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Wie Berlin die Inklusion an Schulen zurückfährt
Ärger für inklusive Schulen, Kleinklassen, neue Förderzentren: Die Inklusion macht in Berlin Rückschritte
Wenn Sarina Neumann-Ranze über die Schule ihres Sohnes spricht, kommt sie ins Schwärmen. »Das Konzept der Schule wurde von allen Seiten gelobt«, erzählt sie über die Schule an der Strauchwiese in Pankow. »Alle arbeiten bei uns als Team zusammen.« Selbst Eltern, die außerhalb des Einzugsgebiets der Schule lebten, haben sich auf Plätze an der inklusiven Grundschule beworben. Ein »Leuchtturmprojekt«, findet Neumann-Ranze, das anderen Schulen ein Vorbild sein sollte.
Die Strauchwiese-Schule sind eigentlich zwei: Eine Grundschule und ein Förderzentrum für Schüler mit Sprachstörungen. Doch unterrichtet werden die Schüler der zwei Schulen gemeinsam. Auf zwei Fluren aufgeteilt werden die Kinder in Lerngruppen von 16 bis 18 Schülern unterrichtet – getrennt nach Leistungsniveaus und nicht danach, ob ein Schüler beeinträchtigt ist. Im Schnitt haben ein Drittel der Schüler in jeder Lerngruppe einen Förderbedarf. Abgesonderten Unterricht für die Kinder im Förderschwerpunkt gibt es nur für kurze Zeiträume und ausschließlich für die spezielle Sprachförderung.
»Für die Kinder im Förderschwerpunkt ist es ein riesiger Vorteil, von den anderen Kindern zu lernen«, sagt Neumann-Ranze. »Und für alle anderen Kinder ist es gut zu sehen, dass nicht alle Menschen in das gleiche Raster passen.« Die Akzeptanz ginge weit über den eigentlichen Unterricht hinaus. »Wenn ein Kind Geburtstag hat, ist es ganz selbstverständlich, dass alle Kinder eingeladen werden«, sagt Neumann-Ranze.
Doch das vermeintliche Modellprojekt steht vor dem Aus. In einem Elternbrief aus dem März wird angekündigt, dass das pädagogische Konzept der Strauchwiese-Schule zum neuen Schuljahr eingestellt werden muss. Der Grund: Das Konzept sei nicht rechtssicher, eine sofortige Umstellung sei notwendig. So erklärte es ein Vertreter der Pankower Schulaufsicht bei einer Elternversammlung kurz darauf. »Die in den vergangenen Jahren praktizierte gemeinsame Beschulung von Schülerinnen und Schülern beider Schularten in gemischten Klassen entspricht nicht den geltenden schulrechtlichen Bestimmungen, insbesondere in Bezug auf Klassengröße, Ressourcennutzung und Unterrichtsorganisation«, antwortet ein Sprecher der Bildungsverwaltung auf nd-Anfrage.
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Bei den Eltern und Kindern der Strauchwiese-Schule habe die Nachricht einen Schock ausgelöst, sagt Elternvertreterin Sarina Neumann-Ranze. »Wir werden in die Exklusion zurückgetrieben«, sagt sie. Die juristische Begründung hält sie für vorgeschoben. »Ich habe den Eindruck, dass es eine politische Agenda gibt.«
Die Geschehnisse an der Strauchwiese-Schule stehen symptomatisch für eine stadtübergreifende Entwicklung: »Ich würde mittlerweile ganz klar von einem Rückschritt bei der schulichen Inklusion unter dem amtierenden Senat sprechen«, sagte Christine Braunert-Rümenapf, die Berliner Behindertenbeauftragte, in der vergangenen Woche vor dem Bildungsausschuss. »Damit habe ich mich auf die veränderten Rahmenbedingungen und die bei mir eingehenden Problemanzeigen bezogen«, sagt Braunert-Rümenapf im Nachgang zu »nd«.
»Wir bekennen uns zur UN-Behindertenrechtskonvention und wollen die Inklusion an den Berliner Schulen unterstützen und qualitativ weiterentwickeln«, heißt es im Berliner Koalitionsvertrag zwischen CDU und SPD. Hört man sich aktuell bei Behindertenvertretern um, entsteht ein gegenteiliger Eindruck. Von einem »Rückbau der Inklusion« ist die Rede.
Im Fokus der Kritik: Die neue Sonderpädagogikverordnung, die die Bildungssenatsverwaltung im März – gegen den Protest der Senatssozialverwaltung – erlassen hat. Besonders eine Regelung in der Verordnung erhitzt die Gemüter: Sie sieht vor, dass an inklusiven Regelschulen künftig dauerhaft Kleinklassen für Kinder mit Förderbedarf eingerichtet werden können. Bislang waren solche Kleinklassen nur temporär möglich.
Die CDU-Bildungspolitikerin Sandra Khalatbari verteidigte die Entscheidung in der vergangenen Woche im Abgeordnetenhaus. »Einseitige Forderungen nach ausschließlich gemeinsamem Unterricht helfen nicht weiter«, sagte sie. »Gerade für neurodivergente Kinder ist eine gemeinsame Beschulung nicht immer das beste Konzept«. Inklusiver und separater Unterricht in Kleinklassen könnten sich gegenseitig ergänzen, so Khalatbari.
Die Behindertenbeauftragte Christine Braunert-Rümenapf sieht dagegen die Gefahr, dass sich die Kleinklassen zur »Exklusion in der Inklusion« entwickeln, wenn sie nicht genügend an den Schulbetrieb angebunden werden. »Kleinklassen sind nicht geeignet, die Inklusion an Schulen dauerhaft voranzubringen«, sagt sie. Erfahrungen aus der Praxis zeigten, dass die Schüler in Kleinklassen oft vom Schulleben ausgeschlossen blieben. Vorstellen kann sich Braunert-Rümenapf Kleinklassen nur als zeitlich begrenzte Einrichtungen. »Es muss klare und verbindliche Regelungen für die Inhalte der Lernangebote geben«, sagt sie.
Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) beschwichtigte in der vergangenen Woche im Abgeordnetenhaus. Die Kleinklassen seien nur als »vorübergehende« Institution vorgesehen, die bislang schulfernen Kindern mit Förderbedarf ermöglichen soll, sich an den Schulbesuch heranzutasten. »So können wir zumindest für einen begrenzten Zeitraum eine Möglichkeit für diese Kinder schaffen, an die Schulen zurückzukommen«, sagte sie. »Das ist nicht wünschenswert, aber eine Möglichkeit.«
Christine Braunert-Rümenapf bezweifelt allerdings, dass das intendierte Ziel so erreicht werden kann. »Wenn ein Kind nicht die Schule besuchen kann, muss man sich im Einzelfall die Rahmenbedingungen anschauen, die diese Kinder benötigen«, sagt sie. Pauschale Lösungen seien oft nicht geeignet. Die Einführung der Kleinklassen könnte die inklusiven Schulen auch strukturell schwächen, befürchten Kritiker. Denn so würden Sozialpädagogen aus den inklusiven Klassen abgezogen und könnten den dortigen Kindern mit Förderbedarf keine Unterstützung mehr bieten.
Profitieren würden von dieser Entwicklung die sogenannten Förderzentren. Die Förderzentren – in der Umgangssprache oft despektierlich »Sonderschulen« genannt – gelten eigentlich als Relikt der Vorzeit. In der Hansestadt Bremen etwa gibt es nur noch drei dieser Schulen, die ausschließlich Kinder mit Förderbedarf aufnehmen. In Berlin sollen dagegen neue Förderzentren eingerichtet werden, etwa am Waidmannsluster Damm in Reinickendorf.
Nötig macht die neuen Förderzentren, so der Senat, ein Anstieg von Schülern im Schwerpunkt »geistige Entwicklung«, also lernbehinderte Kinder. Der Neubau von Förderzentren habe bauliche Vorteile, argumentierte der für Schulbau zuständige Staatssekretär Torsten Kühne (CDU) in der vergangenen Woche. Für die Förderzentren sei ein eigener Bautyp entwickelt worden, der etwa Therapieräume und Pflegebecken umfasse. »Es ist nicht realistisch, dass wir das in jeden Schulneubau einbauen«, sagte Kühne. Viele Eltern halten die Förderzentren zudem für die bessere Lösung für ihre Kinder, weil die Schüler dort in kleineren Klassen lernen und die Lehrkräfte sonderpädagogisch ausgebildet sind.
»Die Bildungschancen an Förderzentren sind eben nicht die gleichen«, sagt dagegen die Landesbehindertenbeauftragte Christine Braunert-Rümenapf. Das sei empirisch erwiesen. So machten Schüler an Förderzentren seltener einen Schulabschluss als Kinder mit Förderbedarf, die eine inklusive Regelschule besuchten.
Dass Berlin nun neue Förderzentren errichte, unterlaufe Inklusionsbestrebungen, warnt Braunert-Rümenapf. »Solange massiv Ressourcen in Förderzentren investiert werden und inklusive Schulen nicht gleichwertig ausgestattet werden, kann man nicht von einer echten Wahl sprechen«, sagt sie. Dass Förderzentren bei der Verteilung der knappen Mittel bevorzugt würden, dränge Eltern zu der Entscheidung, ihr Kind auf eines der Förderzentren zu schicken. »Mit dem Ausbau dieses teuren Doppelsystems fehlen Ressourcen in den inklusiven Schulen«, kritisiert Braunert-Rümenapf.
An der Strauchwiese-Schule in Pankow regte sich schnell Widerstand gegen den Plan der Schulaufsicht, das inklusive Konzept der Schule einzustellen. »Bei einer Umfrage haben sich 96 Prozent der Eltern für das bestehende Konzept ausgesprochen«, berichtet Elternvertreterin Sarina Neumann-Ranze. Kurz darauf wurde eine Petition initiiert, die inzwischen von 1900 Menschen unterschrieben wurde. Eltern und Schüler beteiligten sich in der vergangenen Woche an einer Protestkundgebung vor dem Abgeordnetenhaus. »Wir kämpfen dagegen, dass ein funktionierendes Konzept ohne Not abgeschafft wird«, sagt Neumann-Ranze.
Erste Erfolge gibt es bereits: In einem Gespräch habe ihr ein Vertreter der Schulaufsicht deutlich gemacht, dass das pädagogische Konzept doch nicht bereits zum neuen Schuljahr beendet werden soll, sagt Neumann-Ranze. In der Diskussion sei nun auch, dass das Konzept in einer neuen organisatorischen Form fortgeführt werde, die die juristischen Bedenken ausräumen könnte. »Ziel ist es nicht, Inklusion zurückzunehmen, sondern eine klare organisatorische Struktur zu schaffen – mit einem inklusiven Angebot im Grundschulbereich sowie einem eigenständigen Förderzentrum Sprache für die Eltern, die dieses Angebot wählen«, antwortet ein Sprecher der Senatsverwaltung auf nd-Anfrage.
Auch Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch spricht sich inzwischen für eine Fortsetzung aus. »Wir haben ein hohes Interesse daran, dass die Schulen ihr bisheriges Format der gemeinsamen Beschulung fortführen können«, sagte sie in der vergangenen Woche im Abgeordnetenhaus. Sie stellte Gespräche mit den Verantwortlichen in Aussicht.
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