Hochverrat von der Hinterbank

Kiew klagt den Abgeordneten Fedir Chrystenko an – er ist nicht der einzige Oppositionelle im Gefängnis

  • Bernhard Clasen, Kiew
  • Lesedauer: 4 Min.
Fedir Chrystenko scheint in einen Machtkampf in der Ukraine geraten zu sein.
Fedir Chrystenko scheint in einen Machtkampf in der Ukraine geraten zu sein.

Nach über drei Jahren im Ausland traf der Abgeordnete Fedir Chrystenko vor wenigen Tagen wieder in der ukrainischen Hauptstadt Kiew ein. Ganz freiwillig dürfte die Rückkehr nicht gewesen sein. Berichten des Nachrichtenportals Dserkalo Tyschnja zufolge soll Rustem Umerow, Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates und ehemaliger ukrainischer Verteidigungsminister, die Rückkehr organisiert haben. Und Chrystenko, der nach Angaben seiner Ehefrau von Sicherheitskräften der Vereinigten Arabischen Emirate verhaftet worden war, wurde vom stellvertretenden Chef des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes SBU, Olexandr Poklad, persönlich vor Ort abgeholt.

Chrystenko, der elf Tage vor Russlands Überfall im Februar 2022 die Ukraine verlassen hatte, hatte seitdem überwiegend im Golfstaat gelebt. Geldsorgen wird er wohl keine gehabt haben. Er soll in Kiew zwei Wohnungen, ein Haus im Gebiet Kiew, eine große Wohnung in Russland und knapp drei Millionen Dollar in bar sein Eigen nennen.

Chrystenko soll Verbindungen zum FSB haben

Das Interesse des SBU an dem Hinterbänkler der Plattform für das Leben, der im Parlament vor allem durch Abwesenheit geglänzt hatte, wurde im Juli dieses Jahres nach Hausdurchsuchungen in 70 Wohnungen von Mitarbeitern des Nationalen Antikorruptionsbüros der Ukraine (Nabu) durch den Geheimdienst geweckt. Im Rahmen der Aktion wurden die beiden hochrangigen Nabu-Mitarbeiter Ruslan Magamedrasulow und Oleksandr Skomarow wegen des Verdachts der Zusammenarbeit mit Russlands Inlandsgeheimdienst FSB festgenommen. Und genau mit diesen beiden angeblich enttarnten russischen Agenten soll Chrystenko in Verbindung gestanden haben.

Nach Angaben der ukrainischen Ermittlungsbehörden wurde Chrystenko bereits lange vor Beginn des russischen Angriffskriegs im Februar 2022 von Moskau rekrutiert. In den Jahren 2020 bis 2021 soll er aktiv Aufträge für den russischen Auslandsgeheimdienst ausgeführt haben. In seinem Kontakt mit Organen der Strafverfolgung habe er geheimdienstlich relevante Informationen gesammelt und an russische Stellen weitergeleitet. Und so übermittelte die Staatsanwaltschaft im Juli 2025 Chrystenko ihren Verdacht des Landesverrats. Gleichzeitig wurde gegen ihn ein Haftbefehl erlassen.

Korruptionsermittler wehren sich gegen Anschuldigungen

Eine entscheidende Rolle bei den Vorwürfen gegen Chrystenko spielt der im Untersuchungsgefängnis des SBU inhaftierte Magamedrasulow, Leiter einer überregionalen Abteilung des Nabu in den Gebieten Saporischschja und Dnipropetrowsk. Die »Ukrajinska Prawda« berichtete unter Berufung auf eine Quelle innerhalb der Antikorruptionsbehörden, Magamedrasulow sei an Ermittlungen gegen den Geschäftsmann Timur Minditsch, einer Person aus dem Umfeld von Präsident Wolodymyr Selenskyj, beteiligt gewesen.

Nabu-Mitarbeiter wehren sich dagegen, in eine Ecke mit Putin-Freunden gestellt zu werden. In einem von 300 Mitarbeitern unterschriebenen Schreiben erklären sie, fest davon überzeugt zu sein, »dass die Ereignisse, die sich im Juli 2025 in Bezug auf die Mitarbeiter des Nationalen Büros ereignet haben, eine durch politische Ziele bedingte Willkür der Justiz darstellen«.

Das Nachrichtenportal Strana sieht in den Vorgängen um Chrystenko und Magamedrasulow den Versuch von Präsident Selenskyj, die unabhängigen Antikorruptionsbehörden zu diskreditieren.

Mehrere Oppositionspolitiker in Haft

Unterdessen wurde bekannt, dass das Nabu und die Sonderstaatsanwaltschaft für Korruption den ehemaligen Leiter der Cyberabwehrabteilung des SBU, General Ilja Witjuk, in Verdacht haben, sich illegal bereichert und über sein Vermögen gelogen zu haben. Der SBU, berichtet das Portal Glawkom, sieht darin eine Racheaktion des Nabu für die Festnahme seiner Mitarbeiter.

Fedir Chrystenko ist nicht der einzige ukrainische Abgeordnete, der aktuell in Haft sitzt. Zuvor wurden bereits Nestor Schufrytsch, Jewhen Schewtschenko und Olexandr Dubinskyj festgenommen. Schewtschenko soll mit öffentlichen Aussagen angeblich Hochverrat begangen haben. Dubinskyj bezeichnet sich selbst als »politischen Gefangenen«, der »auf persönlichen Befehl von Selenskyj ins Gefängnis geworfen« wurde.

EU fordert mehr Demokratie

Der Umgang mit oppositionellen Politikern in der Ukraine wird auch in der EU allmählich zum Thema. Vor wenigen Tagen stellte Brüssel klar, Kiew müsse für einen EU-Beitritt die Sanktionen gegen die Opposition abschaffen. Ohne Namen zu nennen, kritisierte Michael Gahler, Europaabgeordneter der CDU und Berichterstatter des Europäischen Parlaments für die Ukraine, den mangelnden Reformprozess.

»Wir fordern den Schutz und die Stärkung der politischen Vielfalt, die Unabhängigkeit der Justiz und die Transparenz der Gerichtsverfahren. Wir fordern ein Ende der veralteten und politisch motivierten Prozesse und Sanktionen gegen Oppositionsmitglieder, die Wahrung des parlamentarischen Pluralismus und die Förderung eines konstruktiven Dialogs zwischen den Fraktionen in der Werchowna Rada sowie die Aufhebung aller Beschränkungen für Auslandsreisen von Mitgliedern der Werchowna Rada im Zusammenhang mit der Ausübung ihrer Befugnisse und politischen Aktivitäten«, sagte Gahler im Europaparlament.

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