Nahost: Die Unfähigkeit zu trauern

Wo bleibt die Empathie bei den Debatten um Nahost?

Vergangene Woche war ich bei den Karlsruher »Händel-Festpielen«, der Countertenor Valer Sabadus trat mit dem Klassikquintett Spark auf. Händel, Vivaldi waren zu hören, auch Leichteres wie Depeche Mode oder das großartig interpretierte Stück »Seemann« von der Band... Ich flüsterte den Namen meiner Nachbarin zu, wurde dann aber eines Besseren belehrt: Oliver Reidel habe das Stück geschrieben, so die Ansage. Ich war verwundert. Hatte die Band, die ich meinte, das Stück gecovert?

Ein paar Tage zuvor hatte sich beim Abschluss der Berlinale ein Antisemitismus-Eklat ereignet. Der Vorwurf bezog sich unter anderem auf die Äußerung des palästinensisches Filmemachers Basel Adra, der gesagt hatte, es falle ihm schwer, in Berlin zu feiern, während gleichzeitig sein Dorf von Bulldozern dem Erdboden gleich gemacht werde und Tausende seiner Landsleute getötet würden. Eigentlich sollte man sich in den Mann hineinversetzen können. Und zwar unabhängig davon, wie man politisch bewertet, was gerade in Nahost passiert. Offenbar ist auch sein israelischer Kollege Yuval Abraham, mit dem zusammen er für »No Other Land« als besten Dokumentarfilm ausgezeichnet wurde, antisemitisch. Abraham wies darauf hin, dass er und Adra unter unterschiedlichen Rechtssystemen leben (»Ich unter Zivilrecht, Basel unter Militärrecht«) und forderte »eine politische Lösung«. Den Begriff »Apartheid« hätte ich nicht benutzt. Aber gibt mir das das Recht, dem Israeli Yuval Abram dessen Verwendung anzukreiden? Empathie kann auch in der Politik nicht schaden. Gilt auch für Politikerinnen, die erst klatschen und sich dann empört zeigen.

Interessant übrigens, was sich da gerade verschiebt. Die dpa spricht jetzt schon von »israelkritischen« (nicht »antisemitischen«) Aussagen auf der Berlinale, denen man entgegentrete müsse. Im Ernst? Wenn ich Netanjahu und die Rechtsradikalen in seinem Kabinett kritisiere, bin ich dann raus? Oder nur dann, wenn ich nicht vorher habe durchblicken lassen, dass mir bewusst ist, wer am 7. Oktober Täter und wer Opfer war? Was ich unbedingt tun würde.

Christoph Ruf

Christoph Ruf ist freier Autor und beobachtet hier politische und sportliche Begebenheiten.

Auch ich bin entsetzt, wie viele Leute die Unmenschlichkeit der Hamas offenbar für so etwas wie edlen Widerstandskampf halten und hätte mir gewünscht, dass Hunderttausende in den Tagen nach dem 7. Oktober auf die Straße gehen. Trauer zeigen, das hätte jeder gekonnt, egal, wie man zum Nahostkonflikt steht. Anders gesagt: Wer meint, was am 7. Oktober geschah, sei durch irgendetwas relativierbar, kann mir gestohlen bleiben. Und wer findet, dass das, was gerade in Gaza passiert, noch verhältnismäßig sei, ebenfalls. Eigentlich könnte jeder entsetzt sein über den Tod so vieler Menschen in Gaza. Erstaunlich, wie viele Leute mir gerade gestohlen bleiben können.

Warum es im Oktober keine Demos gab? Ich hätte da einen Verdacht: In Deutschland positioniert man sich dann besonders gerne, wenn die vermeintlich eigene Meinung durch fünf Meinungsumfragen und sechs Talkshows als mehrheitsfähig gelten kann. Das dauert. Es gibt ja auch Intellektuelle, die erst 2024 gemerkt haben, dass es die AfD gibt. Wer gegen den Strom schwimmt, findet vielleicht die Quelle, kann dafür aber kein deutscher Mainstream-Intellektueller sein. Oliver Reidel, das habe ich dann gegoogelt, ist Bassist von Rammstein. Sicher nur ein Zufall, dass der Bandname nicht ausgesprochen wurde.

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