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Brasilianische Gewerkschaften: »Wir sind in der Defensive«
Eine Gesetzesreform in Brasilien hat die Perspektiven für Gewerkschaften deutlich erschwert. In der Kleinstadt Ibiraci allerdings keimt Hoffnung
Auf dem Tresen im Gewerkschaftsbüro liegen die Hüllen für die Ausweise der neuen Mitglieder. Schwarz sind sie, illustriert mit einer silberfarbenen Silhouette eines kämpferischen, mit breitkrempigen Hüten versehenen Paares. Darunter steht »Gewerkschaft der Landarbeiter und Landarbeiterinnen von Ibiraci und Capetinga«. Ibiraci ist eine Kleinstadt mit rund 11 000 Menschen. Capetinga liegt nur 27 Kilometer entfernt und zählt gut 7000 Einwohner. Den beiden Kleinstädten ist gemein, dass sie umgeben sind von langen Reihen mit Kaffeesträuchern, die sich in leicht gebogenen Linien über die umliegenden Höhen und Täler schlängeln. »Hier dreht sich fast alles um die aromatischen Bohnen. Wir leben vom Kaffee, arbeiten im Zyklus der Ernte, die gerade zu Ende gegangen ist. Von Jahr zu Jahr schreitet die Mechanisierung voran«, so Eliana dos Santos.
Die Frau mit den optimistisch leuchtenden Augen, Anfang 50, ist die Vorsitzende der Gewerkschaft und hat schon länger keinen neuen Ausweis mehr ausgestellt. »Unsere jüngsten Mitglieder sind um die 35 Jahre alt, unsere ältesten deutlich über 60, einige sind schon in Rente. Uns fehlt der Nachwuchs«, berichtet dos Santos. Sie steht am Tresen, wo die Ausweise liegen. Hinter ihr hängt das schwarze Brett, worauf der offizielle Mindestlohn und ein paar weitere Informationen stehen. Daneben prangt ein revolutionär anmutendes Plakat.
»Landarbeiter sind kämpferisch«, erklärt die resolute Frau mit der dicken, schwarzen Brille. »Vor zwei Jahren war unser Büro schon geschlossen – wir waren pleite. Doch dann haben wir einen Tarifvertrag ausgehandelt und darin fixiert, dass jeder und jede, der bzw. die davon profitiert, auch einen Tageslohn pro Jahr an die Gewerkschaft abführen muss«, erklärt dos Santos. Das führte zum Comeback der kleinen Regionalgewerkschaft in Ibiraci. Die Idee, den überlebenswichtigen Passus im Tarifvertrag zu fixieren, kam von der CUT, dem größten Gewerkschaftsdachverband in Brasilien, erzählt dos Santos.
Bis 2017 zeichnete sich Brasilien durch eine vielfältige Gewerkschaftsbewegung aus. Unter der Ägide der liberal-konservativen Regierung von Michel Temer kam es zu einer Reform der Arbeitsgesetzgebung, deren negative Auswirkungen bis heute zu spüren sind. Mehr als 100 Artikel des Arbeitsgesetzes wurden mit dem Verweis auf den Arbeitsmarkt und der Schaffung neuer Jobs modifiziert. Das führte zu einer Flexibilisierung der Arbeitsverträge, der Zugang zu den Arbeitsgerichten wurde erschwert und die Gewerkschaften geschwächt.
Die Abschaffung der bis dahin für alle Beschäftigten obligatorischen Gewerkschaftsabgabe von einem Tageslohn pro Jahr traf die 16.342 Gewerkschaften in Brasilien empfindlich. Viele Gewerkschaften rutschen in die finanzielle Krise und ein Jahr später waren nur noch 11.327 Gewerkschaften im Wirtschaftsministerium registriert.
Inzwischen kann von einer leichten Erholung gesprochen werden, denn im April 2025 waren 12.416 Gewerkschaften registriert. Fakt ist aber, dass die Gewerkschaften heute deutlich fragmentierter sind, dass es in einzelnen Regionen des Bundesstaates Mina Gerais keine von den ursprünglich acht Gewerkschaften mehr gibt. Das ist in landwirtschaftlich für den Kaffee- oder den Orangenanbau intensiv genutzten Bundesstaaten wie Minas Gerais, Espirito Santo, Rondônia oder Sāo Paulo ein Problem. Dort fehlen den Erntekolonnen aus armen Bundesstaaten wie Bahia, Perambuco oder Paraiba schlicht Ansprechstellen, schreibt die CUT in einer internen Analyse.
Das schlägt sich auch negativ auf die Zahl der organisierten Arbeiter*innen nieder. Von über 100 Millionen Beschäftigten waren 2023 genau 8,4 Prozent organisiert. 2012 waren es noch 16,1 Prozent oder 14,4 Millionen Menschen gewesen.
Für viele kleine Regionalgewerkschaften ist der Tipp aus der CUT-Rechtsabteilung überlebenswichtig, denn nachdem der automatische Lohnabzug 2018 im Zuge der Arbeitsrechts-Reformen unter Präsident Michel Temer gekippt worden war, gerieten viele, wie die Landarbeitergewerkschaft von Ibiraci, in die finanzielle Schieflage. »Davon und von der Flexibilisierung der Arbeitsgesetzgebung haben wir uns bis heute nicht richtig erholt«, erklärt Eliana dos Santos.
Unter permanentem Druck
Mit den beiden rechten Regierungen – zunächst die von Michel Temer, der die linke Präsidentin Dilma Rousseff im August 2016 ablöste, und danach die erzkonservative, strikt liberale von Jair Bolsonaro ab 2019 – ist ein Rechtsruck in der brasilianischen Gesellschaft einhergegangen. Zwar regiert seit Januar 2023 wieder Luis Inácio Lula da Silva, Ex-Präsident und Metallarbeiter, das Land, aber ohne eigene Mehrheit. »Lula verfügt nur über ein Drittel der Mandate, muss mit kleineren konservativen Parteien koalieren. Er kommt an der im Parlament gut vernetzten Agrarlobby kaum vorbei, kann nicht wie in seinen ersten beiden Amtszeiten gestalten«, analysiert Eliana dos Santos und zieht die Stirn missbilligend in Falten. Dann weist sie den Weg in den Versammlungsraum, der hinter dem Empfangsraum mit dem Tresen liegt. Hier treffen sich einmal pro Woche die Gewerkschaftsaktivist*innen und diskutieren über lokale Initiativen und die politische Situation.
Das steht auch heute auf dem Programm von rund einem Dutzend Landarbeiter*innen, die sich eingefunden haben. Darunter Roberto Do Sausa Costa, der als erster nach der Vorstellungsrunde das Wort ergreift: »Brasilien macht seit 2017 eine politische, eine moralische, eine finanzielle und in vielen Regionen auch eine ökonomische Krise durch«, erklärt der groß gewachsene, kräftige Mann von Ende 50.
»Es gab keine Lebensmittel, kein Gas zum Kochen. Die Bedingungen waren unmenschlich.«
Roberto Do Sausa Costa Maschinist
»Ibiraci und die umliegenden Orte liegen rund 1100 Meter über dem Meeresspiegel. Die Bedingungen für den Anbau von Arabica-Kaffee sind exzellent und in den letzten Jahren ist vieles rund um die Ernte mechanisiert worden«, so Do Sausa Costa. Er und sein Kollege Leandro Bastos sind Maschinisten. Sie lenken je nach Saisonabschnitt ein Erntefahrzeug, einen Traktor oder bedienen eine Maschine, die die getrockneten Kaffeebohnen je nach Größe in einer der Verarbeitungs- und Lagerhallen sortiert. Die eigentliche Erntearbeit, das Pflücken der Kaffeekirschen, übernehmen angeworbene Migrant*innen aus Bundesstaaten wie Bahia oder Pernambuco. »Meist werden die Pflücker*innen von Arbeitsvermittlern, das sind in aller Regel Männer, angeworben. Oft erhalten sie keine Verträge, meist werden mündliche Absprachen getroffen und nicht immer eingehalten«, schildert Bastos das Kernproblem. Das belegen auch Berichte landesweit aktiver Landarbeitergewerkschaften wie Contar. 70 Prozent der Landarbeiter*innen in Brasilien arbeiten demnach ohne formale Arbeitsverträge, sind den Arbeitgebern bzw. den Anwerbern oft ausgeliefert und werden häufig ausgebeutet.
Das ist auch in der Region von Ibiraci vorgekommen, erzählt Eliana dos Santos. »Vor ein paar Jahren haben wir, Roberto, ich und ein paar andere, etwa zwei Dutzend Pflücker*innen aus sklavenähnlichen Arbeitsverhältnissen befreit«. Die Kriterien dafür definiert Artikel 149 des Strafgesetzbuches in vier Punkten: Zwangsarbeit, Schuldknechtschaft, menschenunwürdige Arbeitsbedingungen und unmenschliche Arbeitszeiten. Während der Ernte von Kaffee, aber auch von Orangen und anderen Früchten, die oft nach Europa exportiert werden, kommt das immer wieder vor.
Formal zuständig ist das Arbeitsministerium, welches Anzeigen und Beschwerden nachgehen muss und Inspektionen vor Ort vornehmen kann – auch ohne Anmeldung. »Als wir damals auf den Fall aufmerksam wurden, hätte es jedoch noch mindestens 14 Tage gedauert, bis das Arbeitsministerium eingeschritten wäre. Also sind wir aktiv geworden«, erinnert sich dos Santos mit einem stolzen Lächeln.
Gemeinsam mit ein paar Kollegen sind sie zur Polizeistation gefahren, haben zwei, drei Beamte davon überzeugt mitzukommen und sind auf die Kaffee-Fazenda gefahren, wie das landwirtschaftliche Gehöft in Brasilien genannt wird. »Dort haben wir fast zwei Dutzend Erntearbeiter*innen, darunter auch Minderjährige, befreit«, berichtet Eliana dos Santos. Die Unterkunft war erbärmlich, das Badezimmer nicht abschließbar. Auf vier Zimmer mussten sich die Familien, die sich untereinander nicht kannten, mit den Minderjährigen verteilen. »Es gab keine Lebensmittel, kein Gas zum Kochen. Die Bedingungen waren unmenschlich«, erinnert sich Roberto Do Sausa Costa. »Wir haben die Menschen zunächst hier im Gewerkschaftsbüro mit Essen versorgt, später haben sich die Behörden dann um sie gekümmert«, erinnert er sich.
Vereinbarungen wie die Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) sind im nationalen Recht verankert, ebenso die Konvention gegen Zwangsarbeit. Trotzdem wurden in Brasilien in den vergangenen 20 Jahren laut Arbeitsministerium rund 65.000 Menschen aus sklavenähnlichen Arbeitsverhältnissen befreit – im Jahr 2023 waren es insgesamt 2.575.
Fehlende Präsenz – fehlende Hilfe
Die Experten der Nichtregierungsorganisation Repórter Brasil machen dafür skrupellose Arbeitsvermittler, profitorientierte Agrarunternehmen und ein laxes Kontroll- und Justizsystem verantwortlich. In den vergangenen Jahren kommt erschwerend hinzu, dass Gewerkschaften in vielen ländlichen Regionen des Landes verschwunden sind. »In unserem Bundesstaat Minas Gerais haben in den letzten fünf Jahren acht kommunale Gewerkschaften aufgegeben. In anderen Regionen sieht es nicht anders aus. «Wir brauchen neue Konzepte, um die Gewerkschaften als elementaren Teil der Zivilgesellschaft zu erhalten und zu stärken», mahnt Eliana dos Santos. Damit ist sie nicht allein. Mehrere der etwa sieben gewerkschaftlichen Dachverbände, die es in Brasilien gibt, arbeiten an neuen Konzepten, sehen sich jedoch einem politisch konträren Umfeld gegenüber.
Die Arbeiterpartei und die ihr inhaltlich verbundenen Parteien kommen nur auf ein knappes Drittel der Stimmen im Parlament. Dem gegenüber steht die politisch gut vernetzte Agrarlobby, der Block aus Soja-, Orangen-, Kaffee- und Obstbauern sowie großen Agrar- und Investitionsgesellschaften. Gleichwohl hat es die Regierung von Luiz Inácio Lula da Silva geschafft mit der Erhöhung des Mindestlohns und einem Gesetz zur Lohnparität zu punkten. «Das ist positiv, aber bei den strukturellen Problemen der Gewerkschaften, dem Mitgliederschwund und der Formulierung von Zukunftsoptionen, befinden wir uns in der Defensive», erklärt Eiliana dos Santos unverblümt. Ein Problem ist, dass viele Gewerkschaften oft nur kommunal organisiert sind, also weder regional noch in einem oder mehreren der 24 Bundesstaaten aktiv sind.
Hinzu kommt, dass es am Nachwuchs fehlt. Auch dafür ist die Runde, die sich im Gewerkschaftsbüro in Ibiraci eingefunden hat, ein gutes Beispiel. Der Jüngste heißt Walter dos Santos da Silvia und ist 32 Jahre alt. Er ist der Sohn von Eliana dos Santos, die nur zu gern neue Mitgliedsausweise ausstellen würde. Doch es fehlt an der Nachfrage.
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