Der Staunende

Zum Tod des Theater- und Literaturwissenschaftlers Hans-Thies Lehmann

Hans-Thies Lehmann, 2012
Hans-Thies Lehmann, 2012

Hans-Thies Lehmann erzählte mir einmal, dass er als Schüler, es war zu Beginn der 60er Jahre, in Bremen auf ein Buch aufmerksam geworden war. Es handelte sich um »Der kaukasische Kreidekreis«, der Name des Autors lautete: Brecht. Auf die Rückseite des Buches hatte der Verlag einen Satz aus dem Stück gedruckt: »Daß da gehören soll, / was da ist / denen, / die für es gut sind.« Man hatte sich erlaubt die gebundene Sprache des Weltdramatikers – vielleicht aus grafischen Erwägungen? – in Verse zu brechen. Diese vier Zeilen zogen den jungen Mann in ihren Bann: das doppelte »da«, dieses eigentümliche, irgendwie falsche »es«. So schrieb einer, der wollte, dass man diesen Satz mehr als einmal liest, dass man ihn im Gedächtnis behält. Ein Satz, der auch inhaltlich auf Entscheidendes zielt, auf die Frage nach dem Besitz. Dieser Satz, dieser Brecht gingen Lehmann nicht mehr aus dem Kopf.

1944 in Hessen geboren, wuchs Hans-Thies Lehmann in Bremen auf und studierte bald, in bewegter Zeit, an der Freien Universität Berlin, vorrangig bei der Koryphäe Peter Szondi, nach dem das dort ansässige Institut für Literaturwissenschaft heute benannt ist. Er blieb der Wissenschaft treu, promovierte mit einer Arbeit über Brecht, lehrte in Berlin und Amsterdam, forschte und publizierte gemeinsam mit dem linken Germanisten Helmut Lethen, leistete seinen Beitrag zu einer materialistischen Literaturwissenschaft.

Gemeinsam mit Andrzej Wirth baute er an der Universität in Gießen das Institut für Angewandte Theaterwissenschaft auf, eine weltweit einzigartige Einrichtung. Hier kamen Studenten zusammen, nicht nur um Theater theoretisch zu durchdringen, sondern auch praktisch zu erneuern. Lehmann verbrachte hier fast ein Jahrzehnt und wurde zum Begleiter von vielzähligen Theaterschaffenden, die bis heute den Betrieb prägen.

Es folgte ein Ruf an die Universität in Frankfurt am Main, an der er bis zu seiner Emeritierung 2010 lehrte. Sein Buch »Postdramatisches Theater« (1999) wurde weltweit zu einem der seltenen Bestseller unter den akademischen Veröffentlichungen und hinterließ seine Spuren weit über den engen Rahmen der Theaterwissenschaft hinaus. Lehmann skizzierte wie ein Chronist die Verschiebungen in den darstellenden Künsten seit den 60er Jahren hin zu Spektakeln, die dem Theater die Literatur austreiben. Sein Blick auf die Kunst war der eines ungläubig Staunenden. Das Rätselhafte zog ihn an. In seiner Arbeit versuchte er es auf einen Begriff zu bringen.

Entgegen den Behauptungen der Fürsprecher einer vom Sinn entkoppelten Performance-Kunst blieb Lehmann ein Mann des geschriebenen Wortes, ein Homme des lettres, ein Kenner der Literatur. Wie in einem Ausweichschritt nach seiner Beschäftigung mit dem postdramatischen Theater, dem er diesen Namen verlieh, verfasst er eine monumentale Schrift mit dem Titel »Tragödie und dramatisches Theater«, die dieselbe Aufmerksamkeit wie das zuvor genannte Buch verdient hätte.

Für eine kurze Zeit – er arbeitete gerade an seinem Band »Brecht lesen« – durfte ich als sein Lektor an Lehmanns Gedankenreichtum teilhaben. Interessiert und unendlich neugierig zeigte er sich, sich selbst immer etwas zu viel zumutend, mit hohem Anspruch auch an andere. Die Faszination für die schönen Künste, für einen Autor wie Brecht, von dem er sich schon im Jugendalter angezogen fühlte, hatte er sich Jahrzehnt um Jahrzehnt bewahrt. Und er war bereit und fähig, diese Begeisterung zu teilen.

Nach schwerer Krankheit ist Hans-Thies Lehmann in Athen, wo er gemeinsam mit seiner Frau Helene Varopoulou seine letzten Lebensjahre verbrachte, am vergangenen Sonnabend gestorben.

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