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Die Macht der Mutter

Feminismus im Mittelalter: In »Matrix« erzählt Lauren Groff von der Emanzipation im Kloster und von der ersten Dichterin Marie de France

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 5 Min.

Das mittelalterliche Klosterleben gilt für gewöhnlich nicht gerade als Ort emanzipatorischer oder feministischer Praxis. Dennoch entwickelt die aus New York stammende Schriftstellerin Lauren Groff in ihrem von der US-amerikanischen Kritik überschwänglich gefeierten Roman »Matrix« die Geschichte einer radikalen weiblichen Selbstermächtigung im 12. Jahrhundert, die in einem englischen Kloster angesiedelt ist.

Im Zentrum ihres gut 300-seitigen Romans steht die historische Figur der Marie de France, die erste bekannte Dichterin, die in französischer Sprache schrieb und literaturgeschichtlich von Bedeutung ist. In ihrem auf Anglonormannisch verfassten »Lais«, einer eigenen Interpretation einer bretonischen Gedichtform, verarbeitete Marie de France vor allem Sagen, Feen und andere Märchenstoffe inklusive einer geharnischten Kritik an der Frauenfeindlichkeit der damals verbreiteten Minnegesänge. Kein Wunder also, dass sich diese historische Figur für einen feministischen Roman eignet.

Über Marie de France’ Herkunft wurde viel spekuliert, angeblich stammte sie vom französischen Hof und war, wie ihr hoher Bildungsgrad nahelegt, von adeliger Herkunft. Mitte des 12. Jahrhunderts wurde sie in ein englisches Kloster geschickt. Die dünne Quellenlage nutzt Lauren Groff geschickt, um in ihrer Fiktion »Matrix« eine aus verschiedenen Spekulationen und Anleihen zusammengesetzte Person zu komponieren und für sie eine langjährige Biografie auszuarbeiten.

Die Marie de France von Lauren Groff ist unehelich geboren und wird im Alter von 17 Jahren von ihrer Halbschwester, der damaligen Königin von Frankreich, Eleonore von Aquitanien, die später englische Königin und Mutter von Richard Löwenherz wird, in ein verarmtes Kloster im kalten und finsteren England geschickt. Marie gilt als nicht attraktiv, sie ist zwei Köpfe größer als alle anderen Frauen. Doch sie kann im Gegensatz zu den Damen am königlichen Hof nicht nur reiten, sondern auch kämpfen und hat sogar als Kind mit ihrer Mutter an einem Kreuzzug teilgenommen. Die Vorstellung, ihr Dasein als Nonne zu fristen, ist für sie der blanke Horror. Schließlich bleibt ihr aber nichts anderes übrig und sie reitet in das heruntergekommene Kloster, das gerade von einer Krankheit heimgesucht wird, an der zahlreiche Nonnen sterben.

Lauren Groff versteht es, die bedrückende Stimmung in dem mittelalterlichen Gemäuer, die Kälte, das mangelnde Licht und den allgegenwärtigen Hunger bei harter Arbeit eindrucksvoll in Szene zu setzen. Dort muss Marie bleiben, die heimlich in Königin Eleonore verliebt ist. Das Mädchen hadert mit der strengen Klosterordnung, arrangiert sich aber schließlich mit den Nonnen und bringt viel praktischen Sachverstand mit, der dem Kloster zugutekommt. Nach einigen Jahren steigt Marie sogar zur Äbtissin auf und leitet das Kloster.

Lauren Groffs fiktionale Marie de France schreibt ihre Gedichte nachts als Liebeserklärungen an Königin Eleonore, in der Hoffnung, so dem Kloster entfliehen und an den Hof zurückkehren zu können, was aber natürlich nicht gelingt. Stattdessen beginnt sie als wehrhafte, selbstbewusste Frau, die Interessen der Nonnen und die Ansprüche des Klosters in der Gegend durchzusetzen, zumal die Äbtissin des königlichen Klosters auch den Rang einer feudalen Baronin innehat.

Aber damit nicht genug. Marie hat religiöse Visionen einer kommenden Endzeit, die dazu führen, dass sie ein komplexes Labyrinth im Wald bauen lässt, hinter dem das Kloster versteckt ist. Sie entwirft und baut aber auch ein Bewässerungssystem und lässt weitere Gebäude errichten. Das Kloster wächst und nimmt darüber hinaus viel Geld mit dem Kopieren von Schriften ein. Lebten dort anfänglich zwanzig verarmte und kranke Nonnen, so wohnen dort später fast zweihundert Schwestern zuzüglich Bediensteten. Außerdem verbringen reiche adelige Frauen ihren Lebensabend in dem nun sehr bekannten und gutsituierten Kloster.

Bald ist Äbtissin Marie eine bekannte Person, vor der sich auch mächtige Männer fürchten, etwa Adelige und der Bischof, die ihr Treiben mit äußerstem Argwohn beobachten. Als in England Ende des 12. Jahrhunderts einem vatikanischen Interdikt gemäß keine Messen mehr gelesen werden dürfen, hält Marie nicht nur selbst im Kloster die Messe, sie nimmt auch Beichten ab und verstößt damit eklatant gegen grundlegende Regeln der Kirche.

Die titelgebende »Matrix« hat nichts mit Science-Fiction zu tun, sondern ist das lateinische Wort für »Mutter«. Marie wird zu einer politisch mächtigen Person, die schließlich im Alter auch wieder mit der Königin Eleonore zusammentrifft. Das zu Beginn als Gefängnis wahrgenommene Kloster wird für Marie zu einem Projekt der Emanzipation, in dem sie einen sicheren Raum für Frauen schafft, der aber keineswegs konfliktfrei bleibt. In Lauren Groffs Roman wird das Kloster zum Ort der weiblichen Selbstorganisation gegen eine Welt der Männer, deren Gewalttätigkeit immer wieder eine Rolle spielt. »Matrix« erzählt aber auch vom sexuellen Begehren, von queerer Romantik, von enttäuschter Liebe und von religiös motivierter Kunstproduktion. Groff gelingt es dabei, eine literarische Perspektive auf das Mittelalter zu entwerfen, die sich radikal von gängigen Bildern absetzt.

Lauren Groff: Matrix. A. d. amerk. Engl. v. Stefanie Jacobs, Claasen-Verlag, 320 S., geb., 24 €

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