»Was soll daran falsch sein, auf Diplomatie zu setzen?«

Ingo Schulze, Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, über Krieg, Literatur und Engagement

  • Interview: Raul Zelik
  • Lesedauer: 14 Min.
23. Februar 2021: Der Autor Ingo Schulze in der Akademie der Künste in Berlin-Mitte
23. Februar 2021: Der Autor Ingo Schulze in der Akademie der Künste in Berlin-Mitte

Herr Schulze, Sie waren, wie Sie es im Titel Ihres neuen Buches formuliert haben, »Zu Gast im Westen«. Ist das alte Ruhrgebiet der neue Osten: strukturschwach und abgehängt?

Auch wenn ich schon länger nicht mehr im Osten wohne, habe ich doch eher die Unterschiede gesehen. Ich war überrascht, wie wohlhabend, ja reich das Ruhrgebiet ist. Das konzentriert sich allerdings an bestimmten Orten, tendenziell eher im Süden, an der Ruhr. Deshalb ist dann der Kontrast zu vielen nördlichen Teilen eher groß. Im Osten gibt es nicht diesen Reichtum, aber auch nicht diesen Unterschied. Die Strukturveränderungen, die sich im Ruhrgebiet über Jahrzehnte hinweg entwickelt haben, geschahen im Osten gewissermaßen von heute auf morgen. In der Braunkohle waren es 1989 noch circa 160 000 Beschäftigte, ein Jahr später nur noch 65 000, fünf Jahre später noch 19 000. Im Ruhrgebiet geht das vom Höhepunkt 1957 (etwa eine halbe Million Arbeiter) bis zum Ende 2018.

Zwei weitere große Unterschiede: Die Bevölkerung der DDR wurde 1990 kollektiv enteignet, und die Entwertung der Biografien war aggressiver.

Im Ruhrgebiet war es nicht die materielle Enteignung, weil ja die Betriebe privat oder staatlich waren; aber die Mitbestimmung war groß, in der Kohle wie beim Stahl. Vielleicht noch ein Unterschied: Wer sich im Ruhrgebiet bewegt, erlebt eine Gesellschaft, die seit 150 Jahren von Einwanderung lebt. Viele sind auch weg- oder weitergezogen. Geht man ins Konzert oder ins Museum, teilt es sich dann schnell wieder auf. Das Ruhrgebiet ist kleiner und vergleichsweise homogener als Ostdeutschland. Aber auch hier treffen die Probleme härter aufeinander als anderswo – das verbindet, auch wenn die Ursachen verschieden sind.

Interview

Ingo Schulze wurde 1962 in Dresden geboren, arbeitete nach seinem Studium zwei Jahre als Dramaturg am Landes­theater in Altenburg und war 1990 Mitgründer des »Altenburger Wochen­blatts«, das als Zeitung zur demo­kratisch-sozialistischen Trans­forma­tion der DDR beitragen wollte. Nach der Abwicklung des Blatts widmete sich Schulze ganz der Literatur. 1997 erschien sein Erzählband »33 Augenblicke des Glücks«, ein Jahr später der Roman »Simple Storys«. Danach folgten u. a. die Romane »Adam und Evelyn« (2008), »Peter Holtz« (2017) sowie »Die rechtschaffenen Mörder« (2020). Seitdem hat Schulze zahlreiche Literaturpreise gewonnen und war mehrfach für den deutschen Buchpreis nominiert.
 Schulze, der immer als engagierter Intellektueller aufgetreten ist, beteiligte sich 2018 an Sahra Wagenknechts Initiative »Aufstehen« und verfasste 2022 gemeinsam mit u. a. Gabi Zimmer und Michael Brie die Flugschrift »Neubeginn. Aufbegehren gegen Krise und Krieg«. Sein aktuelles Buch »Zu Gast im Westen. Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet« (Wall­stein) verfasste Schulze als »Metro­polen­schreiber Ruhr«; es liest sich wie eine literarische Regional­recherche. Seit vergange­nem November ist Schulze zudem Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt.

Ich frage auch deshalb nach Ihrer Wahrnehmung des Ruhrgebiets, weil wir verstehen wollen, was politisch im Osten gerade geschieht. Dieses Jahr gibt es mehrere Landtagswahlen, bei denen die AfD stärkste Partei werden dürfte. Wie viel hat das noch mit den ostdeutschen Entwertungs- und Enteignungserfahrungen zu tun?

Es gab im Ruhrgebiet ein Wahlplakat, auf dem ein ehemaliger Sozialdemokrat schrieb: Im Herzen Sozi, deshalb heute AfD. Die Verunsicherung gibt es auch da. Natürlich werden von der AfD Probleme aufgegriffen, bei denen weggesehen wird. Zum Beispiel der Zuzug von vielen Roma-Familien in die leer stehenden Häuser und Wohnungen im Norden des Ruhrgebiets. Die Roma kommen teilweise aus grässlichen Verhältnissen in Rumänien oder Bulgarien, da ist jede Bruchbude mit Strom, Wasser, Toilette, Heizung und Scheiben in den Fenstern ein Glück. Und als EU-Bürger bekommen sie Sozialleistungen. Das Ruhrgebiet ist immer ein Schmelztiegel der Integration gewesen, aber das hatte immer mit Arbeit zu tun. Die Situation heute ist ein neues Phänomen. Und da die Nachbarschaften und Kommunen überfordert sind, sich andere aber nicht zuständig fühlen, knallt es da oft.

Mit Ihrer Antwort akzeptieren Sie zumindest implizit, dass der Aufstieg der AfD etwas mit sozialen Abstiegsängsten und Missständen zu tun hat. Aber verschiedene Untersuchungen zeigen, dass die AfD-Anhängerschaft im Durchschnitt gut verdient und sich aus Rassismus für diese Partei entscheidet. Ist es eine gute Idee, argumentativ auf AfD-Wähler*innen zuzugehen?

Es sind sehr viele unterschiedliche Aspekte. Das Vermögen, das jemand in Ostdeutschland vererbt, ist ungefähr ein Zehntel bis ein Zwanzigstel von dem, was in westlichen Bundesländern vererbt wird. Das ist natürlich nur ein statistischer Wert, der nichts über den Einzelfall sagt. Wenn es sozial gerechter zugeht, wenn man keine Angst haben muss, den Zahnarzt oder die Wohnung nicht bezahlen zu können, ist man weniger anfällig für Demagogie. Einige Missstände, die die AfD anprangert, gibt es ja tatsächlich, aber die Partei zeigt auf die, die am schwächsten sind, die sich am wenigsten wehren können. Sie erklärt das nicht politisch, nicht ökonomisch, nicht sozial. Zum anderen gibt es etliche soziologische Studien, die besagen, dass vergleichbare Strukturen ganz ähnliche Resultate in Ost wie West zeigen.

Meiner Ansicht nach aber ist das Hauptproblem die Deutungshoheit. Die liegt in aller Regel in westlicher Hand: der Unis, der Medien, der Juristen etc. Die AfD hat es geschafft, den Osten positiv zu besetzen. Deshalb glaubt man, durch sie diesen Protest formulieren zu können, weil anderes nicht wirkt. Aber solche Generalisierungen sind immer auch fragwürdig. Es sind Aspekte, die mal mehr, mal weniger zutreffen. Wir sollten weniger über jene nachdenken, die die AfD wählen, als darüber, wie wir die Missstände unserer Gesellschaft beseitigen. Es geht für mich eher um diejenigen, die nicht mehr zur Wahl gehen, weil sie abgeschlossen haben mit der Gesellschaft. Soll ich jetzt aufzählen, worum wir uns kümmern sollten? Das weiß eigentlich jeder. Ich wusste eigentlich immer schon, dass es um Bildung, um Bildungsgerechtigkeit geht. Aber erst im Ruhrgebiet habe ich es wirklich begriffen.

In zwei Kapiteln Ihres Buches besuchen Sie Schulen. Vielleicht mögen Sie kurz schildern, was Sie dort beschäftigt hat?

Das lässt sich schwer zusammenfassen, aber die beiden Schulen, über die ich jeweils schreibe, waren für mich vielleicht die prägendsten Erlebnisse. In Duisburg-Marxloh, wo wenige Kinder zu Hause Deutsch sprechen, gibt es seit 15 Jahren den Versuch, über Musik den Kindern etwas zu vermitteln, das sie kaum kennen. Es sind Komponisten wie Schönberg, Bartok, Ligeti oder auch Bach, nach deren Musik sie tanzen oder die sie mit einfachen Instrumenten nachspielen. Dabei geht es darum, gemeinsam aufmerksam zu sein, um überhaupt beginnen zu können. Sie üben so, auf die anderen zu achten, den eigenen Part im Zusammenspiel mit anderen besser zu begreifen. Es ist eine Arbeit, die Fundamente vermitteln will, die wir als gegeben, ja mitunter sogar als natürlich voraussetzen, die viele Kinder nicht haben. Ganz abgesehen davon, dass sie alles auch noch übersetzen müssen.

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Es sind lange Kapitel geworden, ich kann das nicht zusammenfassen. Aber ich bin noch nie so sehr davon überzeugt gewesen, dass wir die Gesellschaft nur verändern können, wenn wir uns um die Kindergärten und Schulen viel besser kümmern, kleinere Gruppen und Klassen schaffen, für eine spezifischere Ausbildung der Lehrer sorgen. Ich habe gelernt, dass so viel möglich ist, aber dass es oft nur ein Tropfen auf den heißen Stein bleibt.

Noch einmal zurück zu der Frage, wie wir dieser feindlichen, rechten Stimmung politisch begegnen können. In Ihrem letzten Roman »Die rechtschaffenen Mörder« erzählen Sie die Geschichte Nobert Paulinis, der in der DDR ein Antiquariat führt, in Konkurs geht und sich Pegida annähert. Das Verhältnis Ihres Alter Ego Ingo Schultze zu Paulini wurde mir beim Lesen nie ganz klar. Er ist sein Nebenbuhler, er versteht ihn nicht, er kann ihn aber auch nicht verurteilen.

Man kann nicht über den Inhalt des Buches sprechen, ohne über seine Struktur zu reden. Der erste Teil stellt sich als das Manuskript desjenigen heraus, der den zweiten Teil erzählt. Den dritten Teil spricht die Lektorin, die Manuskript und den Autor und seine Erzählung kennt. Mir ging es nicht nur darum, eine womöglich fragwürdige Entwicklung unter Büchermenschen aufzuzeigen, sondern auch darum, wer darüber urteilt, dass es so oder so ist. Bei mir wird jener Schultze (im Unterschied zu mir mit »t«), jener Schriftsteller, zur fragwürdigsten Figur. Wer darf die Geschichten schreiben, wer schreibt die Geschichte? Paulini ist verbittert, er ist kauzig, er hat auch schlimme Sprüche drauf, aber dass er rechtsradikal geworden ist, wage ich zu bezweifeln.

Auch das habe ich beim Lesen damals nicht wirklich durchdrungen: Was bedeutet Ihre Distanzierung von der Autorenposition? Wenn man, wie ich, eine politische Folie über den Text legt, dann wäre die Schlussfolgerung ja: »Maße dir nicht an, über deine Figuren (und ihr Milieu) zu urteilen.« In Ihrer Rede zur Verleihung des Dresdner Kunstpreises 2021 haben Sie etwas in diesem Sinne gesagt: »Sie entscheiden, wie über den Osten gedacht, gesprochen und geurteilt wird.«

Für mich geht es auch darum, die Leser zu Gesprächspartnern zu machen, nicht zu Empfängern einer Botschaft. Und Gesprächspartner werden Leser eigentlich nur, wenn der Erzähler zumindest potenziell auch infrage gestellt werden kann, sodass ich als Leser meine eigenen Erfahrungen mobilisieren muss, um mir ein Urteil zu bilden. Als Autor gilt es für mich auch immer zu signalisieren: Was ich euch erzähle, ist vielleicht stimmig, aber könnte man es nicht auch anders sehen? Ich würde behaupten, das in jedem meiner Bücher praktiziert zu haben, anfangs vielleicht unbewusst, aber doch sehr bald bewusst. Ich finde dieses »Training« mit jedem Tag wichtiger. Es geht nicht nur darum, eine Story zu erzählen, sondern auch die Voraussetzungen dieser Story möglichst klarzumachen, damit die Leser souverän mitreden können.

Spiegelt sich in »Die rechtschaffenen Mörder« etwas von Ihrem Verhältnis zu Dresden? Sachsen ist die Hochburg des neuen Rechtsextremismus, zugleich sind Sie der Stadt nach wie vor sehr verbunden.

Dresden hat auch viele Gegenkräfte, da ließe sich einiges aufzählen. Ende März saß ich auf einer Bühne mit Stephan Reichelt, der sich in Bayern um das Kirchenasyl für Menschen kümmert, die ungerechtfertigterweise abgeschoben werden sollen, meistens kommen sie aus Syrien oder Afghanistan. Es ist katastrophal, wie wir mit diesen Menschen umgehen. Die Abschiebungen nach Bulgarien beispielsweise sind der blanke Horror, das ist Folter. Wir brauchen gar keine AfD, um deren schlimmste Politik zu machen. Das macht mich so wütend!

Also keine Wut auf Dresden, sondern auf den westdeutschen Kapitalismus, der diese Verhältnisse produziert hat?

Ich bin überzeugt, dass auch im jetzigen System sehr viel zum Besseren verändert werden kann, von der Asylpolitik über Sozialwohnungen bis zu Bildung, Gesundheitswesen etc. Es wäre lächerlich, auf eine einzelne Stadt wütend zu sein. Das ist wirklich absurd, zu welch einer Projektionsfläche mitunter Dresden gemacht wird.

Kommen wir auf »Zu Gast im Westen« zurück. Ist dieses Buch eine Rückkehr zu Ihren Anfängen? Nach 1989 wurden Sie in Altenburg ja, eher ungewollt, für einige Zeit zum rasenden Reporter. »Zu Gast im Westen« hat dieses Reportagenhafte: Die Texte sind Begegnungen mit Menschen.

Ja, das stimmt. Ich fühlte mich plötzlich wieder wie Anfang 1990, nur dass ich diesmal der von außen war, der Gast, der versucht zu verstehen, was hier passiert. In Altenburg war ich einer von denen, die Öffentlichkeit schaffen wollten für den neuen Staat, der demokratisch und sozialistisch sein sollte.

Selbstironisch könnte ich einwerfen: Wie wir heute in der nd.Genossenschaft …

Anfang 1990 ging es um die politischen Kräfte, die da entstanden, die Begleitung der Wahlen; es ging auch um Geschichten, die jetzt erst erzählt werden konnten, häufig von Lehrern. Mit der Währungsunion kam für mich eine Krise, da ich nicht mehr wusste, was ich schreiben sollte. Denn die Veränderungen waren so immens, dass sich das zwar im einzelnen Betrieb zeigen ließ, aber da ging es bestenfalls darum, hier und da auf Korruption aufmerksam zu machen. Mitunter haben wir auch auf die Falschen draufgehauen …

»Zu Gast im Westen« ist überraschend ein heiteres Buch, die Begegnungen sind eigentlich durchweg erfreulich. Das hat natürlich viel mit Ihrer Persönlichkeit zu tun: Sie sind ein freundlicher Mensch. Aber kann diese Art des Schreibens nicht auch zu einem Problem werden? Muss man den Menschen, denen man als Autor begegnet, nicht auch scharf gegenüber werden, wenn wirklich die ganze Geschichte erzählt werden soll?

Das kann schon sein, aber darum ging es mir nicht. Wenn mich jemand eingeladen hat, dann bin ich der Einladung gefolgt. Das wurde natürlich immer mehr – ich hätte noch viele Monate oder Jahre damit verbringen können, den Einladungen zu folgen und darüber zu schreiben. Ich hatte nicht das Gefühl, irgendwelchen Geheimnissen auf den Grund gehen zu müssen, eigentlich lag alles an der Oberfläche. Ein älterer Herr aus Gelsenkirchen, der mich einlud, um mir seine Stadt zu zeigen. An der Geschichte war eigentlich überhaupt nichts Besonderes, aber für ihn war alles bedeutungsvoll, eine großartige oder schmerzliche Erinnerung, er wollte einfach darüber erzählen, das hatte ihm noch gefehlt.

Natürlich habe ich manches, was ich gesehen habe, nicht aufgeschrieben, weil das indiskret gewesen wäre. Ich wollte das Vertrauen ja auch nicht ausnutzen. Alle haben auch den Text über sich gelesen, bevor er ins Buch kam. Niemand hat etwas gestrichen, aber sehr viele Fehler wurden dadurch korrigiert.

Es geht in Ihrem Buch viel um produktive Ansätze: Wir treffen die offenbar engagierteste Schuldirektorin Deutschlands, den eher untypischen ehemaligen SPD-Abgeordneten Marco Bülow, einen ausgesprochen differenziert wirkenden Polizeipräsidenten a. D., und mehrmals verbringen wir schöne Nachmittage in der multinationalen Solidargemeinschaft Stadion. Spricht da Hoffnung raus oder doch eher die Sehnsucht?

Mit diesen Begriffen habe ich das noch gar nicht verbunden. Wahrscheinlich ist es so. Für mich waren die Reaktionen meiner Frau wichtig. Wenn wir abends am Telefon sprachen, sagte sie oft: »Mit wem du alles zusammenkommst, das würdest du in Berlin nie!« In Berlin bin ich in meinem Alltag gefangen, da gehe ich nicht in eine Schule oder frage, ob ich mich in den Orchestergraben setzen darf, oder lasse mir nicht erklären, wie ein Wasserwerk funktioniert oder wie man einen Fluss renaturiert. Ich bin ein wenig – wirklich nur ein wenig, aber immerhin – aus meinem sozialen Käfig herausgekommen.

Wir müssen auch noch über Ihr politisches Engagement der letzten Jahre sprechen. Sie haben sich 2018/19 bei »Aufstehen« engagiert. Die Initiative haben Sie als Chance gesehen, eine parteiübergreifende Bewegung für soziale Gerechtigkeit in Gang zu setzen. Im Rückblick war das eher ein Rohrkrepierer. Hat dieser Ausflug in die Politik bei Ihnen so etwas wie Bitterkeit hinterlassen?

Im Nachhinein muss ich sagen, dass es mir eine neue Welt eröffnet hat. Als wir Mitte März in der Kirche in Berlin-Pankow unsere Flugschrift »Den Krieg verlernen« präsentierten, die eine Hommage an Antje Vollmer ist, an deren ersten Todestag wir erinnern wollten, dachte ich: Wir hätten uns ohne dieses Engagement nicht gefunden. Es sind welche dazugekommen und welche weggegangen. Doch der Kern um Antje Vollmer ist damals zwar geschlossen aus der Bewegung ausgetreten, aber zum Glück zusammengeblieben.

Jetzt gibt es das Bündnis Sahra Wagenknecht. Halten Sie das für eine erfolgreiche Neuauflage von »Aufstehen«, oder wird es eher zum Sargnagel der gesellschaftlichen Linken? Im Moment steht die Partei in Umfragen ja gut da. Aber zugleich bekräftigt sie rechte Stimmungen, zum Beispiel in der Migrationsfrage.

»Aufstehen« gibt es ja noch. Und ich bewundere diejenigen, die da weiterkämpfen. Aber es ist nicht die gesamtgesellschaftliche Initiative, dieses Korrektiv zu den Parteien geworden, das wir angestrebt hatten. Ich glaube, Sahra Wagenknecht liegt Partei mehr als so eine freie Assoziation. Es ist tragisch, dass die Linke samt Wagenknecht von den Fragen der Immigration, der Corona-Pandemie und der Kriege so polarisiert wurde. Es erinnert mich strukturell an die Sozialdemokratie bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges.

Es wird entscheidend sein, welche Koalitionen sich nach den ostdeutschen Landtagswahlen bilden werden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die CDU, im Osten ja einst Blockpartei, ihre Koalitionsverbote aufrecht halten kann.

Wo sind wir in zehn Jahren, wenn es mit Krieg und ökologischer Krise so weitergeht wie zuletzt?

Friedenspolitik und Umweltpolitik gehören zusammen, das war eine zentrale Maxime für Antje Vollmer. Trotzdem würde ich sagen, dass es jetzt unbedingt ein Ende der Kriege in der Ukraine und in Gaza geben muss – und natürlich auch anderswo. Krieg ist nichts, was man hinnehmen darf. Ganz gleich, ob man dafür ist, Waffen zu liefern, oder nicht: Es muss so schnell wie möglich einen Verhandlungsfrieden geben. Anders will und kann ich mir die Zukunft nicht vorstellen.

In einem Interview mit dem »Stern« haben Sie unlängst Verhandlungen mit Russland gefordert, um das Abschlachten zu beenden. Ich habe noch nie verstanden, wie Freiheit und Grundrechte durch Artilleriegefechte verteidigt werden sollen. Aber vermutlich gab es viel Gegenrede. Wie waren die Reaktionen?

In dem Interview ging es um verschiedenste Themen, ich habe mir die Augen gerieben, dass sich die verkürzte Wiedergabe darauf konzentrierte. Das Interview hatte im Februar stattgefunden. Weil es verspätet erschien, kam es in ein Umfeld, das durch Rolf Mützenichs Rede – für die ich Mützenich dankbar bin – offenbar gereizt oder herausgefordert war. Aber was soll denn falsch daran sein, auch immer auf Diplomatie zu setzen? Absprachen und Verträge entstehen doch nicht von heute auf morgen. Wenn ich selbst oder meine Kinder an die Front müssten, wäre ich heilfroh, wenn jemand sagen würde, wir versuchen eine Lösung auch auf anderem Wege.

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