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Tumulte vor dem Kassensturz

Die Sparpläne aus dem Gesundheitsministerium ernten Widerspruch von allen Seiten

Debatten um die angemessene Verteilung der Kosten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und die von ihr finanzierten Leistungen gibt es seit Jahrzehnten. Ende Juni wurde nun der Referentenentwurf des neuen GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes bekannt. Das Papier löste heftige Reaktionen aus: »Betrug an der Fachärzteschaft«, »Stückwerk«, »unausgewogen«, »unzumutbare Beitragserhöhungen« – so und ähnlich schallt es aus allen Ecken der Gesundheits-Lobbyisten-Landschaft wie aus der parlamentarischen Opposition.

Eine gewisse Einigkeit bei den Äußerungen besteht darin, dass nicht nur die Covid-19-Pandemie, sondern auch Gesetzesänderungen und dadurch mögliche neue Kassenleistungen aus der Ära des früheren Gesundheitsministers Jens Spahn (CDU) zu einem Kostenanstieg geführt haben. Der Druck wird jetzt verschärft durch die absehbare Wirtschaftskrise und hohe Ausgaben zur Bewältigung der Folgen des Ukraine-Krieges. Das belegt aktuell auch eine Analyse des Iges-Instituts im Auftrag der Krankenkasse DAK. Demnach liegt die Finanzlücke der GKV 2023 bei mindestens 19 Milliarden Euro (und nicht bei 17 Milliarden Euro, von denen bisher ausgegangen wurde) und würde bis 2025 auf über 30 Milliarden Euro ansteigen. Für den Fall einer Rezession infolge eines Gasnotstands rechnen die Ökonomen bereits im kommenden Jahr mit einem zusätzlichen Finanzbedarf von 24 Milliarden Euro.

Wie will nun der aktuelle Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) die kommenden Belastungen verteilen? Unter anderem sollen die Beitragszahler für das absehbare Milliardendefizit der gesetzlichen Kassen herangezogen werden. Ihre Zusatzbeiträge würden demnach ab 2023 um 0,3 Prozentpunkte steigen. Eine weitere Belastung der Privathaushalte, die schon mit den stark steigenden Energie- und sonstigen Lebenshaltungskosten klar kommen müssen.

Dabei sind diese 0,3 Prozentpunkte noch nicht alles, was auf die gesetzlich Versicherten zukommt. Geplant ist nämlich, die Finanzreserven der Kassen weiter abzubauen und die Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds in Anspruch zu nehmen. Auch diese Bestände wurden aus den Portemonnaies der Beitragszahler gefüllt. Der GKV-Spitzenverband errechnete, dass von dieser Gruppe 11 Milliarden Euro der für 2023 ursprünglich kalkulierten Finanzierungslücke von 17 Milliarden Euro geschultert werden müssten.

Das Papier aus dem Gesundheitsministerium sieht vor, mögliche Leistungen nicht weiter zu finanzieren. So war 2019 im Terminservice- und Versorgungsgesetz niedergelassenen Ärzten eine zusätzliche Einnahmequelle verschafft worden: eine Sondervergütung für die Annahme von neuen Patienten. Dass viele Praxen hier nicht mitmachen, könnte einer der Gründe dafür sein, die Regelung zurückzunehmen. Dieser Streichungsvorschlag umfasst zwar keine konkreten medizinischen Leistungen, das Verfahren sollte jedoch einen Anreiz zur besseren Versorgung bieten. So ist es nicht erstaunlich, dass sich verschiedene Facharztgruppen gegen diese Einschränkung wenden, darunter Orthopäden, Unfallchirurgen, HNO- sowie Zahnärzte, aber auch kassenärztliche Vereinigungen verschiedener Bundesländer.

Krankenhäuser befürchten indessen, dass weiteres Ungemach bei der Finanzierung der Pflege auf sie zukommt. Denn der Prozess der Ausgliederung der Pflegekosten aus den Fallpauschalen ist aus ihrer Sicht noch nicht beendet. Zwar gibt es nun mit den Pflegebudgets ein zweites Finanzierungsinstrument, aber hier laufen noch Verhandlungen mit den Kassen. Minister Lauterbach will hier Doppelfinanzierungen unterbinden, was die Kliniken zurückweisen.

Empörung gab es auch im Bereich Pharmazie: So sollen die Apotheken nach den Lauterbach-Plänen einen höheren Abschlag für jedes verordnete Arzneimittel im Rahmen der GKV bezahlen. Bis jetzt sind es 1,77 Euro, in Zukunft sollen es 2 Euro sein. Damit fielen Vergütungen von 120 bis 140 Millionen Euro aus. Die Hersteller hingegen sehen sich von einer radikalen Kürzung bei patentgeschützten Arzneimitteln bedroht. Einschnitte soll es unter anderem bei den Verdienstmöglichkeiten mit Medikamenten gegen seltene Krankheiten geben. Von der Industrie werde ein »Solidaritätsbeitrag« für die GKV in Höhe von einer Milliarde Euro verlangt, heißt es in einer Stellungnahme. Dieser Eingriff erscheint jedoch fast gemäßigt, wenn man die ständig steigenden GKV-Ausgaben für Arzneimittel betrachtet, die 2020 bei mehr als 43 Milliarden Euro lagen.

Der GKV-Spitzenverband wendet sich prinzipiell gegen jede »kurzatmige Sonderfinanzierung«, denn gerade in der Pandemie wurden nicht nur die Steuerzuschüsse für den Gesundheitsfonds immer wieder erhöht, sondern auch Rücklagen der gesetzlichen Kassen aufgelöst. Den Verband der Ersatzkassen erbost besonders die Idee, den Gesundheitsfonds zu verpflichten, ein Darlehen in Höhe von einer Milliarde Euro aufzunehmen und das dann wieder bis 2026 von Krankenkassen zurückzahlen zu lassen. Eine solche Finanzierung auf Pump wäre ein Systembruch, da den Kassen eine Kreditfinanzierung verboten ist.

Während einige der von Kürzungen betroffenen Gruppen darauf hinweisen, dass sich in ihrem Bereich die Kassenausgaben in den letzten Jahren schon verringert hätten, warnen andere davor, dass mit den Sparmaßnahmen notwendige Reformen, darunter die des Notfallsystems, verschleppt würden. Eine nachhaltigere Finanzierung des Gesundheitswesens durch schrittweise Überführung des dualen Systems von gesetzlichen und privaten Kassen in eine einheitliche solidarische Bürgerversicherung bleibt, zumindest in der aktuellen Diskussion, eine Forderung politischer Minderheiten.

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