Gelesen - dabei gewesen

Neuerscheinungen, annotiert: Bora Ćosić und Can Xue im »Schreibheft«, Fußball in Buenos Aires und Jeff Tweedy lehrt Do-it-yourself-songs

  • Niko Daniel
  • Lesedauer: 4 Min.

Proust in neu

Das neue »Schreibheft« ist drei Autor*innen gewidmet: Dem serbischen Schriftsteller Bora Ćosić, Jahrgang 1932, dem US-Dichter George Oppen (1908–1984) und der chinesischen Schriftstellerin Can Xue, Jahrgang 1953. Von Ćosić gibt es den fast vierzigseitigen Kurzroman »Bergottes Witwe«, eine witzige und geistreiche Hommage an und Persiflage auf Marcel Proust, die er schon 1994 im »Schreibheft« Nr. 44 angedacht hatte. Es geht ihm um eine Art Proust in Anführungszeichen. Der mittlerweile 90-jährige Ćosić erinnert sich an Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«, die er als Jugendlicher gelesen hatte. »Ćosić schlüpft dafür in die Rolle eines verspielten, ironischen, karnevalistischen Proust, der über die Erfahrung eines anderen Europas verfügt – eines mitteleuropäischen und balkanesischen Europas«, ordnet Alida Bremer im neuen Heft dessen Text »Bergottes Witwe« ein. Über die Avantgarde-Schriftstellerin Can Xue, von der hier zwei Texte gedruckt werden, schreibt Dylan Suher: »Tatsächlich sind ihre Schöpfungen oft abenteuerlicher als die der westlichen Modernisten, die sie so bewundert: eine lange Liste von eingestandenen Einflüssen umfasst Kafka, Borges und Calvino.« Ann Cotten urteilt über sie (in einem Gespräch mit Raphaela Edelbauer und Jakob Kraner): »Can Xue ist immer da, wie ein Berg, den man gerade nicht besteigt.« Sie selbst sagt: »Alle meine Geschichten – ob Romane, Noven oder Kurzgeschichten – sind linear durchgeschrieben, vom Anfang bis zum Ende. Ich arrangiere sie niemals und ändere auch nicht ihre Abfolge. Meine Manuskripte sind äußerst sauber – sehr, sehr selten korrigiere ich auch nur ein einziges Wort.«

Schreibheft, Nr. 99, herausgegeben von Norbert Wehr, 180 S. , 15 

Godzilla, Kong und Diego

Argentinischer Fußball ist genialer Wahnsinn und säkulare Religion. Argentinischer Fußball ist Mord und Totschlag und Korruption. Die Barras, mafiartig organisierte Fangruppen, die weder mit den Ultras noch mit den Hooligans europäischer Prägung zu vergleichen sind, ringen um Geld und Einfluss – fast um jeden Preis. Sie verkaufen Tickets und T-Shirts und bekämpfen sich in den Vereinen untereinander und als Vereine gegeneinander – bis rauf in die Nationalmannschaft. Argentinischer Fußball ist aber vor allem Buenos Aires. Diese Fußballstadt hat 67 Fußballklubs, 15 davon Erstligisten. Noch der kleinste Klub hat ein eigenes Stadion und ein eigenes Fußballradio. Bestimmt wird der Alltag vom ewigen Kampf der Giganten Boca Juniors gegen River Plate. Das ist wie Godzilla gegen King Kong, nur dass Maradona als gefallener Über-Gott über alldem zu schweben scheint. Der Schweizer Journalist Lukas Lange, bekennender Anhänger von San Lorenzo de Almagro (mafiamäßig noch nicht so strack) lebt seit sieben Jahren in der Metropolregion und stellt alle 67 Klubs in einem Buch vor, mit einem Extrakapitel über Maradona. Merke: »Götter sterben nicht«, so lautet der Schlusssatz.

Lukas Lange: Fußballstadt Buenos Aires. Fußballfibel, Culturcon Medien, 242 S., brosch., 15,99 €

Wie werde ich Gott?

Im Lockdown wurden manche Menschen Musiker. Sie lernten Klavier, Gitarre oder Saxofon. Dafür brauchten sie nur ein Instrument und digitale Beratung und Anleitung. Wer Sorgen hat, hat auch Likör und wer einen Traum hat, hat in der Regel Internet. Nehmen wir mal an, das ging alles gut voran, dann taucht das nächste Problem auf: »Wie schreibe ich einen Song?« So heißt ein Ratgeber von Jeff Tweedy, dem Sänger und Songwriter der recht bekannten Indie-Country-Band Wilco aus Chicago. Dieses Buch sei »allen Songs gewidmet, die noch kommen werden, deinen und meinen«, schreibt er in der Einleitung. Und »all den Augenblicken, in denen sich uns Möglichkeiten bieten, die wir niemals erwartet haben. All den Liedern, die wie Fenster sind. Die uns ein Stück weit offen stehen, gerade weit genug, um uns die Flucht zu ermöglichen. Fenster, die geschlossen sind, in denen wir uns im schummerigen Licht spiegeln können.« Ist das nicht schön gesagt, Freund*innen der Nacht und der Popmusik? Und damit es nicht so schwer wird, geht es in diesem unterhaltsamen 160-Seiten-Buch auch nur um die Entwicklung eines einzigen Songs, nicht gleich um ein ganzes Album. Kapitel 23 (von 24) heißt: »Was hast du da gerade gemacht? Taugt es etwas?« Darin stellt Tweedy fest: »Die Beurteilung deiner Kunst ist nicht annähernd so wichtig wie der Entstehungsprozess selbst.« Denn: Hier walte eine »Kraft, die wir normalerweise ›Gott‹ zuschreiben – etwas aus dem Nichts zu erzeugen. Eigentlich unfassbar, oder?«

Jeff Tweedy: Wie schreibe ich einen Song? A. d. Amerik. Engl. v. Philip Bradatsch, Heyne-Verlag, 160 S., geb., 19 €.

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