- Kultur
- Ende der DDR
Ein Jahrzehnt, 400 Objekte
Das Stadtgeschichtliche Museum Leipzig will Raum zum Erinnern und Nachdenken über die 90er Jahre bieten
Ob sie denn verrückt seien, eine Ausstellung über eine Zeit zu machen, die fast alle Menschen noch miterlebt hätten – dazu auch noch ein Jahrzehnt wie die 90er, zu dem viele eine emotional aufgeladene Meinung hätten. Mit solchen Fragen seien sie zu Anfang des Projekts konfrontiert gewesen, so das Team der Ausstellung »Zwischen Aufbruch und Abwicklung. Die 90er in Leipzig«. Die Ausstellung zeigt eine Nachwendezeit, die für viele Menschen einen biografischen Bruch, den Verlust der Arbeit, des Landes, in dem man lebte oder einen verlorenen Kampf um einen besseren Sozialismus bedeutete, aber auch neue Möglichkeiten in einer liberalen, kapitalistischen Gesellschaft.
»Die Wendezeit hat Dinge aus der DDR weitergetragen, aber sie sind mit der Zeit immer unsichtbarer geworden. Die Strukturen der Bundesrepublik, die Verwaltung, die Politik haben alles dominiert«, so die Kuratorin der Ausstellung, Johanna Sänger, gegenüber »nd«. »Wir wollen die Frage stellen: Was hat den Osten oder eine Stadt wie Leipzig trotzdem ausgemacht?« Das Ausstellungsteam hat Hunderte Objekte aus dem Alltag gesammelt, von Demo-Bannern der Montagsdemos und der Umweltbewegung der Nachwendezeit bis hin zu Plakaten und Wandzeitungen von Vereinen wie dem queeren Verein RosaLinde, der auch heute noch eine wichtige Bildungs- und Beratungsinstitution in Leipzig ist. Der Boxermantel und die Handschuhe von Henry Maske, dem berühmten Boxer aus Brandenburg, ehemaliger Olympiasieger, sind ausgestellt, daneben Fußball-Plakate, denn die 90er waren die Zeit der Neugründung des VfB Leipzig, der später mit dem 1. FC Lokomotive fusionierte. Unterlagen aus der Treuhand-Zeit, ein Konsum-Schild und Interviews aus einem Zeitzeug*innen-Projekt, das für die Ausstellung durchgeführt wurde, drängen sich im Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig auf engem Raum.
Insgesamt wählte das Team rund 400 Objekte aus mehr als 30 Sammlungen und Archiven aus. Ganz im Umbau-Charakter werden die Gegenstände auf Baugerüsten ausgestellt. Erklärungen gibt es zu den Objekten wenige. Die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen, wie die Veränderung von Projekten wie der AG Homosexualität von der DDR- zur Nachwendezeit, Sportförderungen, politische Repressionen, Geldflüsse und die jeweiligen wirtschaftlichen Umstände werden nur oberflächlich beleuchtet. Auch in die politische Tiefe der Bewegungen, die nach der Wende den Sozialismus nicht aufgeben wollten, geht die Ausstellung nicht. Der Fokus liegt auf dem alltäglichen Leben, Einkaufen und Arbeiten. »Die ältere Generation will sich vielleicht erinnern oder Dinge finden, in denen sie sich bestätigt sieht. Junge Menschen hingegen wissen eventuell nichts über diese Zeit, die wollen wir für das Thema interessieren«, meint Johanna Sänger. So stellt die Ausstellung bereits bekannte Lesarten der Verhältnisse in den Raum und bietet vor allem den Platz für persönliche Wahrnehmung, Interpretation und Selbstversicherung.
Das Ausstellungsteam hat schon vor der Eröffnung mit zehn Zeitzeug*innen gemeinsam Interviews geführt und ausgewertet. Als fertig betrachten Sänger und ihre Mitarbeitenden die Ausstellung aber nicht: Auch jetzt können in einer »Wechselvitrine« immer neue Gegenstände in Absprache mit dem Team ausgestellt werden, damit so viele Geschichten wie möglich vertreten sind. Den Alltag eines Jahrzehnts in einer Stadt mit all seinen Ambivalenzen abzubilden, anstatt sich nur einzelne Aspekte herauszusuchen, ist eine Herausforderung.
»Gesellschaft und Diskurs sind gerade sehr aufgeheizt. Das liegt auch daran, dass ein Schwarz-Weiß-Denken vorherrscht und man nicht über die Graustufen spricht. Dabei können wir uns genau in den Graustufen begegnen«, so Annemarie Riemer, für Bildung und Vermittlung in der Ausstellung zuständig. Diesen Raum will das Museum bieten. Die Geschichte nicht nur mittels Regierungsentscheidungen und Institutionen abzubilden, hält auch Johanna Sänger für immer relevanter: »Es ist wichtig, dass man auch unpolitische Menschen mitnimmt und ernst nimmt.« Riemer ergänzt: »Ich hoffe, dass uns mit dieser Ausstellung ein Perspektivwechsel gelingt. Dass Menschen merken, dass andere Menschen diese Zeit anders erlebt haben als sie und dass dies aber nichts sein muss, was uns trennt. Meine Aufgabe ist es auch, die richtigen Fragen zu stellen. Das hat gerade bei diesem Thema ein sehr großes Potenzial.«
Begleitet wird die Ausstellung von Podiumsgesprächen über (post-)migrantisches Leben in den Nachwendejahren, über die freie Kulturszene, die rechte und unpolitische Gewalt der sogenannten »Baseballschlägerjahre« und die Rolle von Politik und Verwaltung sowie von Filmvorführungen.
»Zwischen Aufbruch und Abwicklung. Die 90er in Leipzig«, bis zum 7. September 2025, Stadtgeschichtliches Museum Leipzig
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