Bekennende Kirche: Stille Heldinnen in Berlin

Vor 90 Jahren gründeten Männer in Barmen die Bekennende Kirche, die an der Basis aber eine Frauenkirche war

  • Karsten Krampitz
  • Lesedauer: 10 Min.
Kirche im NS: Die Skulptur erinnert an die Barmer Erklärung, die zentrale theologische Äußerung der Bekennenden Kirche im Nationalsozialismus.
Kirche im NS: Die Skulptur erinnert an die Barmer Erklärung, die zentrale theologische Äußerung der Bekennenden Kirche im Nationalsozialismus.

Um von den Schrecken der Nazizeit authentisch erzählen zu können – gerade im Hinblick auf das, was jüdischen Menschen angetan wurde –, reicht die Sprache der Worte nicht aus, jedenfalls nicht der deutschen, die immer auch die Sprache der Täter ist. Begriffe wie »Rasse«, »Arier« und »Nichtarier« waren konstituierend für die antisemitische Gesellschaft des NS-Regimes. Die heute vergessene Schriftstellerin Etta von Oertzen hat es zumindest versucht. Sie hat über den Berliner Alltag der in Anspielung auf den gelben Judenstern »Besternte« Genannten im Herbst des Jahres 1941 geschrieben:

»Fünf Wochen sind vergangen, seit der Einführung des Sterns. Berlin hat sich bereits an die diffamierende Kennzeichnung gewöhnt. ›Besternte‹ müssen an den Türen der Elektrischen und Autobusse, an den Schaltern und Eingängen vor den ›Ariern‹ zurücktreten, müssen in den Bahnen aufstehen, sowie ein ›Arier‹ keinen Sitzplatz hat.« Es seien Belanglosigkeiten, verglichen mit den Schrecknissen später. Hin und wieder komme es vor, dass jemand ostentativ aufsteht und einem »Besternten« seinen Sitzplatz anbietet. Aber aufs Ganze gesehen, habe man die groteske mittelalterliche Brandmarkung akzeptiert, ist zur Tagesordnung übergegangen. »Die Kinder heften sich die herunterflatternden gelben Linden- und Ahornblätter an ihre Spielschürzen und spielen ›Jude‹ …«

Die 1972 verstorbene Etta von Oertzen gehörte der Bekennenden Kirche an. Die Theologin Katrin Rudolph zählt sie in ihrer Dissertation zum Helferkreis um den Juristen Franz Kaufmann. Der wegen seiner jüdischen Herkunft zwangspensionierte ehemalige Oberregierungsrat besorgte verfolgten Menschen gefälschte Ausweise und Lebensmittelkarten, auch half er bei der Suche nach Zufluchtsadressen. Die Nazis sollten ihn später schwer misshandeln und in Sachsenhausen ermorden.

Katrin Rudolph erzählt in ihrem Buch »Hilfe beim Sprung ins Nichts« (Metropol) davon. Bei der Recherche stieß die heutige Superintendentin von Zossen-Fläming in einem Züricher Archiv auf das Romanmanuskript von Etta von Oertzen. Darin erzählt die Autorin in der Figur der Jenny Jacobson vom Schicksal der Ingeborg Jacobsen, einer Protestantin jüdischer Herkunft und Mitarbeiterin im »Büro Pfarrer Grüber«, das bis Kriegsbeginn über 1000 Christen jüdischer Herkunft zur Ausreise verhalf. Wie Etta von Oertzen war auch Ingeborg Jacobsen Mitglied der Bekennenden Kirche; sie starb in Auschwitz. »Bilder aus dem Berliner Pogrom«, heißt es im Romantitel.

»Jenny Jacobson soll heute um 11 Uhr bei Pfarrer Zimmermann zu einer Besprechung sein. Als sie spät und hastig wie gewöhnlich einen Fahrdamm kreuzen will, kommt ein kleines Mädchen an sie heran: ›Tante Jude, bring mich bitte über den Damm, ich hab Angst.‹ Einen Augenblick zuckt es in Jennys Hand, sie will zuschlagen, sieht dann in das harmlose, etwas ängstliche Gesicht des Kindes, sieht hinüber zu der Gruppe der anderen Kinder, die laut und unbehelligt weiterspielen. Ein Schupo, der sie wegen Umgangs mit Ariern festhalten könnte, ist nicht in Sicht, so nimmt sie schnell die Hand der Kleinen und geht mit ihr über den Damm. Das Kind springt munter davon …«

Der Schweizer Theologe Karl Barth, die Pfarrer Martin Niemöller und Helmuth Gollwitzer, der von den Nazis ermordete Dietrich Bonhoeffer: Sie sind die bekannten Helden des Kirchenkampfes in der Nazizeit. Tatsächlich aber war die Bekennende Kirche, die sich vor 90 Jahren in Barmen gegründet hatte, eine von Männern, vornehmlich Pfarrern, geleitete Frauenkirche, sagt der Berliner Historiker Manfred Gailus. Drei Viertel ihrer Mitglieder in Berlin seien Frauen gewesen, die dann im Gottesdienst die politisch brisanten Fürbittenlisten verlesen hätten, für die Kollekte sorgten, Bibelkreise aufbauten und vor allem Lebensmittelmarken und Lebensmittel sammelten für im Untergrund lebende Juden und »nichtarische« Christen.

Elisabeth Schmitz (1893–1977)
Elisabeth Schmitz (1893–1977)

Eine dieser mutigen Frauen war die Geschichts- und Religionslehrerin Elisabeth Schmitz, deren Biografie Manfred Gailus verfasst hat. Seit Beginn der Hitlerdiktatur habe sie sich für verfolgte Juden und Jüdinnen engagiert. Immer wieder habe sie ihre Kirche aufgefordert, sich solidarisch zu erklären.

1935 verfasst Elisabeth Schmitz eine »Denkschrift zur Lage der deutschen Nichtarier«. Darin rechnet sie mit dem NS-Staat ab, aber auch mit dem Schweigen der Bekenntnistheologen: »Die Bekennende Kirche hat sich feierlich zu ihrem Wächteramt nach Hesekiel bekannt. Will sie sich nicht erbarmen über ihre Glieder und ihren Wächterruf erschallen lassen, um Augen zu öffnen und Gewissen wachzurütteln? Der Feind – die Vergötzung von Blut und Rasse – steht drohend unmittelbar vor der Mauer …« Und schon 1935 quält Schmitz eine dunkle Ahnung. Aus Schweden sei ein vernichtendes Wort berichtet worden: »Die Deutschen haben einen neuen Gott, das ist die Rasse, und diesem Gott bringen sie Menschenopfer.«

Das Memorandum umfasst etwa 20 Seiten. Auf Matrizen vervielfältigt hat Elisabeth Schmitz die Exemplare an Gremien und Einzelpersonen der Bekennenden Kirche verteilt. »Auch Karl Barth hat eine Denkschrift erhalten, etwa 1936«, sagt Manfred Gailus. »Es gab aber niemanden, der das aufgegriffen hätte und als Verlautbarung, als Stellungnahme, als Statement der Bekennenden Kirche publiziert hätte. Man hätte auch nicht alles nehmen müssen, aber wenigstens einige Stücke daraus.« Nach dem Novemberpogrom, als »die Steine schreien«, wie sie an Gollwitzer schreibt, wird die Lehrerin aus Steglitz den Schuldienst quittieren.

Elisabeth Schiemann (1881–1972)
Elisabeth Schiemann (1881–1972)

Wie Elisabeth Schmitz gehört auch Elisabeth Schiemann zur Dahlemer Bekenntnisgemeinde, die nach der Verhaftung Martin Niemöllers 1937 von Helmut Gollwitzer weitergeführt wird. Von Beruf Botanikerin und Professorin für Pflanzengenetik, hält sie in den Kirchen Vorträge zur Vererbungslehre und deren Missbrauch durch die Nazis. Den Begriff »Rasse« auf Menschen angewandt lehnt sie kategorisch ab. Immer wieder appelliert auch Elisabeth Schiemann an die Leitung der Bekennenden Kirche, öffentlich gegen die Entrechtung von Juden und Christen jüdischer Herkunft aufzutreten – ohne Erfolg. Später wird sie gemeinsam mit ihrer Schwester Gertrud helfen, zwei »nichtarische« Christinnen zu retten.

Im Oktober 1941 ist über die Vernichtungspläne der Nazis noch nichts bekannt. In der Gollwitzer-Gemeinde aber weiß man, dass jüdische Menschen systematisch deportiert werden. Dahlemer Frauen organisieren eine Paketaktion und verschicken warme Kleidung und Decken in die ihnen bekannten Gettos und Lager. Eine von ihnen ist Helene Jacobs, die zum engen Helferkreis um Franz Kaufmann gehört und den steckbrieflich gesuchten jüdischen Passfälscher Cioma Schönhaus in ihrer Wohnung versteckt. Schönhaus wird eines Tages in seinen Memoiren von ihr berichten: »Ihr Äußeres entsprach einer Tarnkappe. Sie wirkte auf den ersten Blick wie die Unschuld vom Lande. Aber sie wusste sich dieser Tarnkappe hervorragend zu bedienen.«

Helene Jacobs (1906–1993)
Helene Jacobs (1906–1993)

Als die Nazis die ersten Juden aus Berlin in die Vernichtungslager deportierten, seien von einigen Postkarten gekommen, in denen sie um Lebensmittel baten. Helene Jacobs habe ihnen Pakete mit Lebensmitteln geschickt und sei daraufhin von der Gestapo vorgeladen worden. Der Beamte habe sie staunend angesehen und gefragt, ob sie denn von allen guten Geistern verlassen sei. »Da schicken Sie den Juden Lebensmittelpakete in den Osten? Und noch dazu mit Ihrem vollen Absender? Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht?« Helene habe erwidert: »Moment mal. Denken Sie doch mal mit. Sie sind ein deutscher Mann und ich bin eine deutsche Frau. Und da sind Menschen, die hungern. Und ich schicke den Hungernden etwas zu essen. Finden Sie das vom menschlichen Standpunkt aus verwerflich?« Darauf wurde der Gestapomann nachdenklich: »Na, vom menschlichen Standpunkt aus kann ich das ja verstehen. Aber nicht vom nationalsozialistischen!« – »Augenblick mal«, soll Helene Jacobs gesagt haben, »dann machen Sie also einen Unterschied zwischen dem menschlichen Standpunkt und dem nationalsozialistischen Standpunkt?« Darauf brüllte der Mann: »Machen Sie, dass Sie rauskommen!«

Hildegard Schaeder, eine promovierte Slawistin und Vertraute Helmut Gollwitzers, hatte schon kurz vor dem Novemberpogrom 1938 angeregt, einen ehrenamtlichen Besuchsdienst für Gemeindeglieder jüdischer Herkunft einzurichten. Die Ausgrenzung aus der Gesellschaft hatte viele dieser Menschen in Einsamkeit und große Verzweiflung gestürzt.

Helene Jacobs wird den Besuchsdienst schon bald mit Gleichgesinnten auf ganz Berlin ausdehnen. Dabei greifen sie auf Adresslisten des schon erwähnten Heinrich Grüber zurück, dessen »Kirchliche Hilfsstelle für evangelische Nichtarier«, neben der seelsorgerischen Betreuung rassisch Verfolgter bei der Auswanderung unterstützt. Und auch nachdem die Gestapo Anfang ’41 das »Büro Pfarrer Grüber« schließt, wird der Besuchsdienst fortgesetzt.

Auch Elisabeth Schmitz beteiligt sich an den Besuchsdiensten. Nach dem Krieg wird sie sich an ein junges Paar und ihren Säugling erinnern: »Der kleine Junge wuchs und war gesund, obwohl seine Mutter nur ein wenig Magermilch für ihn bekam. Es war ein reizendes Kind. Sie fuhr es spazieren, und obwohl sie den Judenstern trug, wurde sie doch um des netten Kindes willen manchmal angesprochen. Da machte ihr Mann ihr klar, dass sie sich und die anderen in höchste Gefahr bringe, sobald jemand anzeige, dass andere mit ihr sprächen. Da fuhr sie ihr Kind nicht mehr aus, sondern ließ es im Zimmer in seinem Körbchen.«

An dieses Zimmer müsse sie immer wieder denken, sagte Elisabeth Schmitz in einer Gedenkrede vor Hanauer Schülern. Das Seitengebäude des Hauses war bei einem schweren Angriff ausgebrannt. »Ruinen starrten herein. Aber innen wohnte der Friede. Ich stand mit der jungen Mutter vor dem Körbchen des schlafenden Kindes, seine Atemzüge waren das Einzige, was man hörte, so still war es. Sie glaubte so zuversichtlich, dass Gott das Kind nicht habe geboren werden lassen, um es gleich wieder zu sich zu nehmen. Mir aber zerriss es das Herz, wenn ich daran dachte, welchem furchtbaren Schicksal das Kind entgegenschlief, und ich hatte keine Hoffnung. Als ich das nächste Mal kam, war die Wohnung leer. Sie waren nach Theresienstadt transportiert worden.«

Für wenige Jahre war im Raum der Bekennenden Kirche eine gänzlich neue Form kirchlichen Existierens entstanden: Ohne Bischöfe und Kirchenämter hatte eine mehr oder weniger große Gemeinschaft von Christen – zumeist Christinnen – den Einflüssen einer menschenverachtenden Ideologie widerstanden. Einige dieser Frauen wurden später selbst Pfarrerinnen. Etwa Ruth Wendland aus der Gethsemanekirche in Prenzlauer Berg oder die Vikarin Katharina Staritz aus Breslau, die das KZ Ravensbrück überlebte. Dass es bei Gottesdiensten heute auch Frauen im Talar gibt, ist ein Erfolg der Bekennenden Kirche.

Der Mut der Frauen in den Bekenntnisgemeinden aber, ihre Hilfe für Verfolgte, geriet nach dem Krieg in Vergessenheit. Die Geschichte der Bekennenden Kirche haben Männer geschrieben, die ihre eigene Rolle im innerkirchlichen Religionskrieg uminterpretierten in einen Kampf des Christentums gegen die nationalsozialistische Ideologie. Für die Menschen, die tatsächlich gegen die Nazis Widerstand geleistet hatten, blieb in der evangelischen Erinnerung wenig Platz. Die Evangelische Kirche in Deutschland hatte selbst mit Bonhoeffer Probleme. Seine Rolle im Verschwörerkreis des 20. Juli 1944 wollte man nicht gutheißen. Als in Bielefeld nach dem Krieg eine Straße nach ihm benannt wurde, protestierten sogar einige Pastoren. Dietrich Bonhoeffer galt als Opfer einer politischen Verwicklung, nicht aber als »Blutzeuge« für den christlichen Glauben.

Als Elisabeth Schmitz im Jahr 1977 verstarb, kamen sieben Menschen zur Trauerfeier. »Fast niemand wusste von ihr und von ihrer Tätigkeit«, sagt ihr Biograf Manfred Gailus im Gespräch. »Hier in Berlin war sie total vergessen.« Erst seit 1999 wisse man von ihrem verdeckten Widerstand, als eine ehemalige Schülerin Schmitz’ Autorenschaft an der Denkschrift bekannt machte. Ebenso wie Helene Jacobs und Elisabeth Schiemann wird auch Elisabeth Schmitz heute in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem als »Gerechte unter den Völkern« geehrt. In ihrem Geburtsort Hanau ist eine Schule nach ihr benannt. Eine Wertschätzung, wie es sie in Berlin bis heute nicht gibt.

Literatur Manfred Gailus: Mir aber zerriss es das Herz. Der stille Widerstand der Elisabeth Schmitz. Göttingen 2010. Ders.: Im Bann des Nationalsozialismus. Das protestantische Berlin im Dritten Reich, Freiburg i. Br. 2023. Katrin Rudolph: Hilfe beim Sprung ins Nichts. Franz Kaufmann und die Rettung von Juden und »nichtarischen« Christen, überarb. Neuaufl., Berlin 2017.

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