Good Morning, Lenin!

Sozialstaat und Sozialismus, das klingt ja fast genauso

Vom Spatz lernen heißt siegen lernen: immer schön ins gemachte Nest setzen
Vom Spatz lernen heißt siegen lernen: immer schön ins gemachte Nest setzen

Erst neulich beklagte Thomas Mayer, ein Kolumnist, der für eine konservative Zeitschrift, aber auch für eine konservative Tageszeitung tätig ist, dass wir in einem »überfetteten Versorgungsstaat« leben. Die Reichen (»Leistungsträger«) müssten endlich gegen die ganze niederträchtige Sozialstaatsschweinerei »Widerstand« leisten, so lautet, kurzgefasst, sein flammender Appell. Nur dann nämlich sei sichergestellt, dass demnächst hierzulande die Armen nicht mehr leben wie die Maden im Speck. Denn, so die These: Nur wer nichts bekommt und nichts hat außer Hunger – sprich: vom Staat nicht permanent durchgefüttert beziehungsweise gemästet wird –, hat auch einen Anreiz, ins boomende Pfandflaschensammelbusiness oder in ein anderes vielversprechendes Gewerbe (stundenweise Vermietung von Parkbänken und U-Bahn-Eingängen) einzusteigen und sich so eine erfolgreiche Unternehmerexistenz aufzubauen.

Die hiesigen Medienschaffenden bezeichnen einen solchen Meinungsbeitrag gern als einen »mutigen Vorstoß«. Auch als der Bundeskanzler neulich vor Kühnheit zitternd eine »mutige Neuaufstellung des Sozialsystems« forderte und der eine oder andere Zuhörer, leise ahnend, was hiermit gemeint sein mag, vielleicht innerlich zusammenzuckte, übernahmen nahezu alle Journalisten diese Wortwahl: »mutige Neuaufstellung des Sozialsystems«. Aus dem Public-Relations-Deutschen ins Deutsche rückübersetzt bedeutet das ungefähr: Abschaffung der verbliebenen Reste des »Sozialsystems«. Arbeit bis zum Tod, Rente ab 80, Streichung aller Sozialleistungen. Es ist ja auch nicht einzusehen, warum eine arbeitslos gewordene Busfahrerin, ein Maschinenschlosser oder Literaturwissenschaftler künftig nicht für 30 Cent die Stunde Herbstlaub zusammenkehren oder öffentliche Toiletten reinigen sollen.

Warum sollte man Spatzen, diese nutzlosen, faulen Schädlinge, die vor allem nervtötende Geräusche von sich geben und das Stadtbild verschandeln, füttern?

Anders formuliert: Hat der eingangs zitierte Kolumnist etwa nicht recht? Und ist die antiquierte Vorstellung der CDU/CSU von einem »Sozialstaat« (»Wenn man die Pferde gut füttert, fällt für die Spatzen auch etwas ab«) heute nicht vollkommen überholt und vorgestrig? Warum sollte man Spatzen, diese nutzlosen, faulen Schädlinge, die vor allem nervtötende Geräusche von sich geben und das Stadtbild verschandeln, füttern? Wer braucht Spatzen? Im Internet ist zu lesen: »Spatzen leben in Kolonien und sind sehr gesellig, was zu einer erhöhten Lärmbelästigung führen kann. Ihr Gesang und ihre Rufe können für Menschen störend wirken.«

Anders gesagt: Spatzen sind gewissermaßen die Bürgergeldempfänger beziehungsweise Obdachlosen unter den Tieren. So wird der ganze Irrsinn unseres politischen Systems sichtbar: Dem überfetteten gierigen kleinen Mann, der, vom Staat rundumversorgt und sorgenfrei, frech sein »Bürgergeld« in Bars und Puffs verjubelt – dem »Spatzen« also –, steht gewissermaßen der »Adler« gegenüber, der Leistungsträger unserer Gesellschaft, jener aufopferungsvolle, schaffensfrohe, unermüdlich tätige Unternehmer, der im Schweiße seines Angesichts seinem Gewerbe nachgeht, immer im Dienst des Gemeinwohls, beispielsweise – so wie der anfangs genannte konservative Kolumnist – als hohes Tier bei der Deutschen Bank oder als Chef einer »Denkfabrik«, die einem auf Vermögensverwaltung spezialisierten deutschen Finanzdienstleistungsinstitut gehört, das Investmentfonds und Beratung für Privatkunden sowie institutionelle Investoren anbietet.

Statt also Tabula Rasa zu machen, den verlausten Sozialschmarotzern endlich beizubiegen, was Arbeit ist, und konservative Kolumnisten finanziell zu entlasten, damit sie Denkfabriken und Vermögensverwaltungsunternehmen gründen können, hat die deutsche Politik seit 1990, also seit dem Kommunismus der Garaus gemacht wurde, »den Wohlfahrtsstaat zum umfassenden Versorgungsstaat ausgebaut«, so analysiert unser konservativer Kolumnist.

Die Zahl der Empfänger staatlicher Transferleistungen wächst seither ununterbrochen, was natürlich zur Folge hat, dass dieser Pöbel maßgeblich die politische Marschrichtung vorgibt, sozusagen schleichend und hinter den Kulissen unsere Bundesrepublik in einen sozialistischen Schweinestaat umwandelt. Am Ende einer solchen verheerenden investorenfeindlichen Che-Guevara-Politik steht schließlich die Ausbeutung der schutzlosen Randgruppe der Milliardäre durch das nimmersatte Heer der Bürgergeldempfänger: »Das führt schlussendlich zur finanziellen Ausbeutung der Minderheit der Leistungsträger durch die Mehrheit der Nutznießer des Versorgungsstaats.«

Die gute Kolumne

Thomas Blum ist grundsätzlich nicht einverstanden mit der herrschenden sogenannten Realität. Vorerst wird er sie nicht ändern können, aber er kann sie zurechtweisen, sie ermahnen oder ihr, wenn es nötig wird, auch mal eins überziehen. Damit das Schlechte den Rückzug antritt. Wir sind mit seinem Kampf gegen die Realität solidarisch. Daher erscheint fortan montags an dieser Stelle »Die gute Kolumne«. Nur die beste Qualität für die besten Leser*innen! Die gesammelten Texte sind zu finden unter: dasnd.de/diegute

Am Horizont droht bereits eine DDR 2.0: »Wir sind auf gutem Weg zu einer Neuauflage der Wirtschaftsordnung der Deutschen Demokratischen Republik.« Wenn niemand rechtzeitig die kommunistische Gefahr aufhält, wird demnächst »die Mehrheit der Nettoempfänger staatlicher Zuwendungen die im Inland verbliebenen Leistungsträger und Vermögensbesitzer mehr oder weniger enteignen«. Reichensteuer, Wegzugssteuer, Vermögenssteuer, Erbschaftssteuer: Die »Machtergreifung der Interessenvertreter der Empfänger staatlicher Zuwendungen« steht unmittelbar bevor. Die Leistungswilligen werden ausgezuzelt, bis sie vollständig entkräftet und hilflos auf ihren Diwan sinken, während ihr fassungsloser Blick auf ihre leergeräumten Schweizer Konten fällt. Schlimmstenfalls, so unser warnender Kolumnist, kommt es »zur jakobinischen Terrorherrschaft im Namen der Mehrheit«.

Ich bin mir nicht sicher, ob eine »jakobinische Terrorherrschaft im Namen der Mehrheit« in einer besseren Zukunft nicht eine grundsympathische und wünschenswerte Sache wäre.

Sicher ist jedenfalls: Wenn der von Mayer prognostizierte und derzeit im Verborgenen bereits stattfindende ungebremste Vormarsch eines neuen Sozialismus aufgehalten werden soll, braucht es eine mutige Neuaufstellung des Sozialsystems.

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