Ärzte ohne Grenzen: Nothelfer kommen an ihre Grenzen

30 Jahre Ärzte ohne Grenzen Deutschland: Komplexe Krisen und restriktive Gesetzgebung erschweren humanitäre Arbeit

Die deutsche Sektion der Nichtregierungsorganisation Ärzte ohne Grenzen (französisch: Médecins sans frontières, kurz: MSF) gründete sich 1993. Schon 22 Jahre früher war die Organisation in Paris aus der Taufe gehoben worden. Die hier Engagierten blicken also auf eine lange Geschichte der medizinischen Nothilfe weltweit zurück. Aber jetzt, so Christian Katzer, Geschäftsführer von Ärzte ohne Grenzen Deutschland bei der Vorstellung des Jahresberichts am Mittwoch in Berlin, stoße man immer häufiger an Grenzen.

Eigentlich könnte das 30-jährige Gründungsjubiläum in Deutschland Anlass für Stolz auf eine erfolgreiche Entwicklung sein: 1993 wurden erst neun Helfende entsandt, nur 20 000 DM an Spenden standen zur Verfügung. 2022 war die Organisation in 70 Ländern aktiv. An Spenden gingen 265 Millionen Euro ein, das sind 52,5 Millionen mehr als im Vorjahr. Damit ist ein neuer Rekord aufgestellt, der auch mit dem Krieg in der Ukraine zu tun haben dürfte.

Unter den Bedingungen, die aktuell die Arbeit der Ärzte in weltweiten Konflikten schwieriger machen, hebt Katzer die Klimakrise hervor: »Steigende Temperaturen, ausbleibende Regenzeiten und immer häufiger auftretende Extremwetterereignisse wie Wirbelstürme und Überschwemmungen haben direkte Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit.« Zudem verschärfe die Klimakrise bereits bestehende Probleme. »Die humanitären Bedürfnisse weltweit werden mit dem Fortschreiten der Klimakrise weit über das hinauswachsen, was wir und andere humanitäre Nothilfeorganisationen kennen und bewältigen können. Die Klimakrise ist auch eine Gesundheits- und humanitäre Krise.«

Konkret bringen die Klimaveränderungen zum Beispiel steigende Patientenzahlen bei Malaria. Wegen zunehmender Ernteausfälle leiden mehr Kinder unter Mangelernährung. Und mehr als eine Million Menschen befinden sich aktuell auf der Flucht, werden teils mehr oder weniger notdürftig in Camps versorgt – oder haben in Verstecken gar keinen Zugang zu einer medizinischen Versorgung. Aktuell zum Beispiel für Hilfe nicht erreichbar sind laut Katzer Menschen in Teilen Syriens und im östlichen Teil der Ukraine.

Krisen, nationale Verbote und kriegerische Handlungen verlangen von der Hilfsorganisation noch zusätzlichen, teils juristischen Aufwand, um über Zugang zu den Hilfesuchenden zu verhandeln. Das klingt einfacher als es ist: »Wir beobachten multiple Krisen und zeitgleich eine zunehmende Einschränkung und Bedrohung unserer Arbeit«, sagt Katzer. Denn auch die aktuell bevorstehende Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems steuert auf neue restriktive Gesetzgebung zu.

Die bereits bestehende Abschreckungspolitik der EU gegenüber Geflüchteten und Migranten müsse beendet und nicht etwa verschärft werden, so MSF, denn sie habe massive Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen. Die gefängnisartigen Camps, wie etwa auf den griechischen Inseln, wirkten in diese Richtung, erklärte Felix Braunsdorf, Experte für Flucht und Migration von Ärzte ohne Grenzen Deutschland, dazu: »Auf den griechischen Inseln können wir etwa beobachten, dass es in sogenannten geschlossenen Zentren mit kontrolliertem Zugang nur eine unzureichende medizinische Versorgung gibt. Die beschleunigten Grenzverfahren führen außerdem dazu, dass der Schutzbedarf von Menschen nicht erkannt wird, die etwa Folter erlebt haben. Dieses Modell als Blaupause für die gesamte EU-Außengrenze zu nehmen, würde ein System etablieren, das in Kauf nimmt, Leid zu verschärfen.«

Die medizinischen Teams von MSF entlang der EU-Außengrenzen behandeln Menschen mit Brüchen, Schnittwunden und anderen Verletzungen, die durch fünf Meter hohe Stacheldrahtzäune verursacht wurden. »Die größer werdenden Grenzmauern und -zäune der EU lassen die Opferzahlen steigen«, beklagt Braunsdorf. Auch deshalb habe MSF zusammen mit mehr als 60 anderen Organisationen einen Appell gegen jegliche Kompromisse auf Kosten von Menschenrechten an die Bundesregierung gerichtet.

Wird der Blick über die EU hinaus auf Konfliktgebiete gerichtet, kann in der Regel davon ausgegangen werden, dass die Organisation bereits vor Ort tätig ist. In der Ukraine wird die Gesundheitsversorgung schon seit 2014 unterstützt, erklärt Geschäftsführer Katzer. Da es dort viel gut ausgebildetes Personal gebe, konzentriere man sich auf die Hilfe nach Kampfeinsätzen. Unter anderem wurde ein System zur pharmazeutischen Versorgung von älteren chronisch Kranken entwickelt, das inzwischen in die ukrainischen Strukturen integriert ist. Aktuell arbeite man mit in einem Evakuierungszug, der verletzte und kranke Zivilisten in Sicherheit bringt.

Seit Jahrzehnten ist MSF in der DR Kongo aktiv, wo es vor allem im Osten des Landes immer wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen komme. Gerade in den letzten Wochen hätten sich die Kampfhandlungen wieder verstärkt, so Katzer. Viele Menschen seien erneut auf der Flucht. Die Lage sei auch wegen ausbleibenden Regens prekär, die Zahl der Malariafälle steige an. Weiter angespannt sei auch die Lage im Sudan. Dort würden Gesundheitseinrichtungen von den Konfliktparteien direkt angegriffen und geplündert. Die Organisation hofft darauf, dringend nötiges medizinisches Material bald über die Grenzen in den Sudan hineinbringen zu können.

Ein ebenfalls weiterhin akutes Thema der Arbeit von MSF sind die Bedürfnisse der Frauen. Während die Organisation aktuell immer mehr Fälle von Mangelernährung in Afghanistan registriert, steht den Frauen dort möglicherweise bald der vollständige Ausschluss von medizinischer Versorgung bevor. Die Situation beschreibt die Gynäkologin Parnian Parvanta: »Mädchen und Frauen in Afghanistan dürfen keine weiterführenden Schulen und Universitäten mehr besuchen, was zu einem eklatanten Mangel an weiblichem medizinischem Personal führen wird.« Aber momentan könnten in Afghanistan Frauen oft nur von Frauen behandelt werden, sagt Parvanta. Zuletzt hatte MSF in dem Land 42 000 Geburten betreut. Knapp über die Hälfte des MSF-Personals dort sei weiblich, das sind 900 Ärztinnen, Hebammen und Krankenschwestern. Doch die Stellenbesetzung werde immer schwieriger, so Parvanta.

Das Beispiel Afghanistan sei extrem, aber kein Einzelfall. Die Gynäkologin misst das auch daran, dass 45 Prozent der Frauen weltweit zu unsachgemäßen Schwangerschaftsabbrüchen gezwungen seien. Und diese bringen Todesgefahr für die Frauen oder langfristige gesundheitliche Komplikationen mit sich. MSF hat 2022 fast 45 000 sichere Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt. Zugleich behandelten die medizinischen Nothelfer aber auch mehr als 25 000 Frauen, die unter den Komplikationen eines unsachgemäßen Abbruchs litten.

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