Immerwährende Gewalt

»Was befürchtet Israel von Palästina?«: Raja Shehadeh sucht nach einem gerechten Frieden

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 5 Min.
Es ist kaum mehr Leben möglich in Gaza; nach einem israelischen Angriff auf Flüchtlingszelte im Hof des Al-Aqsa-Märtyrer-Krankenhauses, 14. 10. 2024
Es ist kaum mehr Leben möglich in Gaza; nach einem israelischen Angriff auf Flüchtlingszelte im Hof des Al-Aqsa-Märtyrer-Krankenhauses, 14. 10. 2024

Ich wurde drei Jahre nach der Nakba in der Stadt Ramallah im Westjordanland geboren, wohin meine Familie aus ihrem Haus an der Küste von Jaffa vertrieben wurde. Als ich aufwuchs, hörte ich immer wieder von dem verlorenen Land und dem Schock und Entsetzen über das, was uns widerfahren war …« Nach Studien in Beirut und London lebt Raja Shehadeh als Rechtsanwalt wieder am Ort seiner Geburt. Sein Vater zählte als Anwalt zu den frühesten Verfechtern einer Zweistaatenlösung für Israel und Palästina. Wie er unter ungeklärten Umständen ermordet wurde, liegt dem Sohn bis heute auf der Seele. Nicht erst mit den Angriffen der Hamas am 7. Oktober 2023 habe der Krieg in Gaza begonnen.

»Was befürchtet Israel von Palästina?« – das lässt sich mit einem Wort beantworten: Gewalt. Kehrt man die Frage um, kommt dasselbe heraus. Den Wunsch nach einem eigenen Staat hat es für die vielerorts verfolgten Juden schon lange geben. Das Einverständnis der britischen Kolonialmacht, in Palästina eine »nationale Heimstätte« des jüdischen Volkes zu errichten, wie es Außenminister Balfour am 2. November 1917 gegenüber Baron Lionel Walter Rothschild signalisierte, bot für die dort lebenden Araber keine Lösung so wie auch der UN-Teilungsplan für Palästina vom 29. November 1947. Als ob es »eine leere Wüste« wäre, »die 2000 Jahre darauf wartete, dass seine ursprünglichen und wahren Besitzer, die Juden, zurückkehren und sie wieder besiedeln würden«, schreibt Raja Shehadeh, der die gewaltsame Vertreibung der Palästinenser ebenso anprangert wie ihren entrechteten Status in den besetzten Gebieten, den er mit der Apartheid in Südafrika vergleicht.

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»Warum hat die Welt keinen Druck auf Israel ausgeübt, um den Frieden zu fördern?« Das erklärt sich wohl nicht nur aus den »Interessen der Waffenproduzenten« und den Entschädigungen, die den Palästinensern möglicherweise zu zahlen wären. Aber so wie diese einen Anspruch darauf haben, in ihren Interessen ernst genommen zu werden, darf auch das Existenzrecht Israels nicht infrage gestellt werden, wenn es um Frieden geht. Gerade weil es »eine Kluft zwischen den europäischen aschkenasischen Juden und den orientalischen mizrachischen« gibt, sieht Raja Shehadeh sehr wohl die national-religiöse Bedeutung von »Erez Israel«. »Israel erhält den Konflikt aufrecht, weil es den Konflikt für seine Existenz braucht«, so zitierte er den einstigen Mossad-Chef Tardo Pardo.

Wie der Autor in vielen Einzelheiten die Gewalt gegen sein Volk anklagt, überlässt er es uns, die zwei Seiten dieses schier unlösbaren Konflikts zu durchdenken, einen Widerstreit in sich auszutragen angesichts deutscher Schuld an jenem Trauma, dass sich durch palästinensische Gegenwehr weiter vertieft. »In dem Gebiet, in dem wir leben, müssen wir uns gegen die wilden Biester verteidigen«, so wird Netanjahu von Shehadeh zitiert. Als dieser 2009 ein zweites Mal ins Amt kann, habe er »eine Politik der Stärkung der Hamas auf Kosten der Palästinensischen Autonomiebehörde« verfolgt und »Katar erlaubt, fast eine Milliarde Dollar nach Gaza zu bringen«. Wenn der Angriff vom 7. Oktober »gut geplant« war, konnte eigentlich auch die israelische Reaktion vorausgesehen werden. Und nun das Blutbad im Libanon …

»Mit über zwei Millionen Einwohnern auf einer Fläche von 365 Quadratkilometern hat der Gazastreifen eine der höchsten Bevölkerungsdichten der Welt.« Mehr als 70 Prozent sind Flüchtlinge oder Nachkommen von Flüchtlingen, fast die Hälfte ist unter 18 Jahre alt. Mehr als 40 000 seien getötet worden, zwei Drittel davon Frauen und Kinder. Laut Umfrage aber seien »94 Prozent der Juden und 82 Prozent der israelischen Gesamtbevölkerung der Meinung, dass die israelischen Verteidigungskräfte im Gazastreifen die richtige (oder nicht genug) Feuerkraft eingesetzt haben.«

Die Aufforderung des Internationalen Gerichtshof vom 26. Januar 2024, »alle Handlungen zu unterlassen, die unter die Völkermordkonvention fallen könnten«, wird im Buch als Triumph betrachtet ebenso wie die Stellungnahme von US-Präsident Biden wenige Tage später gegen Siedlergewalt und Zwangsvertreibung. »Am 21. Februar billigte die Knesset den Beschluss der Regierung, der sich gegen jede einseitige Erklärung zur Gründung eines palästinensischen Staates ausspricht.« Dabei gibt es für das Zusammenleben beider Völker keine Alternative, wie Raja Shehadeh meint und auf den Plan seines Vaters von 1967 verweist, dass entlang der Teilungsgrenzen von 1947 ein palästinensischer Staat gegründet werden möge, mit einer Hauptstadt in Jerusalem. »Hoffnung auf einen gerechten Frieden«: Wenn es aber entgegengesetzte Auffassungen von Gerechtigkeit gibt?

Da muss ich wieder einmal an die Worte des israelischen Schriftstellers Amos Oz (1939–2018) denken, über den gerade eine einfühlsame Biografie von Robert Alter erschienen ist. »Die Grundlage von Amos‘ Verständnis der jüdischen nationalen Existenz ist die Überzeugung, dass die Juden ein Volk waren und bleiben werden«, heißt es darin. Dass eine Zweistaatenlösung den Konflikt würde beilegen können, daran zweifelte er immer wieder, doch die Vorstellung, dass Israelis und Palästinenser »in einem einzigen Staat« zusammenfinden und »lernen müssten, freundschaftlich miteinander zu leben«, war, realistisch gesehen noch weniger praktikabel. Allein schon, weil die Mehrheit der Bevölkerung »bald palästinensisch« wäre, wäre es das Ende des jüdischen Staates.

»Wir sind nicht allein in diesem Land«. Doch auch Palästinenser sollten im Kampf, »ein unabhängiges Volk in einem eigenen Land« zu sein, den Israelis eben dieses Recht nicht absprechen. Ein unlösbarer Konflikt. In solchen Fällen, meinte Amos Oz, gäbe es zwei dramatische Lösungen. In der nach Shakespeare würde eine Seite siegen, und die Bühne wäre voller Leichen. Geht es wie bei Tschechow zu, würde niemand das Gewünschte ganz bekommen. Alle sind traurig, aber am Leben geblieben. Das menschliche Leben als höchster Wert: Nur wann hat sich Politik je darum geschert?

Raja Shehadeh: Was befürchtet Israel von Palästina? Von der Hoffnung auf einen gerechten Frieden. Übers. v. Emil Fadel. Westend, 107 S., br., 15 €.
Robert Alter: Amos Oz. Autor, Friedensaktivist, Ikone. Suhrkamp, 223 S., geb., 26 €.

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