- Politik
- Abschiebungen
Neun EU-Länder pochen auf »Freiräume« bei Abschiebungen
Dänemark und Italien haben einen Appell für die Aufweichung der Europäischen Menschenrechtskonvention initiiert
Es ist in Deutschland und der EU längst Alltag: Politiker verschiedenster Parteien stellen immer wieder geltende Verfassungen und Grundrechte in Frage, weil sie angeblich nicht mehr in unsere Zeit passen. Beziehungsweise: Weil sie Staaten an einem noch rigideren Abschottungs- und Abschieberegime hindern.
Neuestes Beispiel: Staats- und Regierungschefs von neun EU-Ländern haben in einer gemeinsamen Erklärung mehr Freiräume für Abschiebungen gefordert. Zu diesem Zweck, finden sie, sollte die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) heutigen Erfordernissen angepasst werden. In einem am Donnerstagabend vom Amtssitz der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni aus verbreiteten offenen Brief an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) heißt es, die Zeit sei reif für eine Diskussion darüber, »wie die internationalen Konventionen den Herausforderungen unserer Zeit gerecht werden«. Was einst richtig gewesen sei, sei möglicherweise nicht mehr die Antwort von morgen.
Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen.
Menschenrechtsgericht kritisiert
Der Brief entstand auf Initiative Dänemarks und Italiens, unterzeichnet haben ihn außerdem die Premierminister bzw. Präsidenten von Österreich, Belgien, Tschechien, Estland, Lettland, Litauen und Polen. Sie kritisieren in dem Schreiben, der EGMR habe »in manchen Fällen den Anwendungsbereich der Konvention zu stark ausgeweitet, verglichen mit ihren ursprünglichen Intentionen«, und so »das Gleichgewicht zwischen den zu schützenden Interessen verschoben«. In manchen Fällen habe das zum »Schutz der falschen Personen« vor Abschiebung geführt. Meloni hatte die sozialdemokratische dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen am Donnerstag in Rom empfangen.
Der Gerichtshof in Straßburg hatte zuletzt Fälle gegen Lettland, Litauen und Polen verhandelt, bei denen es um die rechtswidrige Behandlung von Migranten ging. Dänemark wurde vom EGMR aufgefordert, seine aus Sicht des Gerichtshofs rechtswidrigen Beschränkungen bei der Familienzusammenführung zu ändern. Italien wurde vom EGMR mehrfach wegen der schlechten Behandlung von Migranten verurteilt.
Die Unterzeichner beteuern in dem Schreiben, sie alle teilten »einen festen Glauben in unsere europäischen Werte, gesetzliche Regeln und die Menschenrechte« und seien »einer regelbasierten internationalen Ordnung« ebenso verpflichtet wie der »unverletzlichen Würde des Individuums«. Es sei zwar nur eine Minderheit von Migranten, die sich nicht integriere und sich »in Parallelgesellschaften isoliert«. Diese Minderheit bedrohe aber die »Grundlage unserer Gesellschaften«.
Deshalb finden die Unterzeichnenden: »Wir sollten auf nationaler Ebene mehr Spielraum bei der Entscheidung haben, wann kriminelle Ausländer ausgewiesen werden, zum Beispiel in Fällen schwerer Gewaltverbrechen und Drogenkriminalität.« Man brauche zudem mehr Entscheidungsfreiheit bei der Art der Verfolgung krimineller Ausländer, die nicht abgeschoben werden könnten.
Ablehnung des Vorstoßes in Deutschland
In Deutschland forderten Politiker*innen von Linkspartei und Grünen angesichts des Vorstoßes, die Bundesregierung müsse sich dem entgegenstellen. »Der europäische Mechanismus zum Schutz von Grund- und Menschenrechten darf nicht zugunsten rechtspopulistischer Diskurse geopfert werden«, mahnte der rechtspolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, Helge Limburg. Die Initiative löse kein einziges Problem der Migrationspolitik, lege aber gleichzeitig »die Axt an Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechtsschutz in Europa«.
Der Ko-Vorsitzende der Grünen, Felix Banaszak, kritisierte, die Unterzeichnenden des Briefes würden das Vertrauen in den EGMR untergraben und den Eindruck erwecken, »Menschenrechte seien verhandelbar oder gar störend«. Die beteiligten Regierungen wollten »nicht nur unabhängige Gerichte angreifen, sondern auch den Menschenrechtsschutz zugunsten nationaler Sicherheitsinteressen schwächen«, rügte Banaszak und fügte hinzu: »Das ist gerade in Zeiten erstarkender rechtsextremer Kräfte brandgefährlich und Wasser auf die Mühlen derjenigen, die schon lange auf die Aushöhlung des europäischen Rechtsrahmens setzen.«
»Das ist gerade in Zeiten erstarkender rechtsextremer Kräfte brandgefährlich und Wasser auf die Mühlen derjenigen, die schon lange auf die Aushöhlung des europäischen Rechtsrahmens setzen.«
Felix Banaszak Ko-Vorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen
Scharfe Kritik an dem Vorstoß kam auch von den Linke-Politikerinnen Katrin Fey und Clara Bünger. Die Menschenrechte seien »schlicht nicht verhandelbar«, unabhängig von Herkunft und Status, betonte Fey. Bünger sagte: »Wer den EGMR angreift, stellt die Gewaltenteilung selbst infrage. Es ist die Aufgabe von Gerichten, auch das Handeln von Regierungen zu prüfen. Wer das unterbinden will, stellt sich außerhalb rechtsstaatlicher Prinzipien.«
Auf die Unabhängigkeit des Gerichtshofs verwies auch eine Sprecherin des SPD-geführten Bundesjustizministeriums. Man räume der Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des EGMR »einen hohen Stellenwert ein«, sagte sie am Freitag. An diese fühle man sich »vollumfänglich gebunden«.
Mehr Abschiebungen aus Deutschland
Vize-Regierungssprecher Sebastian Hille verwies auf Aussagen von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU), er habe »keine Veranlassung, Gerichtshöfen Briefe zu schreiben«. Richtig sei allerdings, dass auch die Bundesregierung eine »strengere Migrationspolitik verfolgen« wolle. Daher beteiligte sich Deutschland »aktiv an den europäischen Diskussionen, wie wir legale Migration begrenzen können«.
Den Anstieg bei der Zahl der Abschiebungen aus Deutschland im ersten Quartal dieses Jahres kann die neue Bundesregierung von CDU, CSU und SPD indes noch nicht als ihren »Erfolg« verkaufen. Wie aus einer Regierungsantwort auf eine Anfrage der Linken im Bundestag hervorgeht, wurden in den ersten drei Monaten 6151 Menschen aus Deutschland abgeschoben und damit deutlich mehr als im Vorjahreszeitraum (4791). Die Antwort lag der Nachrichtenagentur AFP am Freitag vor.
Unter den Abgeschobenen waren 1339 Frauen und 1118 Minderjährige. Sollten die Behörden im gleichen Umfang weiterhin Menschen »zurückführen«, ergäben sich für das gesamte Jahr 24 000 Abschiebungen. 2024 wurden rund 20 000 Menschen aus Deutschland abgeschoben, 2023 waren es 16 500. Die schwarz-rote Koalition hat angekündigt, die Zahl der Rückführungen weiter zu erhöhen.
Die meisten Menschen wurden laut der Auskunft der Regierung in den ersten drei Monaten des Jahres in die Türkei (502), nach Georgien (454), Frankreich (333), Spanien (325) und Serbien (291) abgeschoben. 157 Personen wurden in den Irak abgeschoben, fünf in den Iran. In rund 1700 Fällen handelt es sich um sogenannte Dublin-Überstellungen in andere EU-Länder, die nach der Dublin-Verordnung für das Asylverfahren zuständig sind.
Etwas mehr als ein Drittel der Abschiebungen erfolgte mit kostspieligen Charterflügen. Besonders teuer und aufwendig waren Sammelabschiebungen nach Pakistan. Die Kosten dafür beliefen sich auf 462 000 Euro. Die Abschiebung weniger Personen nach Äthiopien kostete 418 000 Euro.
In 345 Fällen wurden die Abschiebungen während oder nach der Übergabe an die Bundespolizei abgebrochen. 85 mal weigerten sich Airlines oder Piloten, sie durchzuführen. In 82 Fällen leisteten Betroffenen Widerstand, in 31 weiteren sprachen medizinische Gründe für den Abbruch der Maßnahme.
Gleichwohl wurde oft keine Rücksicht auf den Zustand der Betroffenen genommen. Die Linke-Abgeordnete Clara Bünger monierte, es seien »Familien eiskalt auseinandergerissen« worden. »Kranke Menschen wurden regelrecht aus dem Krankenhaus entführt und von dort zum Abschiebeflug gekarrt.«
»Kranke Menschen wurden regelrecht aus dem Krankenhaus entführt und von dort zum Abschiebeflug gekarrt.«
Clara Bünger Linke-Bundestagsabgeordnete
Derweil arbeitet die EU-Kommission daran, Asylverfahren zu beschleunigen. Dafür will sie es leichter möglich machen, Schutzsuchende in sogenannte sichere Drittstaaten außerhalb der EU abzuschieben. Bisher dürfen Menschen nur in Drittstaaten abgeschoben werden, zu denen sie eine »enge Verbindung« haben. Dies ist gegeben, wenn sie dort Angehörige oder sich länger dort aufgehalten haben. Die Kommission will dafür sorgen, dass sie künftig auch dann in solche Länder »überstellt« werden dürfen, wenn sie dort nur kurz durchgereist sind. Das teilte die Kommission am Dienstag mit.
Auslagerung von Asylverfahren geplant
Ein »ausreichender Bezug« zu einem sicheren Drittstaat soll laut Kommission künftig bereits bestehen, wenn die betroffene Person ihn durchquert oder das abschiebende EU-Land ein entsprechendes Abkommen mit dem Staat geschlossen hat. Ausgenommen sind unbegleitete Minderjährige.
All das wird von Schwarz-Rot in Berlin ausdrücklich begrüßt und mit vorangetrieben. Im Koalitionsvertrag heißt es, man ergreife auf EU-Ebene eine Initiative »zur Streichung des Verbindungselements, um Rückführungen und Verbringungen« in Drittstaaten zu ermöglichen. Der Begriff »Verbindungselement« bezeichnet die beschriebene persönliche Verbindung Schutzsuchender zu einem Drittstaat, ohne die sie nicht dorthin abgeschoben werden dürfen.
Die Kommission will den EU-Mitgliedstaaten so ermöglichen, Asylanträge leichter als unzulässig einzustufen. Der Kommissar für für Inneres und Migration, Magnus Brunner, beteuerte, Grundrechte und rechtliche Garantien für Antragsteller sollten gewahrt bleiben. Ob ein Drittstaat als sicher eingestuft wird, hänge unter anderem vom Schutz vor Zurückweisung, vom Zugang zu Asylverfahren und vom Fehlen ernsthafter Gefahren für Leben und Freiheit ab.
Außerdem schlägt die Kommission vor, dass ein Einspruch gegen die Ablehnung eines Asylantrags künftig nicht mehr automatisch eine aufschiebende Wirkung haben soll. Das heißt, dass Betroffene trotzdem abgeschoben werden dürfen. Der Vorschlag der Brüsseler Behörde ist Teil des Pakts für Migration und Asyl. mit Agenturen
Wir sind käuflich.
Aber nur für unsere Leser*innen. Damit nd.bleibt.
Die »nd.Genossenschaft« gehört ihren Leser:innen und Autor:innen. Sie sind es, die durch ihren Beitrag unseren Journalismus für alle zugänglich machen: Hinter uns steht kein Medienkonzern, kein großer Anzeigenkunde und auch kein Milliardär.
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen aufgreifen
→ marginalisierten Stimmen Raum geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten voranbringen
Werden Sie Teil unserer solidarischen Finanzierung und helfen Sie mit, unabhängigen Journalismus möglich zu machen.