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  • Gedenken an den 12. August 1979

»Rassismus ist ein abscheuliches Gefühl«

Der Musiker Yasmani Torriente Guerra über das Leben in Kuba und den Tod seines Onkels in der DDR

Yasmani Torriente Guerra ist Musiker und lebt in Havanna. Sein Onkel Delfin Guerra war Vertragsarbeiter in der DDR und kam dort am 12. August 1979 unter bis heute ungeklärten Umständen ums Leben.
Yasmani Torriente Guerra ist Musiker und lebt in Havanna. Sein Onkel Delfin Guerra war Vertragsarbeiter in der DDR und kam dort am 12. August 1979 unter bis heute ungeklärten Umständen ums Leben.

Herr Torriente Guerra, welche Rolle spielt Musik in Ihrem Leben?

Sie begleitet mich schon seit meiner frühen Kindheit. Ich habe Klavier, Gesang und Klarinette gelernt, außerdem einen Abschluss als analoger und digitaler Tontechniker gemacht. Ich lebe und liebe Musik und weiß nicht, wie mein Leben ohne sie aussehen würde. Schon mein Großvater Marino war Musiker. Er spielte nicht nur Kontrabass, als gelernter Tischler baute er auch selber Musikinstrumente.

Sie sind Sänger in einem Chor und spielen Klarinette in einer Band. Wie kam es dazu?

Ich glaube, ich bin schon mit einer gewissen Begabung zur Welt gekommen. Als Kind habe ich mal in der Kirche angefangen zu singen – ohne es selbst zu merken. Irgendwann war meine Stimme einfach lauter als die der anderen um mich herum. Mit einem Mal wurde es ganz still im Raum und nur noch meine Stimme war zu hören. Von da an unterstützten meine Eltern mich auf meinem Weg, ich nahm Gesangsunterricht und machte meinen Abschluss in lyrischem und populärem Gesang. Klarinette spielen habe ich dann später auf einer professionellen Schule für Konzertorchester gelernt.

Wie lebt es sich als Musiker in Kuba?

Im Moment ist es sehr schwierig. Einfach, weil die Gehälter niedrig und durch die enorme Inflation die Preise aller Produkte um mehr als das Zehnfache gestiegen sind. Egal ob Lebensmittel, Medikamente oder Transport. Sowohl ich als auch andere Musiker müssen Nebentätigkeiten nachgehen, die nichts mit unserer Kunst zu tun haben, um irgendwie über die Runden zu kommen.

Gerade sind Sie das erste Mal in Deutschland. Welchen Bezug haben Sie zum Land?

Mein Onkel Delfin Guerra kam im Jahr 1979 als Vertragsarbeiter in die DDR, um bei den Leuna-Werken in Merseburg zu arbeiten. Zuvor war er Maschinenführer in der Glasfabrik von San José de las Lajas, einer Stadt im Norden der Provinz Mayabeque. Als man ihm sagte, dass in der DDR Ausbildungen angeboten würden, gehörte er zu einer Gruppe kubanischer Arbeiter, die dazu auserwählt wurden, diese Möglichkeit wahrzunehmen.

Was für eine Möglichkeit war das?

In ein anderes Land zu gehen, um dort zu lernen und sich als Arbeiter zu verbessern. Aber auch die Gelegenheit zu haben, dort eine andere Kultur und eine andere Sprache kennenzulernen.

Damit war Ihr Onkel nicht alleine. Zwischen 1970 und dem Fall der Berliner Mauer lebten, arbeiteten, studierten und liebten über 10 000 Kubaner*innen in der DDR. Was wissen Sie über das damalige Leben der Vertragsarbeiter*innen?

Zugegeben, ich weiß nicht wirklich viel über deren damalige Situation. Aber das wenige, was ich weiß, ist: Einige von ihnen wurden Opfer von Rassismus. Es wurden Einwanderer getötet – und der Tod meines Onkels war nicht der einzige rassistische Mord.

Können Sie kurz zusammenfassen, was am Todestag Ihres Onkels geschah?

Am 12. August 1979 war mein Onkel Delfin Guerra in seinem Wohnheim in Merseburg, als ein Freund von ihm kam und erzählte, dass es in der Gaststätte »Saaletal« eine Schlägerei zwischen Kubanern und Deutschen gebe. Delfin wird als ein gutmütiger Mensch beschrieben und nicht als ein Unruhestifter. Als er am Ort des Geschehens ankam, saßen bereits einige mit Stöcken bewaffnete Deutsche in der Gaststätte und warteten. Als diese Gruppe immer größer wurde, traten Delfin und ein paar weitere Vertragsarbeiter die Flucht an, und sie begannen in Richtung des Flusses zu laufen. Doch als sie an der Brücke über die Saale ankamen, wartete dort schon eine andere Gruppe Deutscher auf sie.

Was passierte dann?

Da gibt es unterschiedliche Aussagen. Die einen sagen, dass mein Onkel, sein Kollege Raúl García Paret und die anderen aus Verzweiflung von der Brücke ins Wasser gesprungen sind. Anderen Aussagen zufolge wurde mindestens einer von ihnen hineingeworfen. Es heißt, der Wasserstand der Saale sei zu dieser Jahreszeit nicht besonders tief gewesen. Das hinderte die versammelten Deutschen auf der Brücke aber nicht daran, trotzdem mit Steinen nach ihnen zu werfen.

Einen Tag zuvor war es in der Gaststätte »Saaletal« bereits zu gewalttätigen Auseinandersetzungen gekommen, bei denen Deutsche kubanische Vertragsarbeiter niedergeschlagen haben sollen. In einem Vermerk bezeichnete das Ministerium des Inneren die von Ihnen geschilderte Situation daher als einen »Racheakt« der kubanischen Vertragsarbeiter. Weiter hieß es: »Gegen die am Vorkommnis vom 12.08.1979 beteiligten DDR-Bürger werden keine Ermittlungsverfahren eingeleitet, da sich ihre Handlungen auf die Abwehr richteten und demzufolge Notwehr vorlag.« Wie ging es weiter?

Nur knapp zwei Wochen später wurden die Ermittlungen schon wieder eingestellt. Die restlichen kubanischen Vertragsarbeiter, die damals mit meinem Onkel zusammen nach Merseburg gekommen waren, wurden als »Unruhestifter« gebrandmarkt und zurück nach Kuba abgeschoben. In Delfins Obduktionsbericht war ein »Tod aus wahrscheinlich unnatürlicher Ursache« vermerkt.

Zum Zeitpunkt seines Todes war Delfin Guerra 18, das andere Todesopfer, Raúl García Paret, drei Jahre älter.

Ich habe meinen Onkel niemals kennenlernen können, weil ich zu dem Zeitpunkt, als er starb, noch gar nicht geboren war. Aber ich habe immer den Schmerz und die Erinnerung innerhalb meiner Familie und vor allem den meiner Mutter mitbekommen, die ja zu denen gehörte, die ihn großgezogen haben. Ich erinnere mich, dass ein Bild von ihm in unserem Haus hing und ich meine Mutter immer fragte, wer er eigentlich gewesen ist. Damals hieß es immer nur, dass mein Onkel nach Deutschland gegangen sei, um zu studieren – und dass er dort nur einen Monat blieb, weil er in einem Fluss ertrunken war.

Wie haben Sie dann von den Todesumständen Ihres Onkels erfahren?

Die ganze Wahrheit habe ich erst erfahren, als vor zwei Jahren plötzlich ein Mitglied der Initiative 12. August aus Deutschland vor meinem Haus stand und mir und meiner Familie alles erzählte, was mit meinem Onkel geschehen war. Damals fühlte ich Wut und Schmerz und eine große Ohnmacht, weil ich nichts tun konnte. Aber gleichzeitig fühlte ich auch einen gewissen Frieden.

Warum?

Weil ich endlich die Wahrheit über Delfins Tod erfahren hatte.

Erst nachdem Journalist*innen zu dem Fall recherchiert hatten, beschäftigte sich auch die Staatsanwaltschaft in Halle/Saale noch einmal mit den Vorgängen. Diese kam 2016 aber zu dem Schluss, dass es keinen Anfangsverdacht für einen Mord gebe. Was denken Sie dazu?

Ich denke, dass nicht ausreichend ermittelt wurde und dass es deshalb niemals Gerechtigkeit für Delfin und Raúl geben wird.

Die Initiative 12. August setzt sich seit vier Jahren für die Aufklärung der Geschehnisse ein. Von der Stadt Merseburg verlangt sie außerdem die Errichtung eines Gedenkortes. Erheben Sie als Angehöriger Forderungen?

Ich wünsche mir, dass sein Andenken weiterhin in Erinnerung gehalten wird. Damit auch andere Menschen die Folgen von Rassismus sehen und erkennen. Denn Rassismus ist ein abscheuliches Gefühl, das es in vielen Ländern gibt und das bereits zahlreiche Menschen ihr Leben gekostet hat.

Welche Rolle spielt der 12. August in Ihrer Familie?

Dieses Datum wird von der ganzen Familie mit Schmerz und Traurigkeit erinnert. Immer wenn der 12. August naht, wird meine Mutter sehr traurig. Denn nur zwei Tage vorher starb ihr Vater Marino, der ja auch der Vater von Delfin war. Einen Tag vorher starb ein für Delfin sehr wichtiger Onkel, der ihn auch mit großgezogen hatte, und am 12. August schließlich Delfin selbst. Für unsere Familie ist das eine sehr schmerzhafte Zeit, weil es drei aufeinanderfolgende Todestage sind.

Interview


Yasmani Torriente Guerra, 36, lebt in Havanna und ist Musiker. Er spielt Klarinette in der Musikkapelle von San José de las Lajas und ist Sänger beim Coro Polifonico de la Habana. Sein Onkel Delfin Guerra kam 1979 als Vertragsarbeiter nach Merseburg und dort nach nur einem Monat unter bis heute ungeklärten Umständen ums Leben.

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