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Altersfragen: Mehr arbeiten oder doch investieren?
Im internationalen Vergleich nimmt der Anteil der Bevölkerung Deutschlands im Erwerbsalter besonders stark ab
Über 100 Milliarden Euro werden jedes Jahr an Steuergeldern in die Deutsche Rentenversicherung (DRV) in Berlin gebuttert. Dafür gibt es gute Gründe. Der staatliche Zuschuss deckt sogenannte versicherungsfremde Leistungen ab. Dies sind Leistungen, welche der Gesetzgeber von der Rentenversicherung auszahlen lässt, obwohl dafür niemand Beiträge gezahlt hat.
Sowohl bei der Gründung der Rentenversicherung 1889 als auch bei der tiefgreifenden Reform 1957 in der BRD war bereits ein großer staatlicher Zuschuss vorgesehen. Der Anteil der staatlichen Beiträge an den gesamten Einnahmen der Rentenversicherung war damals sogar höher als heute, hat das gewerkschaftsnahe Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) in Düsseldorf errechnet.
Doch obwohl die häufig von Journalisten, der »Wirtschaftsweisen« Veronika Grimm und Finanzmarktlobbyisten vorgetragene Kritik, ohne Zuschüsse des Bundes sei die Rente nicht finanzierbar und diese Zahlungen würden zugleich den Bundeshaushalt überfordern, zu kurz greift, lohnt ein Blick auf die demografische Entwicklung. Aufgrund der lange Zeit gestiegenen Lebenserwartung wuchs der Anteil älterer Menschen an der Bevölkerung und gleichzeitig stieg die Zahl der Rentnerinnen und Rentner. Ein Ende dieser Trends ist nicht in Sicht: Laut Statistischem Bundesamt wird die Zahl Älterer (ab 65 Jahren) in den nächsten zwanzig Jahren um fünf bis sechs Millionen auf mindestens 22,7 Millionen zunehmen.
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Gleichzeitig sinkt im Trend die Anzahl der Erwerbstätigen. Allerdings hat deren Zahl im vergangenen Jahr einen neuen Höchststand erreicht. »In vielerlei Hinsicht wird in Deutschland gerade so viel gearbeitet wie noch nie seit der Wiedervereinigung«, schreibt die KfW Ende Mai in einer Studie. Die Bank gehört mehrheitlich dem Bund, ein kleinerer Anteil entfällt auf die Bundesländer, was der Studie besonderes politisches Gewicht verleiht.
Die Erwerbstätigenzahl liegt nun um 19 Prozent über dem Wert von 1991, obschon im selben Zeitraum die Bevölkerung im Erwerbsalter um fünf Prozent geschrumpft ist. Entsprechend hat die Erwerbstätigenquote in den letzten Jahrzehnten erheblich zugelegt: 77,5 Prozent der Bevölkerung im Alter zwischen 15 und 64 Jahren waren 2024 erwerbstätig. Das sind zehn Prozentpunkte mehr als 1991.
Linke und gewerkschaftsnahe Ökonomen warnen jedoch vor neoliberalen, marktradikalen Antworten.
Zwar sind die durchschnittlichen Arbeitsstunden aufgrund vermehrter Teilzeit – quasi als Kehrseite dieser Entwicklung – gesunken. Die Zahl der insgesamt geleisteten Arbeitsstunden ist aber dennoch immer weiter nach oben geklettert: Nach einem Einbruch infolge der Covid-Krise haben die geleisteten Arbeitsstunden aller Arbeitnehmer 2024 einen neuen Rekordwert erreicht. Und auch unter Einbezug der Selbstständigen liegen die geleisteten Arbeitsstunden nicht weit unter ihrem Spitzenwert von 2019.
Dennoch mehren sich Appelle für »noch mehr Arbeit«. So macht sich die schwarz-rote Bundesregierung im Renten-Kapitel ihres Koalitionsvertrages für »eine hohe Beschäftigungsquote« stark. Tatsächlich dürfte infolge des Ausscheidens der sogenannten Babyboomer-Jahrgänge aus dem Berufsleben die Bevölkerung im Erwerbsalter in den kommenden Jahren besonders schnell schrumpfen. Als Folge wird das Wachstumspotenzial der Volkswirtschaft erheblich geschmälert, selbst wenn die Produktivität wieder wächst.
Auf letzteren Faktor setzen vor allem linke Wissenschaftler ihre Hoffnungen. So fordert die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik um Professor Rudolf Hickel angesichts der »rentenpolitischen Schicksalsjahre« eine grundlegende Reform der Schuldenbremse, um dauerhaft mehr staatliche Investitionen zu ermöglichen, die das sogenannte Potenzialwachstum der Volkswirtschaft ankurbeln (»Goldene Regel«). Dies würde dann einen größeren Verteilungsspielraum für die Rentenversicherung und das gesamte Sozialsystem schaffen.
Was besonders für die deutsche Volkswirtschaft geraten scheint. Die Bevölkerung im Erwerbsalter (15 bis 64 Jahre) wird bis 2035 um 9,1 Prozent abnehmen, prognostizieren UN und Weltbank. Ähnlich könnte die Entwicklung in Italien (-11,8 Prozent) und Japan (-8,9 Prozent) verlaufen. Derweil wird in Frankreich die Erwerbsbevölkerung nahezu gleich bleiben und in Großbritannien, Kanada sowie den USA größer werden. In der Bundesrepublik dürfte außerdem der Fachkräftemangel weiter zunehmen, was wiederum die Attraktivität des Standortes für Investitionen belastet.
Um gegenzusteuern, könnte an vielen Stellschrauben gedreht werden: Hierzu zählt die KfW eine weitere Steigerung der Erwerbstätigenquote – Deutschland liegt hier international weiterhin nur im Mittelfeld – und der Lebensarbeitszeit, mehr »qualifizierte« Zuwanderung und längere Arbeitszeiten. Linke und gewerkschaftsnahe Ökonomen warnen jedoch vor neoliberalen, marktradikalen Antworten.
Es gehe stattdessen um Lebensstandardsicherung im Alter und den sozialen Ausgleich in der Gesellschaft, schreiben die Alternativökonomen in ihrem neuen »Memorandum 2025«. Dazu seien, neben Wirtschaftswachstum, vor allem eine grundlegende Steuerreform und eine gerechtere Verteilung des Wohlstandes nötig.
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