- Politik
- Barrierefreiheit
Zwischen Menschenrechten und Marktmechanismen
Diesen Samstag tritt das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz in Kraft. Es soll digitale Rechte von Menschen mit Behinderungen gewährleisten
»Inklusion ist kein schnelldrehendes Konsumgut, es ist ein Menschenrecht«, sagte Christina Marx, Sprecherin der Soziallotterie Aktion Mensch, auf dem Tag für barrierefreie Künstliche Intelligenz (KI) Mitte Juni. Schnelldrehende Konsumgüter, das sind Produkte des täglichen Bedarfs, die sich besonders gut verkaufen. Mit Marx auf dem Podium in Berlin saßen Mitarbeiter*innen des Online-Versandhändlers Zalando, der Digitalagentur UDG und der Lieferfirma Delivery Hero. Die Debatte zum Ende der Tagung drehte sich um die Förderung inklusiver Produkte und Dienstleistungen – und deren dadurch gesteigerten Marktwert.
Diesen Samstag tritt das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) in Kraft. Es ist die deutsche Umsetzung der EU-Richtlinie zur Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistugen und soll laut dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales »gleichberechtigte und diskriminierungsfreie Teilhabe von Menschen mit Behinderungen, Einschränkungen und älteren Menschen« fördern. Demnach müssen künftig der Onlinehandel und Produkte wie Computer, Selbstbedienungsterminals und Router barrierefrei funktionieren. Bisher erschweren Websites mit unzureichenden Farbkontrasten beispielsweise die Nutzung für Menschen mit Sehbehinderungen. Unternehmen mit mehr als zehn Beschäftigten und Umsätzen von über zwei Millionen Euro sind ab Samstag verpflichtet, digitale Produkte und Dienstleistungen barrierefrei anzubieten. Anderenfalls drohen Bußgelder.
Der Konsumgüterkonzern Procter & Gamble in den USA sei inzwischen dazu übergegangen, Werbung mit Untertiteln zu schalten, berichtete Marx auf der Konferenz in Berlin. Das Unternehmen habe durch Marktanalysen bemerkt, dass das die Verkaufszahlen stärke. Nicht nur, weil Menschen mit Hörschwierigkeiten so angesprochen würden, sondern auch, weil die Untertitel zu einem besseren Verständnis in der Allgemeinbevölkerung führten. Das Beispiel zeige: Inklusion komme allen zugute.
»Inklusion ist kein schnelldrehendes Konsumgut, es ist ein Menschenrecht.«
Christina Marx Aktion Mensch
Trifft das auch auf Unternehmen in Europa zu? Zalando gilt hierzulande als eines der inklusiven Aushängeschilder im Onlinehandel. Ein zentrales Team, zuständig für Barrierefreiheit, habe große Fortschritte ermöglicht, das zeige sich auch in den Klickzahlen, sagte Sprecherin Erika Shoonmaker. Der Versandhändler nutze inzwischen sogar schon KI, um bessere Alt-Texte zu erstellen. Das ist jener Text, der den Inhalt oder die Funktion eines Bildes beschreibt. Früher habe dort beispielsweise bei dem Foto eines Sneakers nur »grüner Schuh« gestanden – die KI erkläre auch, wie Sohlen und Schuhbänder aussehen und verbessere so das Einkaufserlebnis.
Ziehen derlei Berichte als Argumente für Inklusion eher als Marx’ einleitende Worte zu Menschenrechten? Letzteres scheint bei vielen Unternehmen jedenfalls noch nicht angekommen. Entgegen der einleitenden These zeigt eine aktuelle Umfrage von Aktion Mensch, Google und der Stiftung Pfennigparade, dass digitale Barrierefreiheit bisher die Ausnahme darstellt. Ein Test der 65 in Deutschland meistbesuchten Shopping-Portale zeigte: Nur ein Drittel erfüllt das Kriterium der »Tastaturbedienbarkeit«, bei dem Websites auch ohne Maus navigierbar sind. Eine Maus erfordert eine gewisse Feinmotorik, über die nicht alle Menschen verfügen. Das können Personen mit Ermüdungserscheinungen sein – oder jene 7,8 Millionen Menschen, die in Deutschland mit Behinderungen leben. In den Vorjahren erfüllte ein Viertel der untersuchten Portale die Kriterien für Tastaturbedienbarkeit. Auch bei Farbkontrasten waren die Ergebnisse der Studie ernüchternd.
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
»Zu viele Unternehmen nehmen mögliche Bußgelder in Kauf und schließen noch immer Menschen mit Behinderung und damit potenzielle Kund*innen aus«, sagt Marx. Dabei liege es auch in ihrem eigenen Interesse, das zu ändern – denn von einem barrierefreien, komfortablen Zugang zu Webseiten profitieren letztlich alle. In der Studie schreiben die Autor*innen: »Barrierefreiheit im Internet ist für zehn Prozent der Bevölkerung unerlässlich, für etwa 30 Prozent notwendig und für 100 Prozent hilfreich.« Das allein scheint aber – im Gegensatz zu wirtschaftlichen Argumenten – wenig zu bewirken, wie die Beispiele von Procter & Gamble und Zalando zeigen.
Ob Inklusion im Kapitalismus überhaupt funktioniert, stellt der Aktivist und Fotograf Ralph Milewski vom Verein Kooperation Behinderter im Internet in Frage. »Der Kapitalismus setzt Produktivität als Maßstab für Teilhabe in allen gesellschaftlichen Bereichen. Das bedeutet, dass Inklusion in einer kapitalistischen Gesellschaft oft nur dann möglich erscheint, wenn sie den wirtschaftlichen Zielen des Systems dient«, beschreibt er die Situation. Menschen mit Behinderung, die nicht im wirtschaftlichen Sinne als produktiv gelten, würden demnach weiterhin ausgeschlossen, es gehe nicht um tatsächliche Gleichberechtigung, sondern um Verwertbarkeit.
Laut der Soziologin Ashley Shew gibt es darüber hinaus eine Art Techno-Ableismus. Der Begriff bezieht sich sowohl darauf, Menschen aufgrund ihrer Behinderungen anders zu behandeln, als auch darauf, sie auf jene Merkmale zu reduzieren, die sie von einem vermeintlichen »Normalzustand« unterscheiden. Bezieht man das Konzept auf Technologie, so ist die Grundannahme, Menschen mit Behinderungen würden durch Technologien gestärkt. Techno-Ableismus verfestigt somit die Prämisse, dass Behinderung etwas Unerwünschtes ist und behoben werden muss.
Für Marx ist das BFSG ein Schritt in die richtige Richtung. Zum Ende der Diskussion mahnte jedoch auch sie verzerrende Wahrnehmungen (den Bias) an, der sowohl Mensch als auch Maschine innewohne – Aktion Mensch untersucht Konzerne auf etwaige Formen von Diskriminierung, die daraus entstehen kann. »Wir haben alle einen Bias und müssen sehr vorsichtig sein, diesen nicht an KI weiterzugeben.«
Wir stehen zum Verkauf. Aber nur an unsere Leser*innen.
Die »nd.Genossenschaft« gehört denen, die sie lesen und schreiben. Sie sichern mit ihrem Beitrag, dass unser Journalismus für alle zugänglich bleibt – ganz ohne Medienkonzern, Milliardär oder Paywall.
Dank Ihrer Unterstützung können wir:
→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen in den Fokus rücken
→ marginalisierten Stimmen eine Plattform geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten anstoßen und weiterentwickeln
Mit »Freiwillig zahlen« oder einem Genossenschaftsanteil machen Sie den Unterschied. Sie helfen, diese Zeitung am Leben zu halten. Damit nd.bleibt.