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KZ Sachsenburg: Eine brutale Versuchsanordnung
Ab 2028 soll endlich eine würdige Gedenkstätte an eines der wichtigsten frühen Konzentrationslager der Nazis erinnern
Die Schießscheiben dienten erst zur Abschreckung und dann zum Spannungsabbau. Mykola Borovyk, der bei der Stadt Frankenberg als wissenschaftlicher Mitarbeiter für eine künftige Gedenkstätte Sachsenburg beschäftigt ist, zeigt auf ein mit konzentrischen Kreisen bedrucktes Kartonrechteck, das von Einschüssen zerlöchert ist. Gefunden hat man es an den Dachschrägen eines Gebäudes, das früher als Kommandantur des Lagers diente. Dort wurden die Pappen auf die Bretter unter der Tapete geklebt, um zu verhindern, dass diese bei Temperaturschwankungen riss. Zerschossen, sagt Borovyk, wurden sie zuvor unmittelbar neben dem Appellplatz, auf dem die Insassen des Lagers Sachsenburg regelmäßig anzutreten hatten. »Das diente der Abschreckung«, sagt Borovyk: »Terror war hier alltäglich.«
»Hier« heißt: in einem mehrstöckigen Fabrikgebäude am Ufer der Zschopau, das eine Baumwollspinnerei beherbergt hatte, bevor es im Mai 1933 von den Nazis in Beschlag genommen wurde. Es diente fortan als eines der frühen Konzentrationslager, in denen die neuen Machthaber politische Gegner und andere missliebige Personen, etwa Zeugen Jehovas, internierten und malträtierten. Das Lager bestand bis Mitte 1936; insgesamt wird von 7200 Insassen ausgegangen, von denen etliche die Haft nicht überlebten. Max Sachs etwa, jüdischer Sozialdemokrat, Redakteur und Landtagsabgeordneter, wurde zunächst in einem Steinklopferkommando geschunden und dann von SA-Leuten derart misshandelt, dass die Leichenwäscherin die Arbeit an dem zerschundenen Körper verweigerte.
Borovyk führt an einem grauen Sommertag über das Gelände. Am Sockel des wuchtigen Fabrikgebäudes zeigt er die Stelle, an der die Schießscheiben angebracht wurden. In der früheren Kommandantur klettert er auf engen Treppen über Bauschutt und macht auf einen 1933 angebrachten Wandfries aufmerksam. Am Ufer der Zschopau weist er auf eine Tafel aus Beton, die das Lager sofort nach der Errichtung als Ort der Umerziehung darstellte: »Man wollte der Gesellschaft beweisen, dass die Insassen durch gemeinnützige Arbeit zu ›guten Deutschen‹ gemacht werden sollten«, sagt Borovyk.
Es gibt auf dem weitläufigen Areal viele Orte, an denen auf die Geschichte hingewiesen wird: Schrifttafeln eines »Pfads der Erinnerung«; Porträts von Häftlingen, die im Zuge eines Schülerprojekts in den Fenstern des Pförtnerhauses angebracht wurden; die aus Rochlitzer Porphyr gehauene Figurengruppe eines Erinnerungsortes aus der DDR-Zeit. Was es bisher nicht gibt, ist eine Gedenkstätte, die den Namen verdient: mit einer profunden Dauerausstellung, Seminarräumen, Büros für Mitarbeiter, Toiletten und einer Garderobe.
Gerungen wird darum seit Jahrzehnten. Eine recht einseitige DDR-Ausstellung wurde 1990 geschlossen. Danach verschwand der Ort aus der sächsischen Gedenklandschaft. Nur ehrenamtliche Initiativen wie die von Enrico Hilbert geleitete »Lagerarbeitsgemeinschaft« und die Schülerinitiative »Klick« von Anna Schüller, aus der die heutige »Geschichtswerkstatt Sachsenburg« hervorging, hielten die Erinnerung wach. Sie forschten, sammelten Material, hielten Kontakt zu Zeitzeugen und veranstalteten einmal jährlich den »Sachsenburger Dialog«. Dennoch schrieb 2017 der »Spiegel« von Sachsenburg als »vergessenem KZ«. Im Jahr darauf schuf die Stadt Frankenberg die Stelle für Borovyk, der als Historiker zuvor an Hochschulen tätig war und seine Ideen jetzt praktisch umsetzen wollte. »Dass ich damit so lange befasst sein würde«, sagt er, »habe ich nicht geahnt.«
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Auch in seiner Amtszeit gab es immer wieder Probleme und Tiefpunkte. 2018 wurde der erste Antrag der Stadt auf Fördergelder vom Bund abgelehnt. Neben fachlichen Fragen wurde bemängelt, es gebe kein Betreiberkonzept, unklare Eigentumsverhältnisse und Abrisspläne für eine ehemalige Kommandantenvilla, die einen »erheblichen Teil« des geplanten Ensembles ausmache. Später wurde das Gebäude tatsächlich abgerissen, was bundesweite Proteste auslöste. »Das war schade«, sagt Borovyk, »aber leider war es schon eine Ruine und nicht mehr zu retten.« Irgendwann sagte der Bund doch zu, die Hälfte der geplanten Baukosten von fünf Millionen Euro zu übernehmen; der Freistaat stellte 1,5 Millionen aus ehemaligem DDR-Parteivermögen bereit. Die Arbeiten an einem ersten Bauabschnitt, der beispielsweise die Sanierung einer Brücke und den Bau von Außenanlagen und eines Parkplatzes umfasste, begannen. Dann ein neuer Schock: Im Mai wurde bekannt, dass der in finanziellen Nöten befindliche Freistaat im Haushalt für 2025 einen Finanzierungsstopp für Sachsenburg verhängt hat. Das Projekt drohte zu scheitern. Der Verband der Gedenkstätten in Deutschland warnt, es könne als »Investitionsruine« enden.
Das wäre äußerst fatal gewesen, wie auch andere Kritiker anmerkten. Sachsenburg, sagt Borovyk, ist eines von wenigen Beispielen, an denen sich zeigen lässt, wie die Nazis ihr Lagersystem entwickelten. »Sie wussten, sie wollten Konzentrationslager«, sagt der Historiker, »aber sie wussten anfangs noch nicht genau, wie.« Offene Fragen betrafen etwa Zuständigkeiten und Finanzierung, das System der Überwachung, die Lagerordnung. Sachsenburg unterstand anfangs dem sächsischen Innenministerium, das für die Villa des Kommandanten einen ordentlichen Mietvertrag abschloss. Monatlich 25 Reichsmark waren zu zahlen; die Räume seien, so wurde festgehalten, »pfleglich zu behandeln«.
Später übernahm die SS die Einrichtung. Sie erprobte hier Abläufe, Praktiken der Misshandlung etwa durch überharte körperliche Arbeit im Steinbruch, Techniken der Einschüchterung. In Sachsenburg wurde auch Personal für die späteren Großlager ausgebildet, als deren »Vorhölle« die frühen Lager oft bezeichnet werden. Zwei Männer, die das KZ Sachsenburg leiteten, führten später die KZ Buchenwald, Majdanek und Groß-Rosen. In Zellen, die im Erdgeschoss der Kommandantur samt einiger Inschriften erhalten sind, seien nicht nur Häftlinge interniert worden, sondern auch Wachleute, die nicht die erwünschte Härte gezeigt hätten, sagt Borovyk: »Hier wurden auch die eigenen Leute diszipliniert und für spätere Lager wie Auschwitz abgerichtet.« Sachsenburg ist gewissermaßen eine brutale Versuchsanordnung. Es zeige, sagt der Historiker, »ein System im Werden«.
»Die Nazis wussten, sie wollten Konzentrationslager. Aber sie wussten anfangs noch nicht genau, wie.«
Mykola Borovyk Historiker
All das kann nun hoffentlich doch in einer Gedenkstätte mit einer fundierten Ausstellung dargestellt werden. Nach bundesweiten Presseberichten darüber, dass Sachsen die »Vorhölle« fallen lasse, stellte der Freistaat noch einmal 1,46 Millionen Euro aus früherem DDR-Parteivermögen zur Verfügung, womit die Kofinanzierung der Fördermittel des Bundes gesichert ist. Damit könne »dieses wichtige Projekt, das der Erinnerung und Aufklärung dient, fortgeführt und erfolgreich abgeschlossen werden«, sagte Frankenbergs CDU-Bürgermeister Oliver Gerstner. Sachsens Kulturministerin Barbara Klepsch (ebenfalls CDU) sprach von einem »wichtigen Signal für die Erinnerungskultur« und fügte an, es könne »nahtlos weitergebaut« werden.
Dieser Tage wird etwa an den Überresten der Kommandantenvilla gebaut. Von dieser ist nur der Sockel aus Naturstein erhalten; alle anderen Teile seien nicht zu retten gewesen, sagt Borovyk: »Selbst die Kellerwände und der Fußboden im Erdgeschoss waren marode.« Gerade wird eine neue Bodenplatte gegossen. Darauf soll eine Metallkonstruktion errichtet werden, die die Silhouette des zweistöckigen Gebäudes nachempfinden lässt, das mit seinen Fensterläden, dem Rankgitter und dem Zierbrunnen im Vorgarten auch in einem Dresdner Villenviertel hätte stehen können. Die Villa habe zu den Besonderheiten des frühen KZ Sachsenburg gehört, sagt der Historiker: »Sie stand mitten im Lager, vom Schlafzimmer ging der Blick auf den Appellplatz.« Umfasst war sie allerdings von einem Stacheldrahtzaun. Zudem hätten die Familien der Kommandanten nicht mit in dem Haus gewohnt. »Das war nicht wie in ›The Zone of Interest‹«, sagt Borovyk. Der Film zeigt das Leben der Familie von Rudolf Höß, dem Lagerkommandanten von Auschwitz, in ihrem Haus unmittelbar neben dem Vernichtungslager.
Die Installation, mit der an die Villa als »Täterort« erinnert wird, soll bis Ende 2025 stehen; bis zu dem Zeitpunkt müssen die Mittel aus der ersten Zuwendung des Landes ausgegeben sein, heißt es von der Stadtverwaltung. Ebenfalls noch in diesem Jahr sollen Sicherungsarbeiten am Dachstuhl des Gebäudes beginnen, in dem einst die Kommandantur des Lagers untergebracht war. Auch hier ist höchste Eile geboten, sagt Mykola Borovyk: »Die Bausubstanz ist zu 90 Prozent marode.« Das Gebäude ist freilich nicht nur äußerst baufällig, sondern auch verwinkelt und besteht aus zahllosen kleinen Räumen: »Es ist unglaublich kompliziert konstruiert«, sagt er. Um modernen Anforderungen etwa an einen barrierefreien Zugang zu genügen, sind erhebliche Umbauten notwendig.
Trotzdem ist Borovyk zuversichtlich, dass bis 2028 ein modernes Ausstellungs- und Besucherzentrum entstehen wird. Auf Plänen, die auf seinem Schreibtisch liegen, führt er in Gedanken schon einmal durch die Exposition, die zweigeteilt sein soll: ein schneller Rundgang für Gelegenheitsbesucher, etwa Radtouristen vom nahen Zschopautal-Radweg. Daneben soll es Räume geben, in denen Informationen vertieft werden. Borovyk setzt auf einen partizipativen Ansatz und künstlerische Installationen, die Besucher auch einmal »durchatmen lassen«. Insgesamt rechne man künftig mit 10 000 Gästen im Jahr, sagt Stadtsprecherin Sandra Saborowski. 2024 waren es trotz der vielen Provisorien immerhin 1000.
In drei Jahren also könnte das lange Ringen um eine Gedenkstätte in Sachsenburg nach vielen Rückschlägen doch noch von Erfolg gekrönt sein. Wichtig wäre es. Die bundesweite Arbeitsgemeinschaft »Gedenkstätten an Orten früher Konzentrationslager«, die 19 Gedenkorte in zwölf Bundesländern vertritt, merkt an, die Bedeutung von Sachsenburg als »Tatort zur Zerstörung der Demokratie« sei nicht hoch genug einzuschätzen.
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