Letzter G8-Gefangener wird nicht ausgeliefert

Ein 49-jähriger Italiener soll wegen Gipfelprotesten von 2001 in Haft

Mehr als 20 Jahre nach den Protesten gegen den G8-Gipfel in Genua hat ein Berufungsgericht in Lyon die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gegen den Anarchisten Vincenzo Vecchi in dritter Instanz verhindert. Laut der Nachrichtenagentur AFP, die das Urteil vom Freitag vergangener Woche in Kopie erhalten haben will, sehen die Richter die Überstellung nach Italien als »unverhältnismäßigen Eingriff in das Recht auf Achtung seines Privat- und Familienlebens« an. Die vorgeworfenen Taten – darunter die Zerstörung einer Bank und Brandstiftung an einem Auto – im Juli 2001 lägen lange zurück. Vecchi lebe seit 13 Jahren im Dorf Morbihan in der Bretagne und habe dort auch eine Familie gegründet. Er sei dort »sozial gut integriert«, so das Gericht.

Vecchi war wegen »Verwüstung und Plünderung« in der ligurischen Hauptstadt verurteilt worden und soll deshalb fast zwölf Jahre im Gefängnis verbüßen. Insgesamt standen 25 italienische Aktivisten mit dem gleichen Vorwurf in Italien vor Gericht. Elf von ihnen erhielten hohe Strafen, die nach einem Berufungsverfahren 2009 sogar noch heraufgesetzt wurden. Unter den Beschuldigten war Vecchis damalige Freundin Marina Cugnaschi, die zu über zwölf Jahren Haft verurteilt wurde. Die höchste Gefängnisstrafe kassierte Francesco Puglisi mit 15 Jahren Haft. »Das ist kein Urteil, das ist ein Racheakt«, hatte Haidi Giuliani, die Mutter des beim Gipfelprotest in Genua von der Polizei getöteten Carlo Giuliani damals kommentiert. Vecchi war anschließend nach Frankreich geflohen.

Vor der Verhandlung in Lyon hatten zehn bekannte Persönlichkeiten in einem Leitartikel der Zeitung »Le Monde« gefordert, die Auslieferung Vecchis zu verhindern. Unter ihnen waren die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernault, der Filmemacher Ken Loach und der Autor Noam Chomsky.

Berufungsgerichte in Rennes und Angers hatten die Umsetzung des Haftbefehls bereits mit der Begründung zurückgewiesen, dass es in Frankreich keine Entsprechung für den Straftatbestand der »Verwüstung und Plünderung« gebe. Der Paragraf 285 des italienischen Strafgesetzbuches wurde 1930 unter dem faschistischen Mussolini-Regime geschaffen und nach dem G8-Gipfel 2001 auch gegen Protestierer angewandt. Kern des Gesetzes ist die Bestimmung, dass die Angeklagten die Taten nicht selbst begangen haben müssen. Für die Kollektivstrafe genügt allein ihre Anwesenheit am Tatort und die damit vom Gericht angenommene Billigung der dortigen Vorfälle.

Die Staatsanwaltschaft kann ein drittes Mal Berufung einlegen. Möglich wäre dies, weil Frankreich an das Gemeinschaftsrecht der EU gebunden ist und einen Europäischen Haftbefehl deshalb umsetzen muss. Jedoch gilt dieser nur für insgesamt 32 Straftaten, die in den jeweiligen Ländern gleichsam strafbar sein müssen. Einen Gesinnungsparagrafen wie den zu »Verwüstung und Plünderung« kennt die Rechtssprechung in Frankreich aber nicht.

In einer Entscheidung vom Juli 2022 hatte der Europäische Gerichtshof Mussolinis Gesetz zu »Verwüstung und Plünderung« jedoch anerkannt und entschieden, dass dieses keine strenge Gleichwertigkeit mit einem französischen Straftatbestand erfordere. Die Menschenrechtsorganisation Fair Trials kritisiert das Urteil als Missbrauch des Europäischen Haftbefehls. Die von Frankreich in den EU-Verträgen zugesicherte gegenseitige Anerkennung der Justiz anderer Mitgliedstaaten dürfe nicht mit Verpflichtungen zur Achtung der Grundrechte im eigenen Land kollidieren.

»Wir fordern die Staatsanwaltschaft feierlich auf, keine Kassationsbeschwerde einzulegen und so auf elegante und würdige Weise dieser wahnwitzigen Affäre ein Ende zu setzen«, schreiben die Mitglieder des Unterstützerkollektivs für Vincenzo Vecchi in ihrer Pressemitteilung am Freitag. So könnten die Richter dem inzwischen 49-jährigen Italiener »die Möglichkeit geben, ein friedliches Leben in Morbihan wieder aufzunehmen«.

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