Farbanschlag auf Mahnmal in Berlin: Angriff auf die Erinnerung

Nach Farbanschlag auf Mahnmal: Initiativen demonstrieren gegen Antisemitismus

Kundgebung am Deportationsmahnmal in Moabit
Kundgebung am Deportationsmahnmal in Moabit

»14. Dezember 1942: 811 Juden nach Riga. 12. Januar 1943: 1210 Juden nach Auschwitz. 29. Januar 1943: 1000 Juden nach Auschwitz«: An einer Stele in der Levetzowstraße in Moabit werden alle Deportationen, die von diesem Ort ausgingen, detailliert aufgelistet. In der NS-Zeit wurde in der Synagoge, die hier einst stand und 1955 wegen Schäden durch Luftangriffe abgerissen wurde, ein Sammellager für Berliner Juden eingerichtet. Weil die Liste so lang ist, reicht die Stele mehrere Meter in die Höhe. So hoch, dass die obersten Einträge im Dunkeln nicht mehr zu lesen sind. Vor der Stele erinnern ein stilisierter Güterwagon und eine Rampe an die Ankunft in den Vernichtungslagern.

An den Farbanschlag, der vor zwei Wochen auf das Mahnmal verübt wurde, erinnert an diesem Montagabend hingegen nur noch wenig. Unbekannte hatten »Fuck Israel« und »Free Palestine« auf das Denkmal gemalt. Die Schmierereien wurden inzwischen entfernt. Nun versammeln sich etwa 100 Menschen, um gegen den Angriff auf das Gedenken zu protestieren. »Wenn Israel kritisiert werden soll, aber ein Denkmal angegriffen wird, dann ist das nichts anderes als Antisemitismus«, sagt eine Rednerin zu Beginn der Kundgebung.

»Dieser Angriff richtet sich gegen die Angehörigen und Nachkommen«, sagt Elke Tischer in ihrem Redebeitrag. Sie hat einen persönlichen Bezug zu dem Mahnmal: Ihre Großmutter wurde in der NS-Zeit an einen unbekannten Ort verschleppt. Lange habe ihr Vater Nachforschungen angestellt – auch um einen Ort zum Gedenken zu finden, berichtet sie. In dem Mahnmal an der Levetzowstraße habe er ihn gefunden, denn hier finde sich eines der letzten Lebenszeichen ihrer Großmutter. Heute engagiert sich Elke Tischer in der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschist*innen (VVN-BdA).

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Der Angriff stelle einen weiteren Baustein in einer langen Kontinuität dar, sagt Tischer und erinnert an die zahlreichen Anschläge auf Gedenkorte, etwa als 1992 Neonazis einen Brandanschlag auf die Judenbaracken in Sachsenhausen verübten. Seit dem 7. Oktober hätten die Angriffe »erschreckende Ausmaße angenommen«. Seit dem Hamas-Massaker im Süden Israels komme es in Berlin immer wieder zu Angriffen auf Juden und jüdische Institutionen. Der traurige Höhepunkt sei der Wurf eines Brandsatzes auf ein jüdisches Gemeindehaus in der Brunnenstraße im vergangenen November gewesen.

Auch das Mahnmal in der Levetzowstraße sei bereits vor dem Farbanschlag immer wieder Ziel von Angriffen gewesen, berichtet Aro Kuhrt von der Initiative »Sie waren Nachbarn«, die Erinnerungsarbeit in Moabit organisiert, gegenüber »nd«. Im Frühjahr sei bereits einer der in das Mahnmal eingelassenen Steine beschädigt worden. Kurz darauf sei großflächig Farbe an der Stele verschüttet worden. Einen so eindeutig politischen Charakter wie der jüngste Farbanschlag hätten diese Angriffe aber nicht gehabt.

»Es kommt immer wieder zu Anfeindungen«, berichtet Kuhrt über die Gedenkarbeit der Initiative. »Sie waren Nachbarn« organisiert auch die Verlegung von Stolpersteinen im Ortsteil. Wenn sie die Nachbarschaft über neue Stolpersteine informierten, komme es häufig zu Beleidigungen gegenüber Aktiven. Im November wurde ein Schaukasten vor dem Rathaus Tiergarten, mit dem die Initiative über den Widerstand jüdischer Mitarbeiter des Krankenhauses Moabit aufklärte, zunächst beschädigt und dann in Brand gesetzt.

Der Verein erfahre aber auch Rückhalt, sagt Kuhrt. Die Initiative hat einen Audioguide erstellt, der Stationen des Deportationswegs, über den die Juden von dem Sammellager in der Levetzowstraße zum Güterbahnhof Moabit geführt wurden, beleuchtet. Dieser sei bereits mehr als 24 000 Mal heruntergeladen worden. »Man merkt, dass das Angebot angenommen wird«, sagt Kuhrt.

Elke Tischer vom VVN-BdA stört sich auch an der Symbolik, die von Israel-Gegnern verwendet wird. Seit dem 7. Oktober tauchen immer wieder rote Dreiecke bei propalästinensischen Kundgebungen auf. Das Symbol wird in Propagandavideos der Hamas zur Feindmarkierung genutzt. Auf das Symbol angesprochen hatte die Organisation hinter der Besetzung des sozialwissenschaftlichen Instituts an der Humboldt-Universität in der vergangenen Woche gegenüber »nd« erklärt: »Das rote Dreieck ist ein historisches Zeichen des politischen Widerstandes gegen das deutsche NS-Regime und seine Konzentrationslager.« Als solches sei es ein Erkennungszeichen für Antifaschisten.

»Das ist doppelt falsch«, wehrt sich Tischer. Der VVN-BDA verwendet das rote Dreieck selbst auf seinen Fahnen. Das rote Dreieck sei von den Nationalsozialisten zur Kennzeichnung politischer Häftlinge in den Konzentrationslagern verwendet worden. »Es ist ein Zeichen der Verfolgten«, so Tischer. »Nach dem Krieg haben wir es uns angeeignet.«

Kamil Majchrzak zeigt sich schockiert, wie wenig Unterstützung Juden nach dem 7. Oktober durch Linke erhielten. Sein Großvater wurde bereits 1939 in Polen festgenommen und durchlief mehrere Konzentrationslager, bevor er im Mai 1945 aus dem Lager Bergen-Belsen befreit wurde. Heute ist Majchrzak im Polnischen Verband ehemaliger KZ-Häftlinge engagiert und organisiert in Berlin Mahnwachen gegen Antisemitismus. »Bis vor kurzem dachte ich, dass ich viel von der Erinnerungsarbeit deutscher Antifaschisten gelernt habe«, sagt er bei der Kundgebung. Doch das Schweigen der Linken zu den Angriffen gegen Juden habe an dieser Überzeugung Zweifel wachsen lassen.

Majchrzak wurde selbst Opfer eines Angriffs: Zu Beginn der 90er Jahre verletzten Neonazis ihn in Frankfurt (Oder) schwer. »Als ich angegriffen wurde, gab es viel Unterstützung«, erinnert er sich. »Aber nach dem 7. Oktober habe ich diese Unterstützung für Juden nicht gesehen.« Im Gegenteil: Eine der Personen, die damals Antidiskriminierungsarbeit leisteten, habe er jüngst bei einer antiisraelischen Kundgebung wiedererkannt. »Das hat mich nachhaltig verstört«, sagt er. Er fordert das größtenteils aus der linken Szene stammende Publikum auf, sich klar von Antisemiten in den eigenen Reihen abzugrenzen.

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