Eine Apple-Aktie oder der 1. FC Union

Das erste Europapokalspiel in der Alten Försterei war trotz einer Niederlage der vorläufige Höhepunkt des Fußballs in Köpenick

Enttäuscht auf der Ehrenrunde: Gefeiert wurde Unions Team trotz der ersten Saisonniederlage.
Enttäuscht auf der Ehrenrunde: Gefeiert wurde Unions Team trotz der ersten Saisonniederlage.

Die noch junge Saison in der Bundesliga bietet Anlass genug, über die Entwicklung des 1. FC Union zu staunen. Die Berliner seien der bislang schwierigste Gegner gewesen, urteilten Torwart Manuel Neuer und Trainer Julian Nagelsmann nach dem 1:1 des dominanten Dauermeisters FC Bayern am vergangenen Sonnabend. Fünf Spiele, drei Siege, zwei Unentschieden – punktgleich mit den ebenso noch ungeschlagenen Münchnern stehen die Köpenicker auf Platz vier der Tabelle. Am Sonntag wartet der 1. FC Köln.

Das Tagesgeschäft läuft besser denn je. Unions Fußballern gelang im vierten Bundesligajahr der erste Auftaktsieg – und das gegen Hertha BSC. Ein ebenso emotional erhebender Erfolg war das 2:1 gegen die ungeliebte Leipziger Red-Bull-Filiale am dritten Spieltag. Darauf folgte mit dem 6:1 auf Schalke der höchste Bundesligasieg der Vereinsgeschichte. Neben der immer wieder glaubhaft versicherten Demut blitzt das gewachsene Selbstbewusstsein dabei schon mal durch. Wie bei Trainer Urs Fischer, der auf der Pressekonferenz nach der Partie gegen den FC Bayern nicht unerwähnt ließ, dass mit Jordan Siebatcheu und Janik Haberer zwei wichtige Stammspieler gefehlt hätten.

»Das Ding ist durch die Decke gegangen.« Als Dirk Zingler diese Worte über seinen Verein am vergangenen Dienstag aussprach, neigte sich das Pressegespräch mit dem Präsidenten dem Ende entgegen. In den 60 Minuten zuvor hatte er weit ausgeholt: von Union Oberschöneweide bis zum 1. FC Union, von der Sportanlage Sadowa bis zur Alten Försterei. Im Jetzt angekommen, sagte er: »Für uns wird ein Traum wahr.« Diesen formulierte er noch am selben Tag in einem Brief an die 45 000 Vereinsmitglieder wie folgt: »Zum ersten Mal in der mehr als 100-jährigen Geschichte unseres Stadions findet ein Europapokalspiel in unserem Zuhause statt.«

Am Donnerstag war es dann soweit: Europa League. Die Vereinshymne lief vor dem Spiel gegen Royal Union Saint-Gilliose zwar etwas früher als sonst und währenddessen unüblicherweise auch Werbung über die Banden – Zwänge des sportlichen Aufstiegs. Entsprechend zelebriert wurde der historische Abend natürlich dennoch. Die Choreografie war der Alten Försterei gewidmet. »Fußball, wo er hingehört«, war groß und breit auf der Waldseite zu lesen. Besungen wurde das Stadion, bis die Wettbewerbshymne der Uefa nicht mehr zu hören war.

Dem Motto »Alle in Rot« waren fast alle Unioner gefolgt. Und diesmal konnten sogar mehr als üblich live dabei sein. In der Europa League müssen Gästefans nur fünf Prozent der verfügbaren Tickets bekommen, in der Bundesliga sind es zehn. Und durch ein spezielles Losverfahren soll es jedem Vereinsmitglied möglich gemacht werden, mindestens ein Heimspiel in der Gruppenphase im Stadion zu erleben.

Jubeln konnten die knapp 21 000 Fans nicht. Von zwei diszipliniert spielenden Teams waren die Unioner aus Belgien bissiger in der Abwehr und im Mittelfeld und hatten die besseren Tormöglichkeiten. Eine davon nutzte Senne Lynen in der 39. Minute zum Siegtreffer. Die Unioner aus Berlin wirkten bei ihrer ersten Saisonniederlage gehemmt, nur »Halbchancen« habe man rausgespielt, urteilte Mittelfeldchef Rani Khedira. Sie müssen sich also steigern, wenn sie das Ziel des Vereins, in Europa zu überwintern, erreichen wollen. Die anderen Gegner in der Gruppe D, Malmö FF und die Portugiesen vom SC Braga, die am Donnerstagabend 2:0 in Schweden gewannen, sind nicht leichter zu bespielen.

Gefeiert haben die Fans nach dem Abpfiff dennoch ausgiebig, das Team und den Verein. Dass dieses historische Spiel möglich wurde, sei der aktuell erfolgreichen sportlichen Phase zu verdanken, hatte Zingler am Dienstag festgestellt. Für dieses logische Fazit hätte es diesen einstündigen Ausflug in seine »Gefühlswelt« an diesem Tag nicht gebraucht. Und so beschrieb der Präsident die Entwicklung des Fußballs in Köpenick entlang der geschichtlichen Linie mit zwei Kriegen, einer geteilten Stadt, den vielen schwierigen Phasen des Vereins nach dem Mauerfall – und der Ankunft am Sehnsuchtsziel Bundesliga. »Dass wir dahin gekommen sind, ist ganz, ganz vielen Menschen in ganz vielen Jahren zu verdanken.«

Steil nach oben ging es in Zinglers Amtszeit – in existenzieller Not aus der Oberliga bis nach Europa. Rückblickend auf diese 18 Jahre sagte er: »Damals auf unseren Klub gesetzt zu haben, ist wie der Kauf einer Apple-Aktie vor 30 Jahren.« Damit bedankte er sich auch bei allen Partnern des 1. FC Union.

Von einem Ende der Entwicklung will der Präsident nichts wissen. »Wir wachsen monatlich um 1000 Mitglieder«, berichtete Zingler. Scheinbare Grenzen wolle er Stück für Stück erweitern, schrieb er den Vereinsmitgliedern. Zuzutrauen ist es ihm. Ein Brief als Beispiel: Kurz nachdem sich Union im Mai 2021 für die Europa Conference League qualifiziert hatte, schrieb Zingler dem Uefa-Chef Aleksander Čeferin. »Hier sind wir. Und wir wollen stehen«, umriss er den Inhalt kurz. Das Ergebnis eines längeren Prozesses, das laut Zingler auch dem starken Wirken von Borussia Dortmund zu verdanken ist, lautet: Nach fast einem Vierteljahrhundert sind Stehplätze wieder erlaubt – und somit Europapokalspiele an der Alten Försterei.

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