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Ukrainer protestieren gegen Selenskyj
Russland und die Ukraine treffen sich zu dritter Gesprächsrunde in Istanbul
»Schande« skandierten die Menschen in Kiew in der Nacht zu Mittwoch, und »Selenskyj ist Mist«. Auch in Odessa, Dnipro, Lwiw und anderen Städten versammelten sich viele meist junge Menschen zum Protest, hielten Schilder wie »Nein zur Korruption in der Regierung«. Selbst die kriegsbedingte Sperrstunde wurde einfach ignoriert.
Am Dienstag hatte der Inlandsgeheimdienst SBU Razzien bei Mitarbeitern des Nationalen Antikorruptionsbüros der Ukraine und der Sonderstaatsanwaltschaft für Korruption (SAP) durchgeführt. Später am Tag brachte die Selenskyj-Partei Diener des Volkes in einem unwürdigen Schauspiel ein Gesetz durch das Parlament, das die beiden unabhängigen (und von den USA finanzierten) Institutionen der Generalstaatsanwaltschaft und damit Präsident Wolodymyr Selenskyj direkt unterstellt.
Für Selenskyjs Kritiker, die ihm immer stärkere autoritäre Züge vorwerfen, ist die Entmachtung der Korruptionsbekämpfer ein weiterer Beweis dafür, dass sich die Ukraine in die falsche Richtung bewegt. Vor allem jüngere Menschen fürchten um die ihnen vom Präsidenten dauerversprochene Zukunft in der Europäischen Union.
Seltene offene Kritik aus der EU an Selenskyj
Die Ukraine zählt zu den korruptesten Ländern Europas und kommt trotz vollmundiger Versprechen bei der Bekämpfung kaum voran. In einer aktuellen Umfrage halten die Ukrainer Korruption für eine größere Gefahr für das Land als den täglichen Beschuss durch Russland. Anders als von Selenskyj in seinem Rechtfertigungsvideo wahrheitswidrig behauptet, sind weder die Korruption noch das Nabu von Russland gesteuert. In Wahrheit profitiert sein eigenes Umfeld auffällig oft von dubiosen Geschäften.
In ungewöhnlicher Offenheit kritisierten sowohl die EU als auch die Bundesrepublik, die Selenskyj eine Carte blanche für das Vorgehen gegen Oppositionelle ausgestellt haben, das Ausschalten der Korruptionsermittler. Ein Sprecher der EU-Kommission zeigte sich »besorgt« und bezeichnete Nabu und SAP als entscheidend für die Reformagenda des Landes.
Deutschlands Außenminister Johann Wadephul (CDU) sprach auf X von einer Belastung für den Weg in die EU. »Ich erwarte von der Ukraine die konsequente Fortsetzung der Korruptionsbekämpfung«, so Wadephul weiter. Ernsthafte Konsequenzen muss Selenskyj aber nicht fürchten. Trotz seines antidemokratischen Vorgehens werden die westlichen Unterstützer weder Geld noch Waffen zurückhalten. Das weiß Selenskyj.
Neue Istanbul-Verhandlungen ohne Durchbruch
Am Abend kamen beide Seiten zur dritten Gesprächsrunde in Istanbul zusammen. Zuvor hatte Moskau mehrfach darauf gedrängt. Selenskyj und sein Büroleiter Andrij Jermak zögerten die Verhandlungen jedoch immer wieder hinaus in der Hoffnung, zwischendurch mehr Rückendeckung aus Europa zu bekommen. Nachdem US-Präsident Donald Trump Druck ausgeübt hatte, knickte Kiew schließlich ein.
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Große Erwartungen an das Treffen gab es nicht. Ukrainische Quellen sprachen von einem rein technischen Treffen mit dem Ziel, mögliche Verhandlungen bis zum Ablauf von Trumps 50-Tages-Ultimatum am 1. September hinauszuzögern. Auch der Kreml erstickte jede Erwartung von vornherein im Keim. Das Thema Ukraine sei dermaßen komplex, dass die Vereinbarung über den Austausch und die Rückführung von Leichen bereits ein vorzeigbares Ergebnis sei, so Kreml-Sprecher Dmitri Peskow. Er sagte zugleich schwere Gespräche in Istanbul voraus, bei denen es um die Memoranden beider Seiten gehe, die »sich diametral entgegenstehen«. Das sieht auch die ukrainische Delegation so. Im russischen Memorandum gebe es nichts, das annehmbar sei, äußerte der stellvertretende ukrainische Außenminister Serhij Kislizja gegenüber der französischen Tageszeitung »Libération«.
Einem Treffen zwischen Selenskyj und Wladimir Putin, wie es der ukrainische Präsident in Unkenntnis seines eigenen Gesetzes, das ihm genau das verbietet, am Wochenende wieder einmal ins Spiel gebracht hatte, erteilte Peskow eine Absage. Solch ein Zusammenkommen stehe zurzeit nicht auf der Agenda, da zuvor noch »viel auszuarbeiten« sei.
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