Chemnitzer Gefängnis: Aus dem »Vogelkäfig« in den Westen

Im ehemaligen Kaßberg-Knast wird gleichermaßen an den Häftlingsfreikauf in der DDR wie an NS-Opfer erinnert

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 10 Min.

Das Flugzeug, das Michael Schlosser ins Gefängnis brachte, hat einen schlanken, silberfarbenen Rumpf und Flügel mit einer Spannweite von sechs Metern. Es ist schwer vorstellbar, dass das raumgreifende Fluggerät über zwei Jahre hinweg in einer Garage in Dresden gebaut wurde, die Schlosser aus Sorge vor neugierigen Anwohnern stets penibel verschlossen hielt. Noch unglaublicher mutet die Vorstellung an, dass er im August 1983 einen Probeflug ausgerechnet auf einem sowjetischen Truppenübungsplatz in der Königsbrücker Heide unternahm und dabei nicht erwischt wurde. »Die seitlichen Zufahrten«, sagt er, »waren ja nicht bewacht.«

Schlossers Plan war, im November 1983 auf dem Luftweg aus der DDR in die Bundesrepublik zu fliehen. Zur Begründung sagt er, er habe eine Kfz-Werkstatt eröffnen wollen. 1972 stellte er einen Gewerbeantrag – just in dem Jahr, in dem in dem Land viele kleinere private Betriebe verstaatlicht wurden. Geschlagene acht Jahre hätten ihn die Behörden hingehalten, dann kam die Ablehnung. Frustriert beschloss er, dem Land den Rücken zu kehren und seinen Traum anderswo zu verwirklichen. Inspiriert von der Flucht zweier Familien über die Mauer mit einem selbst gebauten Heißluftballon im Herbst 1979, machte er sich an den Bau eines Flugzeugs. Allerdings wurde der Plan kurz vor Vollendung von der Staatsmacht vereitelt. Schlosser wurde verhaftet, wegen geplanter Republikflucht verurteilt und inhaftiert. Zunächst saß er fünf Monate im Gefängnis der Staatssicherheit in Dresden, dann ein gutes halbes Jahr in der Strafanstalt Bautzen I. Ende Oktober 1984 wurde er schließlich in das Kaßberg-Gefängnis in Karl-Marx-Stadt verlegt, die Stadt, die jetzt wieder Chemnitz heißt.

39 Jahre später steht Schlosser dort an einem regnerischen Tag im ehemaligen Gefängnishof neben seinem Flugzeug. Der 79-Jährige ist nicht mehr Häftling, sondern Zeitzeuge: in einem Gedenkort, der an diesem Tag mit einem Festakt eingeweiht wird. Er erinnert vorrangig an ein sehr spezielles und fragwürdiges Kapitel der deutsch-deutschen Beziehungen: den Freikauf von Häftlingen aus der DDR durch die Bundesrepublik, bei dem der Knast auf dem Kaßberg eine besondere Rolle spielte. Es sei das »Tor in die Freiheit« gewesen, formulierten es Leidensgefährten Schlossers oft. Ab 1966 wurden die Betroffenen in der vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) betriebenen Haftanstalt in Karl-Marx-Stadt gesammelt, bevor es im sogenannten »Wunderbus« über die Grenze und in das Notaufnahmelager Gießen ging. Zuvor wurden sie in der Regel einige Wochen lang »aufgepeppelt«, wie es in leicht fehlerhafter Rechtschreibung in Stasi-Unterlagen hieß. »Im Westen sollte man nicht sagen, Inhaftierte in der DDR seien geschunden wurden«, sagt Schlosser, der 44 Tage auf dem Kaßberg einsaß, bevor er am 5. Dezember 1984 in die Bundesrepublik entlassen wurde. Es war die erträglichste Phase seiner gesamten Haftzeit: »Die Verpflegung war deutlich besser«, sagt er, »und man wurde sogar wieder mit seinem Namen angesprochen.« Sogar Westzigaretten gab es für die Ausreiseanwärter: In einer Musterzelle im neuen Gedenkort liegt neben einem historischen »Neuen Deutschland« eine Packung Marlboro auf dem Tisch.

Dafür ein paar Westmark auszugeben, lohnte sich für die DDR; schließlich gab es anschließend ein Vielfaches zurück. Zwischen 45 000 und 96 000 D-Mark habe die BRD pro Häftling gezahlt, sagt Peter Wellach, Kurator der Ausstellung. Schon für die ersten acht Freigekauften übergab ein Westberliner Anwalt 1963 unter abenteuerlichen Bedingungen am Bahnhof Friedrichstraße 205 000 Mark in bar. Die Acht standen auf einer ursprünglich 1000 Namen umfassenden Liste potenzieller Freikaufkandidaten. Vier von ihnen gingen in den Westen, vier blieben in der DDR. Danach wurden bis zum Ende der DDR insgesamt 31 775 Menschen freigekauft, ein Drittel der in der DDR aus politischen Motiven Verurteilten. Die genaue Summe wurde jeweils von Anwälten ausgehandelt, deren prominentester der DDR-Jurist Wolfgang Vogel war. Jeder einzelne Freikauf wurde von MfS-Chef Erich Mielke oder einem Stellvertreter persönlich genehmigt.

Wie die Transaktionen zu bewerten sind, ist umstritten. Er selbst finde das eine »ganz schwierige Frage«, sagt Wellach. Aus Sicht der Betroffenen bedeutete der Freikauf das Ende von Schikanen und persönlicher Unbill. Die Bundesrepublik sah die Freikäufe als Ausdruck »humanitärer Bemühungen«; so sei auch die mit dem Thema befasste Regierungsabteilung bezeichnet worden, sagt Wellach. Die DDR wiederum rechtfertigte die Zahlungen mit den Kosten für die Ausbildung der Freigekauften. MfS-Chef Mielke machte zudem eine zynische Rechnung mit Blick auf reduzierte Kosten für den Strafvollzug auf: »Wir sind natürlich keine Dummköpfe und lassen unsere Gefängnisse voll mit irgendwelchen Schmarotzern, die wir sowieso nicht brauchen«, sagte er vor MfS-Mitarbeitern; die Frage müsse »politisch durchdacht und entschieden« werden. Entscheidend für die DDR dürfte aber ökonomisches Kalkül gewesen sein: die erheblichen Deviseneinnahmen. Insgesamt nahm das Land 3,4 Milliarden Westmark mit dem Freikauf ein. Wellach verweist auf Schätzungen, wonach die DDR dadurch vier Jahre länger wirtschaftlich überlebensfähig gewesen sei. In der neuen Ausstellung seien Besucher eingeladen, ihre eigene Bewertung der Vorgänge zu artikulieren, fügt der Kurator hinzu.

Die Schau befindet sich dabei an einem historischen Ort: im Hafttrakt B des einstigen Gefängnisses, der in Anspielung auf den am Freikauf beteiligten Anwalt Vogel auch als »Vogelkäfig« bezeichnet wird. Es ist der einzige Teil des ursprünglichen Gefängnisses, der noch als solches zu erkennen ist. Der Bau war nach Ende der DDR vom Freistaat Sachsen weiter als Justizvollzugsanstalt genutzt, im Jahr 2010 aber aufgrund von Mängeln beim Brandschutz geschlossen worden. Später wurde das Areal an einen privaten Chemnitzer Immobilienentwickler verkauft, der den größeren Teil des Gefängnisgebäudes zu gediegenen Wohnungen umbaute. Dort, wo früher kleine, vergitterte und in der DDR-Zeit teilweise sogar mit undurchsichtigen Glasbausteinen zugesetzte Fensteröffnungen waren, öffnen sich heute große Glasfronten mit Balkonen auf den einstigen Gefängnishof.

Dass immerhin Block B erhalten und zur Gedenkstätte umgebaut wurde, ist dem Engagement von Chemnitzer Bürgern zu danken, die 2011 einen Verein gründeten und Vorträge, Ausstellungen sowie Führungen durch den Zellentrakt organisierten. Das Interesse der Öffentlichkeit sei »riesig« gewesen, sagt Vereinschef Jürgen Renz. Die Bemühungen, dem mit einer Gedenkstätte gerecht zu werden, stießen aber auf viele Hindernisse. Lange fand sich kein Investor für das Areal. Für die Aufnahme in das 2012 überarbeitete sächsische Gedenkstättengesetz kam der Verein knapp zu spät, was Folgen für die Finanzierung hatte. Von einer langen »Zeit der Ungewissheit« spricht Renz. Im Mai 2017 wurde immerhin ein erster Gedenkort neben einem erhaltenen Wachturm an der ehemaligen Gefängnismauer errichtet. Später sagten der Bund und der Freistaat Sachsen finanzielle Unterstützung zu. Nach Angaben von Barbara Klepsch, der für Gedenkstätten zuständigen sächsischen CDU-Ministerin für Kultur und Tourismus, kamen 2,8 Millionen Euro Fördergeld aus Dresden und 1,2 Millionen aus Berlin. 2021 erfolgte der Spatenstich und danach innerhalb von nur zwei Jahren der Aufbau der Gedenkstätte, die vom Verein »Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis« getragenen wird, als Mieter im ehemaligen Hafttrakt B residiert und deren Betriebskosten der Freistaat für zunächst 20 Jahre trägt. »Das ist ein ganz großer und emotionaler Tag«, sagte Vereinschef Renz unmittelbar vor der Eröffnung.

Zu den Zeitzeugen, die aus diesem Anlass nach Chemnitz gekommen sind, gehört auch Günter Wach. Er ist nur fünf Jahre älter als Michael Schlosser, kennt das Gefängnis auf dem Kaßberg aber aus einer gänzlich anderen Zeit. Als der damals sechsjährige Junge mit seiner Mutter durch dessen Tor eingelassen wurde, nahmen ihn Gestapo-Leute in Empfang. Für seinen Vater Curt Wach, den beide am 5. März 1945 kurz besuchen durften, war der Kaßberg kein »Tor in die Freiheit«, sondern hätte eigentlich eine »Durchgangsstation auf dem Weg in den Tod« sein sollen, wie es in der neuen Ausstellungen an einer Stelle heißt. »Als wir uns verabschiedeten«, erinnert sich der Sohn, »sagte ein Wachmann zu mir, ich solle mir meinen Vater noch einmal anschauen. Er fügte hinzu: Den siehst du nicht wieder.«

Das Schicksal von Curt Wach zeigt, dass der Kaßberg-Knast längst nicht nur Schauplatz des Häftlingsfreikaufs in der DDR war, sondern eine längere und facettenreichere Geschichte hat. 1876 zunächst als Ort eines Strafvollzugs mit humanistischem Anspruch errichtet, der nach den Worten von Kurator Wellach »auf Resozialisierung statt auf Rache« zielte, wurde er nach 1933 Teil des Repressionsapparats im NS-Staat. Hier wurden Gegner des Regimes inhaftiert und Menschen, die wegen ihrer politischen Einstellung, Religion oder aus anderen Gründen missliebig waren. Enrico Hilbert von der Vereinigung der Verfolgten des Nationalsozialismus – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) in Chemnitz hat viele Schicksale von Menschen recherchiert, die in der NS-Zeit auf dem Kaßberg inhaftiert waren, etwa von Max Saupe, Stadtverordneter der KPD, der schon kurz nach der Machtergreifung der Nazis in dem Gefängnis in »Schutzhaft« genommen wurde, später ins Konzentrationslager Sachsenburg kam und nach einiger Zeit auf freiem Fuß in die KZ Sachsenhausen und Bergen-Belsen, wo er 1945 starb. Für Menschen wie ihn sei der Kaßberg das »Tor in die Lager, die Strafbataillone und den Tod« gewesen, sagt Hilbert.

Dass es das nicht auch für Curt Wach wurde, der ebenfalls im kommunistischen Widerstand aktiv war, von den Nazis im Zuchthaus Waldheim und in Sachsenburg inhaftiert und im Kaßberg-Knast gefoltert wurde, verdankt dieser ironischerweise den alliierten Luftangriffen auf Chemnitz. Die Industriestadt wurde in der Nacht vom 5. zum 6. März 1945 massiv angegriffen, nur Stunden nach dem Besuch von Sohn und Ehefrau im Gefängnis. Auch dieses wurde von einer Luftmine getroffen. Im Durcheinander der Bombennacht konnten Wach und andere fliehen. Die NS-Behörden forderten die Entkommenen danach auf, sich zu stellen, und sicherten Strafverschonung zu, sagt Hilbert. Manche kamen dem nach, andere wurden von Gestapo und SS aufgegriffen. Sieben von ihnen wurden am 27. März 1945 im Hutholz, einem Waldstück am Stadtrand, hingerichtet. Wach dagegen überlebte die Zeit bis zur Befreiung in einem Versteck im eigenen Haus in einem kleinen Ort nahe Chemnitz. In dem verborgenen Raum hätten Vater und Sohn so viel Zeit miteinander verbracht wie selten davor und danach, erinnert sich Günter Wach, dessen Vater später erster Nachkriegs-Bürgermeister von Hainichen wurde, dann Vorsitzender des Rates des Bezirkes Potsdam und schließlich ab 1953 DDR-Minister für Handel und Versorgung. Seine Amtszeit endete 1959, vier Jahre vor dem Beginn des Häftlingsfreikaufs.

Im neuen Gedenkort wird an die unterschiedlichen Nutzungen des Gefängnisses im Laufe der Geschichte auf verschiedenen Etagen des Hafttrakts erinnert: im untersten Geschoss an den Freikauf, darüber an die Nutzung als U-Haftanstalt des MfS und zuvor der sowjetischen Militärbehörden, ganz oben an die NS-Zeit. Auf jeder Etage sei je eine »Schauzelle« eingerichtet worden, die einen Eindruck von den jeweiligen Haftbedingungen geben soll, sagt Kurator Wellach. Er weist darauf hin, dass nur wenig ursprüngliche Substanz erhalten sei. Zum einen änderte sich die Gefängniseinrichtung immer wieder und entsprach zuletzt bundesdeutschem Standard. Zum anderen habe der Denkmalschutz gefordert, den baulichen Zustand aus dem Jahr der Erbauung 1876 wieder herzustellen und spätere Anbauten zu entfernen. »Wir erzählen die Geschichte in einem Gebäude, das mehrfach überformt wurde«, sagt er. Selbst die Türen der Schauzellen stammen aus einer entsprechenden Sammlung in Berlin-Hohenschönhausen.

Wesentlicher Inhalt der 1900 Quadratmeter großen Ausstellung sind freilich ohnehin nicht Gefängnismobiliar und -architektur. »Wir wollten den Hafttrakt nicht rekonstruieren wie eine Filmkulisse«, sagt Wellach. Vielmehr habe man sich auf die Schicksale einstiger Inhaftierter konzentriert. Sie werden in 32 Zellen auf Schautafeln mit Fotos und historischen Dokumenten geschildert. Es gehe um »Biografien von starken Menschen, auf die Diktaturen zugreifen, weil sie ›Nein‹ sagen«, formuliert Wellach. Zu diesen gehören neben dem aus der DDR freigekauften Flugzeugbauer Michael Schlosser auch etliche Leidensgefährten von Curt Wach, die in der NS-Zeit im Kaßberg-Gefängnis einsaßen. Damit, sagt Enrico Hilbert, wird in Chemnitz eine schmerzliche Lücke geschlossen: »Nach vielen Jahren gibt es endlich wieder eine Ausstellung in unserer Stadt, die auch die NS-Opfer gebührend würdigt.«

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