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Viel zu viele Daddy Issues

Ein Dokumentarfilm gewinnt den Goldenen Löwen in Venedig. Das Festival bot große Namen, aber wenige Überraschungen.

Manche erleben das Venedig-Filmfestival mit einem leichten Schwindelgefühl – je nachdem, wie lange man in einem Boot sitzt, um die Festivalinsel Lido zu erreichen. Von der Insel, auf der ich übernachte, dauert es mit dem Boot sieben bis acht Minuten bis auf den Lido. Schön eigentlich; nur gibt es bloß drei Mal am Tag eine direkte Verbindung dahin. Bei den Filmvorstellungen, die morgens gegen acht Uhr beginnen und bis Mitternacht dauern, nutzt der Fahrplan wenig. So wird die Rückfahrt oft zu einer anderthalb- bis zweistündigen Reise über diverse Inseln.

Während des ganzen Festivals habe ich die Hauptinsel Venedigs nur noch in der Nacht gesehen, während ich von einer Seite zur anderen hastete, um das Nachtboot zu kriegen. Und bald war mir klar: In Venedig kann man schwer von A nach B rennen! Das Wasser kommt einem immer in die Quere. Tatsächlich ist diese Stadt fürs Schlendern da, nicht für Journalist*innen, die es eilig haben.

Gewinner*innen der Filmfestspiele Venedig
  • Bester Film (Goldener Löwe): All the Beauty and the Bloodshed – Laura Poitras
  • Beste Regie (Silberner Löwe): Bones and All – Luca Guadagnino
  • Großer Preis der Jury (Silberner Löwe): Saint Omer – Alice Diop
  • Beste Hauptdarstellerin: Cate Blanchett – Tár
  • Bester Hauptdarsteller: Colin Farrell – The Banshees of Inisherin
  • Bestes Drehbuch: The Banshees of Inisherin – Martin McDonagh
  • Spezialpreis der Jury: No Bears – Jafar Panahi
  • Beste Nachwuchsdarstellerin: Taylor Russell – »Bones and All«

    Am Lido angekommen, herrscht schon eine andere Atmosphäre. Da sieht man vor allem eilige Journalist*innen, die sich in den Filmpausen fast nur noch von Panini und Aperol-Spritz ernähren. Was man ihnen auch nicht verwehren will: Während eine Cola 3,50 Euro kostet, sind es für ein Aperol-Spritz nur vier Euro. Aber auf dieser Insel muss man sich für alles anstellen – egal, ob Eis, Toilette oder Bootsfahrt. Die Boote, in denen ordentlich Maske getragen wird, auch wenn man draußen steht, sind überfüllt. Die Fahrer (eine Fahrerin habe ich noch nicht gesehen) weisen alle ständig darauf hin. In den Kinosälen wiederum hat ungefähr die Hälfte eine auf. Die Säle sind eher kalt, doch die grelle Sonne blendet, sobald man aus dem dunklen Kino rauskommt. Und täglich vermehren sich die Mückenstiche, auch während der Vorführung.

    Die Filmfestspiele von Venedig, die ältesten der Welt (seit 1932), deren Hauptpreis Goldener Löwe einst unter den italienischen Faschisten »Coppa Mussolini« hieß, sind jedoch nicht nur für Fachbesucher*innen. Wie die Berlinale ist Venedig auch ein Publikumsfestival. Tickets können seit der Corona-Pandemie nur noch online gekauft werden. Die Preise variieren je nach Saal und Uhrzeit der Vorstellung von acht bis 50 Euro. Für bestimmte Gruppen gibt es eine Ermäßigung. Dieses Festival ist außerdem ziemlich fanfreundlich: Bei den Red-Carpet-Events steht nur eine halbhohe Mauer zwischen den Besucher*innen und den Stars; Menschen können den Prominenten also sehr nahe kommen. Manche hinterlassen ihre Sonnenschirme als Platzhalter vor der Mauer einige Stunden vor Beginn der Gala-Vorstellung.

    Hollywood ist hier ständig präsent. Sogar die Panini heißen mancherorts »Brad Pitt« oder »Tom Hanks«. »Ich hätte gerne einen Brad Pitt« habe ich mal bestellt, und es war mir sofort peinlich, als die Frau an der Theke meinte: »Ja, ich auch!«

    Von den 23 Titeln, die dieses Jahr um den Goldenen Löwen konkurrierten, waren die meisten Produktionen aus den USA. Auch Frankreich und Italien waren stark vertreten. Nur fünf der Wettbewerbsfilme wurden von Frauen gedreht. Die Macher des Festivals scheint das nicht gestört zu haben. Generell sieht man auf solchen renommierten Festivals wie Venedig und Cannes kaum eine Bereitschaft, den Status quo ändern zu wollen.

    Der diesjährige Wettbewerb bot schon große Namen, doch – abgesehen von zwei, drei Titeln – selten neue, bewegende Ideen oder verrückte, schockierende Momente. Es gab viel zu viel daddy issues (ab und zu auch mommy issues), einige klassische Geschichten mit oft vorhersehbaren Enden und ein paar Werke, die richtig langweilten. Auch ein christliches Musical war dabei. Das zumindest überraschte.

    Einer der besten Filme war Martin McDonaghs »The Banshees of Inisherin«, für den er auch den Preis für das beste Drehbuch gewann. Erzählt wird darin von zwei langjährigen Freunden auf einer irischen Insel. Doch auf einmal möchte Colm (Brendan Gleeson) nichts mehr mit Pádraic (wunderbar von Colin Farrell dargestellt) zu tun haben und seine Zeit lieber mit dem Komponieren verbringen als mit einfachen, banalen Gesprächen mit Pádraic. Farrell wurde – sehr verdient – als bester Hauptdarsteller ausgezeichnet. Den Preis als beste Hauptdarstellerin erhielt Cate Blanchett für die Rolle einer Dirigentin im US-Drama »Tár«.

    Besonders enttäuschend war Florian Zellers »The Son« (mit Hugh Jackman in der Hauptrolle): ein klischeehaftes Familiendrama, in dem ein Kind an der Trennung der Eltern leidet. Dabei haben alle Söhne mit ihren Vätern Probleme (gähn). Auch Joanna Hoggs »The Eternal Daughter« konnte – trotz der Schauspielkunst von Tilda Swinton – nicht überzeugen (wer findet solche Szenen noch unheimlich, wenn etwa eine alte Frau schemenhaft im Fenster erscheint?).

    »Blonde« von Andrew Dominik, das lang erwartete Biopic über Marilyn Monroe, enttäuschte und begeisterte zugleich. Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman der US-Schriftstellerin Joyce Carol Oates aus dem Jahr 1999. Audiovisuell gesehen ist das Werk gelungen, auch Ana de Armas’ Marilyn Monroe ist überzeugend. Aber inhaltlich ist alles zu kurz gedacht. Der Film bietet kaum neue Aspekte der Geschichte oder einen neuen Blick auf das Leben dieser Ikone. Einige Phasen ihrer Biografie wurden ausgewählt und zusammengeworfen. Es gibt keine Dynamik zwischen ihnen. Manche Szenen sind an sich sehr packend, aber die stehen lose im Plot. Der erste Teil über ihre Kindheit ist Hollywood in seiner schlechtesten Form. Man möchte fast schon den Saal verlassen – bis Ana de Armas ins Bild kommt und das Werk rettet. Von den Männern in Marilyns Leben, zu allen sagt sie »Daddy«, kommen nur Joe DiMaggio und Arthur Miller vor – und es gibt eine einzige Szene mit John F. Kennedy. Daraus wurden 166 Minuten. Ab Ende September wird »Blonde« auf Netflix zu sehen sein.

    Immerhin gewann eine Frau den Goldenen Löwen: Als bester Film wurde die Dokumentation »All the Beauty and the Bloodshed« der US-Regisseurin Laura Poitras über die Künstlerin und Fotografin Nan Goldin ausgezeichnet. Anhand von Archivmaterialien, privaten Fotos und Interviews werden einerseits unterschiedliche Aspekte ihres Lebens dargestellt, auch unangenehme Themen, über die Goldin bis jetzt nicht sprach. Andererseits wird ihr Kampf gegen die Familie Sackler begleitet, die als Kulturförderer bekannt, aber auch für die Vermarktung des abhängig machenden Medikamentes Oxycontin verantwortlich ist. Während der Vorstellung des Gewinnerfilms nach der Preisverleihung, bei der Fach- wie Normalbesucher*innen dabei waren, haben etliche schon den Saal verlassen. Die Doku wird wohl kein Publikumsliebling.

    Auch politische Momente gab es auf dem Venedig-Festival. Wie erwartet, betraf einer davon den iranischen Filmemacher Jafar Panahi, dessen neues Werk »Khers nist« (»No bears«) als Abschlussfilm des Wettbewerbs auf dem Lido Premiere feierte. Panahi war im Juli dieses Jahres in Teheran verhaftet worden, nachdem er sich über die Situation des bereits inhaftierten Kollegen Mohammad Rasoulof (»Doch das Böse gibt es nicht«) hatte informieren wollen. Auf einmal musste er seine früher verhängte, aber nicht vollzogene sechsjährige Haftstrafe antreten. 

    Wie Rasoulof hat auch Panahi trotz des langjährigen Berufs- und Ausreiseverbots immer wieder heimlich Filme gedreht, unter anderem »Taxi Teheran«, der 2015 den Goldenen Bären der Berlinale gewann. Auch »No bears« hat er im Verborgenen realisiert und nach Venedig geschickt. Vor der Vorstellung haben die diesjährige Jury-Präsidentin Julianne Moore und der Direktor der Filmfestspiele, Alberto Barbera, neben anderen Künstler*innen aus Solidarität mit Panahi einen Flashmob auf dem Roten Teppich organisiert. Und bei der Pressekonferenz zum Film gab es einen freigelassenen Stuhl mit seinem Namensschild. 

    »No bears« erhielt den Spezialpreis der Jury. Darin spielt Panahi – wie in »Taxi Teheran« – sich selbst. Der Regisseur befindet sich in einem kleinen Dorf an der türkisch-iranischen Grenze, um einen Dokumentarfilm über ein iranisches Paar zu drehen, das aus politischen Gründen über die Türkei nach Europa fliehen möchte. Da er Ausreiseverbot hat, versucht er, von dort und über Videochat Regie zu führen. Sein Assistent ist wiederum schon in der türkischen Stadt beim Drehteam. Auch das Dorf selbst hat seine eigenen Geschichten. Die ländlichen Szenen erinnern etwas an die Werke des anderen berühmten iranischen Regisseurs Abbas Kiarostami, mit dem Unterschied, dass Panahi das Dorfleben weder glorifiziert noch exotisiert, sondern eher dessen Enge, die Beschränktheit von Traditionen und den Aberglauben darstellt. Dabei ist nichts erschütternder als die Ausweglosigkeit jeder Geschichte, die dieser Film erzählt. Vor allem die Ausweglosigkeit der Situation des Regisseurs selbst.

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