrumente, diplomatische Ansätze und den Ausbau der deutschen und internationalen Instrumente verlangt. Also die Instrumente, die sich vor allen Dingen auf die Vorbeugung von Krisen und Kriegen konzentrieren und auf die Überwindung von Kriegsursachen richten. Das ist völlig verloren gegangen. Und wir haben ja noch ein paar andere Krisenregionen in der Welt, die können wir ja nicht vollkommen vernachlässigen, und da müssen wir präventiv tätig sein.

Und der zweite Punkt Ihrer Kritik an dem Aufrüstungspaket?

Das andere ist, dass dieses Paket völlig überzogen ist. Der Militärhaushalt wurde schließlich in den vergangenen Jahren schon regelmäßig kräftig erhöht. Insgesamt hat die Bundeswehr seit 2015 etwa 14 Milliarden Euro mehr bekommen. Wie kann es sein, dass ein Heeresinspekteur am 24. Februar sagt, die Bundeswehr stehe blank da? Da frage ich mich einfach: Was ist denn mit dem Geld passiert und wieso ist es nicht gelungen, die Ausstattung damit substanziell zu verbessern? Irgendwas stimmt da doch nicht. Ich kann nur hoffen, dass die Abgeordneten und Haushälter*innen noch einlenken und die Richtung verändern. Diese massive Investition in Rüstung wird nun auf Kosten der zivilen Ansätze, auch der Entwicklungszusammenarbeit und humanitären Hilfe gehen, die wurden in dem nun vom Kabinett verabschiedeten Budgetentwurf schon gekürzt. Das finde ich nicht hinnehmbar. Die Debatte um Sicherheit darf sich nicht auf die militärische Dimension verkürzen, sondern sollte sich an einem breiteren Begriff, der »menschlichen Sicherheit« orientieren.

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