Chemnitz: Am Stadtrand, wo die Mörder wohnten

In der »Täterstadt« Chemnitz setzt sich eine ehrenamtliche Initiative für das Erinnern an den NSU-Komplex ein

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 10 Min.
Unauffälliges Haus, höchst problematische Geschichte: In der Wolgograder Allee 176 in Chemnitz lebte das NSU-Kerntrio, wie Zeran Osman (l.) und Arlo Jung vom ASA-FF bei einem »Critical Walk« erklären.
Unauffälliges Haus, höchst problematische Geschichte: In der Wolgograder Allee 176 in Chemnitz lebte das NSU-Kerntrio, wie Zeran Osman (l.) und Arlo Jung vom ASA-FF bei einem »Critical Walk« erklären.

Der Rasen ist frisch getrimmt. Zwischen den Häusern stehen Ebereschen, Ahorn und Büsche in sattem Grün. Auf den Balkonen der Wohnblocks blühen Geranien in sandgelben Kästen. Die Sonnenschirme sind zugeklappt; es pfeift ein frischer Wind zwischen den Häusern am Rand von Chemnitz hindurch. Das Hutholz, wie das Quartier heißt, ist eine angenehme Wohngegend im Grünen; jenseits einer Umgehungsstraße beginnen die Felder. Touristen verirren sich allerdings ausgesprochen selten hierher. Außer sanierten Plattenbauten gibt es wenig zu sehen.

Dennoch führen Arlo Jung und Zeran Osman vom Verein ASA-FF an diesem Tag eine kleine Gruppe bei einem Spaziergang durch das Viertel – einem »Critical Walk«, wie sie ihn nennen. Ab und zu bleiben sie stehen, referieren, stellen Fragen, kommen mit den Teilnehmern ins Gespräch. Eine Station: ein Sechsgeschosser in der Wolgograder Allee 176. Dem uninformierten Passanten würde sich nicht erschließen, was das Haus dafür prädestiniert, bei einer Führung vorgestellt zu werden. Der Bau am äußersten Rand des einstigen Fritz-Heckert-Gebiets ist kein besonderes Zeugnis der Architekturmoderne der DDR; es lebte darin auch keine bekannte Schriftstellerin oder ein gefeierter Schauspieler. Die drei einstigen Mieter, über die Osman und Jung berichten, brachten es auf andere Weise zu Prominenz: als zehnfache Mörder und Rechtsterroristen. Es handelte sich um Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe, das Kerntrio des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU). »Das Bundeskriminalamt«, sagt Jung, »geht davon aus, dass sie hier gewohnt haben.«

Die Taten des NSU sind fürchterliche Verbrechen. Von einer »im Nachkriegseuropa einmalige Mord- und Attentatsserie« spricht Barbara John, Ombudsfrau der Bundesregierung für die Opfer und Hinterbliebenen der Neonazizelle. Viele Fakten sind nach einem langen Gerichtsprozess in München und der Arbeit zahlreicher parlamentarischer Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern bekannt. Fest steht, dass die rechtsterroristische Zelle in den Jahren 2000 bis 2007 neun Geschäftsleute mit Migrationshintergrund und eine Polizistin ermordet, Bombenanschläge und Banküberfälle verübt hat. Die Namen der Opfer werden zu Beginn des Rundgangs auf einem zugigen Parkplatz verlesen, bevor ihrer mit einer Schweigeminute gedacht wird. »Um diese Menschen geht es schließlich«, sagt Osman. Sie verteilt Blätter, auf denen die Biografien der Opfer nachzulesen sind. Katja Meier, die sächsische Justizministerin, die an diesem Tag an dem Rundgang teilnimmt, hält einen Bogen in der Hand, auf dem über Süleyman Taşköprü berichtet wird, einen Obst- und Gemüsehändler und Vater einer dreijährigen Tochter, der im Juni 2001 im Alter von 31 Jahren in Hamburg ermordet wurde. »Er hatte Wünsche und Vorstellungen wie alle jungen Menschen«, sagt die Grünenpolitikerin sichtlich ergriffen nach der Lektüre: »Er hatte eine Idee von seiner Zukunft und wurde jäh aus dem Leben gerissen.«

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Als sicher gilt auch, dass sich der NSU auf ein umfangreiches Netzwerk von Unterstützern aus der lokalen rechtsextremen Szene stützte. Auch das zeigt der Rundgang. Der Mietvertrag für die Wohnung in der Wolgograder Allee 176 sei von André Eminger unterschrieben worden, sagt Jung. Der Neonazi war Mitbegründer der »Weißen Bruderschaft Erzgebirge« und galt als treuester Helfer des Trios. Er wurde 2018 in München zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt.

Nur einige Straßenecken weiter wird auch deutlich, wie das Trio sein Leben im Untergrund materiell absicherte. In der Johannes-Dick-Straße befindet sich in einem Flachbau das »Eldorado«-Eiscafé, das für seine »bürgerliche Küche« wirbt. Früher stand hier eine Postfiliale, die Mundlos und Böhnhardt kurz nach ihrem Wegzug aus dem Viertel Ende November 2000 überfielen, »um 11:07 Uhr«, wie die Polizei vermerkte, und indem sie die Angestellten mit »Faustfeuerwaffen« bedrohten. Die Beute betrug 38 900 D-Mark. Allein in Chemnitz habe der NSU acht seiner insgesamt 15 Raubüberfälle verübt, sagt Jung: »So finanzierten sie ihr Leben im Untergrund.«

Derlei Fakten sind bekannt. Vieles rund um den NSU-Komplex aber bleibt bis heute unfassbar. Unbegreiflich ist, wie es zu den massiven Versäumnissen bei Polizei und Verfassungsschutz kommen konnte, die eher Opfer zu Tätern machten als die tatsächlichen Mörder zu finden. Im Fall von Süleyman Taşköprü etwa ging die Polizei zunächst davon aus, dass ihm seine angeblichen Kontakte ins Rotlichtmilieu zum Verhängnis wurden. Viele der Taten wurden als »Dönermorde« bezeichnet, eine groteske Verdrehung der Tatsachen.

Schwer verständlich ist auch, wie Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe jahrelang untertauchen konnten, ohne dass sie jemandem auffielen. Die Männer gingen zur Arbeit, das Trio fuhr in den Urlaub, sie kauften ein und bewohnten Wohnungen: zunächst an vier Adressen in Chemnitz, später im westsächsischen Zwickau, wo Zschäpe am 4. November 2011 den letzten Unterschlupf in der Frühlingsstraße 26 in Brand setzte. Der Mietvertrag für die Wohnung des Trios in der Wolgograder Allee 176 in Chemnitz lief vom 16. April 1999 bis zum 31. August 2000. Um welche Wohnung es sich genau handelte, »wissen wir nicht«, sagt Osman, und man würde es aus Rücksicht auf die Privatsphäre der heutigen Bewohner auch nicht mitteilen, wenn es bekannt wäre. »In diese Zeit«, ergänzt Jung, »fällt der erste Sprengstoffanschlag des NSU in einer Gaststätte in Nürnberg.« Die Wohnung im Plattenbau, sagt Osman, »war ihre Organisations- und Planungsbasis«.

Für diesen Zweck war die Adresse am Stadtrand nicht schlecht gewählt. Das Fritz-Heckert-Gebiet befand sich Ende der 1990er Jahre im Umbruch. Viele Wohnungen in dem Neubaugebiet, das im vormaligen Karl-Marx-Stadt für 90 000 Menschen errichtet worden und zeitweilig das zweitgrößte in der DDR war, standen nach den Um- und Zusammenbrüchen der Nachwendezeit leer; bis zum Jahr 2000 verlor das Viertel die Hälfte seiner Bewohner. Viele der verbliebenen Mieter lebten in schwierigen sozialen Verhältnissen. Rechtsextreme waren allgegenwärtig. Ein Boulevardblatt berichtete aus den Häusern an der Wolgograder Allee von »wilden Naziparties« und Hitlergrüßen vom Balkon. In einem solchen Umfeld habe das aus Jena geflüchtete Trio »leicht untertauchen« können, sagen Osman und Jung. Dabei sei allerdings schwer vorstellbar, dass Nachbarn nicht merkten, mit was für Menschen sie es zu tun hatten, sagt Meier. Sie sei in Zwickau selbst im Plattenbau aufgewachsen, »ich weiß, wie hellhörig die Wände waren«, sagt die Politikerin: »Da konnte man gar nicht nichts mitbekommen.«

Was für ein gutes Pflaster für Nazis das Viertel war, zeigt eine weitere Station des Rundgangs: ein Kompex, in dem heute ein Friseur, eine Tagespflege und ein Asyl für »Tiere in Not« untergebracht sind, wie über der Tür zu lesen ist. Vor einer unbewohnten Voliere erklärt Jung, dass hier bis zum Jahr 2007 der Jugendclub »Piccolo« sein Domizil hatte, ein rechter Szenetreff. Anwohner hätten sich damals über die allgegenwärtigen Nazis beschwert; daraufhin habe man sie von der Straße in den Klub geholt, wo sie freilich ungestört Anhänger rekrutierten konnten. Zeitweise war das »Piccolo« eine bundesweit bekannte Adresse; es ist davon auszugehen, dass auch das NSU-Trio hier ein- und ausging. Jung bringt das Grundproblem der sogenannten »akzeptierenden Jugendarbeit« auf den Punkt: »Das Bemühen um Ruhe im Viertel führte zur weiteren Radikalisierung.« Über Interventionen der Stadt sei nichts bekannt.

Es ist einer der Punkte bei dem »Critical Walk«, an dem deutlich wird, dass es nicht um Sightseeing geht und die Befriedigung touristischer Neugier, sondern tatsächlich um kritische Fragen: Was ist damals schief gelaufen? Hätten einzelne oder alle Mordtaten des NSU verhindert werden können, wenn nicht nur Polizei und Verfassungsschutz bessere Arbeit geleistet, sondern auch Nachbarn, Sozial- oder Rathausmitarbeiter genauer hingeschaut und eingegriffen hätten? »Ich frage mich, was es mit den einstigen Bewohnern gemacht hat, als sie erfuhren, wen sie da als Nachbarn hatten«, sagt Meier vor dem Wohnblock in der Wolgograder Allee. Es sind, merkt Jung an, auch keinesfalls nur Fragen an die Vergangenheit. Viele frühere Unterstützer des NSU-Trios liefen frei herum, auch wenn sie inzwischen meist nicht mehr in Chemnitz wohnen. Eminger, dessen Name auf dem damaligen Mietvertrag stand, befindet sich nur fünf Jahre nach dem Urteil in einem Aussteigerprogramm des Freistaats. Die rechtsextreme Szene ist derweil in Chemnitz weiter aktiv. Für den Critical Walk zum NSU, der seit 2020 angeboten wird und für den sich beispielsweise Studenten, Schüler oder Kursteilnehmer der Volkshochschule interessieren, wird keine öffentliche Werbung gemacht – zum Schutz von Besuchern und Referentinnen. Man wolle nicht, dass sie angepöbelt oder fotografiert werden, heißt es beim ASA-FF: »Damit muss man hier rechnen. So eine Stadt ist Chemnitz.«

Chemnitz ist auch eine Stadt, die sich mit dem Erinnern an den NSU schwer tut, schwerer als andere jedenfalls. Es ist die einzige der mit dem Terrortrio und seinen Morden verbundenen Kommunen, in der es bisher keinen Gedenkort gibt: kein Denkmal, keine Tafel, keine nach einem Opfer benannte Straße. In Jena und Zwickau, den beiden anderen »Täterstädten«, ist das anders. Die thüringische Stadt benannte 2020 einen Platz und eine Haltestelle im Stadtteil Winzerla, wo sich das NSU-Trio in einem Jugendclub radikalisierte, nach Enver Şimşek, dessen am 11. September 2000 ermordetem ersten Opfer. In Zwickau wurde für Şimşek 2019 ein Baum am Schwanenteich im Stadtzentrum gepflanzt. Nachdem dieser abgesägt und eine daneben stehende Bank zertreten worden war, wurden auf Initiative der Stadtgesellschaft zehn Bäume für alle zehn Opfer gepflanzt.

In Chemnitz sind es vor allem Künstler und Aktivisten rund um den Verein ASA-FF, die seit dem fünften Jahrestag der Selbstenttarnung im November 2016 die Erinnerung an den NSU-Komplex wachhalten: mit Spaziergängen, Theaterfestivals und Ausstellungen, in Projekten mit Namen wie »Neue unentdeckte Narrative« oder »Offener Prozess«. Das jüngste heißt »Re:member the Future« (Erinnere dich an die Zukunft) und hat zum Ziel, dass auch in Chemnitz endlich ein Gedenkort an den NSU-Komplex entsteht. Es gehe um »das Erinnern und Sichtbarmachen der Betroffenen, ihrer Namen, Geschichten und Widerstandskämpfe unter Verweis auf eine veränderbare, solidarische Zukunft«, heißt es in der Projektbeschreibung. Gefördert werden soll mit dem Gedenkort auch die »kritische Auseinandersetzung mit Ungleichwertigkeitsvorstellungen und rechter Gewalt in Chemnitz«. Das Konzept des Vereins soll im September vorgestellt werden. Danach hoffe man, dass die Stadt sich dieses zu eigen mache und der Stadtrat eine Ausschreibung für die künstlerische Umsetzung beschließe, sagt Arlo Jung. Ehrgeiziges Ziel sei, dass der Erinnerungsort im Jahr 2025 eingeweiht werden könne.

Ab dem Jahr 2025, in dem Chemnitz europäische Kulturhauptstadt sein wird, soll in der sächsischen Stadt auch auf andere Weise an den NSU erinnert werden. Im Bewerbungsbuch wurde die Idee eines NSU-Dokumentationszentrums aufgenommen, das Initiativen seit Jahren fordern und zu dem sich inzwischen auch die Koalitionen im Bund und im Freistaat Sachsen bekennen. Zunächst könnte im Rahmen der Kulturhauptstadt ein Interims-Zentrum eingerichtet werden. Dessen Kern könnte die Wanderausstellung »Offener Prozess« des ASA-FF sein. Für das eigentliche Zentrum wurde im Mai eine Konzept- und Machbarkeitsstudie vorgestellt. Dieses könnte demnach von einer Stiftung getragen, in Chemnitz und Zwickau angesiedelt werden und, wenn alles gut läuft, in fünf Jahren eröffnen.

Ob es dazu kommt, bleibt abzuwarten. Die Reaktionen aus den Rathäusern in Chemnitz und Zwickau auf die Konzeptstudie fielen eher verhalten aus. In einer gemeinsamen Stellungnahme mahnten die Kommunen zu Demokratiebildung, der Behandlung des Themas NSU in Schulen und weiterer Aufklärung durch den Freistaat. Investitionen in Gebäude und Personal sehe man indes kritisch, und ob das Konstrukt einer Stiftung geeignet »und insbesondere realisierbar« sei, müsse man analysieren, »um etwaige falsche Weichenstellungen auszuschließen«, hieß es. Ministerin Meier sagte dem »nd«, derzeit lasse die Bundeszentrale für politische Bildung im Auftrag des Bundesinnenministeriums drei Gutachten erstellen, in denen es unter anderem um die Form der Trägerschaft gehe. Generell bemühe man sich um eine verbesserte Kommunikation mit den Städten. Man könne diesen »nichts überstülpen, sondern muss das mit ihnen gemeinsam entwickeln«, betont die Politikerin. Wichtig sei aber, dass Zwickau wie Chemnitz sich »nicht wegducken«, sondern zu dem Thema bekennen »und sagen: Ja, das ist Teil unserer Stadtgeschichte«, betont Meier. Es lässt sich schließlich nicht bestreiten, dass die Mörder in Chemnitz gelebt haben: in einem unscheinbaren Plattenbau am Stadtrand, wo heute über gepflegtem Rasen der Ahorn gedeiht.

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