Lieferando in Berlin: Kleiner Streik, großes Echo

150 Beschäftigte des Lieferdienstes Lieferando legen in Berlin die Arbeit nieder

Tatsächlich eine »Tarifbaustelle«: Ein Tarifvertrag bei Lieferando liegt in weiter Ferne.
Tatsächlich eine »Tarifbaustelle«: Ein Tarifvertrag bei Lieferando liegt in weiter Ferne.

Vorab hatte die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) zwei Ziele ausgelobt. Der Streikaufruf an die Berliner Beschäftigten des Lieferdienstes Lieferando sollte eine »deutlich dreistellige Anzahl von Beschäftigten« dazu bringen, die Arbeit niederzulegen. Und die Forderungen der Gewerkschaft sollten einen gewissen Handlungsdruck bei der Politik auslösen. Das hatte der Gewerkschaftssekretär Veit Groß Anfang der Woche zu »nd« gesagt.

Am Ende kommen am Donnerstagmittag etwa 150 Personen zu einer Streikkundgebung zusammen, geschätzte 100 von ihnen sind Beschäftigte von Lieferando, der Rest Unterstützer*innen. Das Medieninteresse ist groß.

Seit Jahren kämpft die NGG bei Lieferando für einen Tarifvertrag, um bessere Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Seitdem im Sommer bekannt wurde, dass Lieferando 2000 Fahrer*innen und damit 20 Prozent seiner sogenannten Flotte entlassen und durch Subunternehmen ersetzen wird, fordert die Gewerkschaft darüber hinaus einen Sozialtarifvertrag. Damit will sie die Folgen für die Gekündigten beispielsweise durch Abfindungen und längere Kündigungsfristen abdämpfen. Kleine Streiks hat es seitdem immer wieder im ganzen Bundesgebiet gegeben. Bisher verschließt sich Lieferando einem wie auch immer gearteten Tarifvertrag.

Kaum Auswirkungen auf den Betrieb

Die NGG hat nach eigenen Angaben »über 150 Streikende« erfasst, geht aber von einer Dunkelziffer aus. Das teilte die Gewerkschaft auf Anfrage mit. Aufgerufen waren 1900 Kurier*innen und Support-Mitarbeiter*innen. »Insgesamt hielt sich die Streikbeteiligung in Grenzen«, erklärte Lieferando, es habe keine negativen Auswirkungen auf den Betriebsablauf gegeben, Kund*innen hätten jederzeit einschränkungsfrei bestellen können, ohne auf ihr Essen länger warten zu müssen. Man habe vorab die Kapazitäten in den betroffenen Schichten durch mehr eingeteilte eigene Mitarbeiter*innen erhöht und auch »zusätzliche Flottenpartner« beauftragt, so das Unternehmen.

Das unabhängig von der Gewerkschaft agierende Lieferando Workers Collective (LWC) sieht es als Erfolg, dass am Streiktag das Personal aufgestockt werden musste. Am Ende seien zwar weniger als zehn Prozent der Beschäftigten dem Streikaufruf gefolgt, es sei dennoch »der größte Streik von Ridern jemals in Deutschland« gewesen, teilt das LWC mit.

Gewerkschaft rechnet mit weiteren Einschnitten

Lieferando warf der NGG eine »irreführende Skandalisierung« vor. Die Gewerkschaft hatte zuvor erklärt, dass sie davon ausgehe, Lieferando würde über das bisher kommunizierte Niveau hinaus einen weiteren Stellenabbau planen. »Lieferando weigert sich komplett, eine Zukunftsklausel zu unterschreiben, mit der sie die restlichen Beschäftigten absichern würden. Deshalb befürchten wir, dass Lieferando den kompletten Betrieb auf die Schattenflotten umstellen könnte. Das ist zumindest unsere Arbeitshypothese«, sagte Gewerkschaftssekretär Veit Groß.

Lieferando wollte sich unter Verweis auf Wettbewerbsgründe nicht dazu äußern, mit wie vielen Fahrer*innen das Unternehmen in Berlin langfristig plant. Bekannt ist, dass ein Abbau der eigenen Belegschaft organisch, also ohne unternehmensseitige Kündigungen erfolgen kann, etwa durch auslaufende befristete Verträge und Kündigungen durch die Beschäftigten selbst. Ohne regelmäßige Neueinstellungen schrumpft so die Belegschaft.

Antrittskundgebung in der Nähe der Warschauer Brücke in Friedrichshain
Antrittskundgebung in der Nähe der Warschauer Brücke in Friedrichshain

Lieferando werde bundesweit lediglich fünf Prozent der bisher selbst erbrachten Lieferungen an andere Logistikunternehmen auslagern, teilt das Unternehmen weiter mit. Von allen Bestellungen, die über die Bestell-App eingehen, werden wiederum lediglich fünf Prozent durch Lieferando und seine Subunternehmen zugestellt. Die Verarbeitung und Lieferung der restlichen 95 Prozent übernehmen die Restaurants selbst.

In Berlin werde sich das Liefergeschäft mit eigenen Fahrer*innen künftig »auf zentrale Stadtgebiete und Wohnquartiere mit einer hohen Restaurant- und Bestelldichte konzentrieren«, schreibt Lieferando auf Nachfrage. In den Außenbezirken würden sogenannte Flottenpartner die Aufträge übernehmen. Für die eigenen und die Fahrer*innen bei den Flottenpartnern würden sich die Bedingungen dadurch verbessern, dass weniger Strecke pro Bestellung gefahren werden müsse. Mehr Bestellungen würden mehr Boni und mehr Trinkgeld bedeuten.

Rider wollen »legale Arbeit«

Auf der Streikkundgebung schildert Alexandra, die nach eigener Aussage bis zum Beginn dieses Jahres für Lieferando in Spandau ausgefahren hat, wie das Unternehmen das Bestellgeschäft dort an den Flottenpartner Fleetlery abgegeben habe. Die in Spandau ansässigen Lieferando-Angestellten mussten seitdem ihre Arbeit weiter in die Innenstadt verlagern. Wer weiter in Spandau fahren wolle, muss auf Fleetlery umsteigen. Diverse Medien berichteten zuletzt von fragwürdigen Bedingungen bei Fleetlery, etwa von Barzahlungen und einer Provision, die man zahlen müsse, um für die Lieferando-App freigeschaltet zu werden und Aufträge zu bekommen. Alexandra beklagt, dass zu wenige Kolleg*innen mitstreiken würden.

»Die Bedingungen bei Lieferando gelten als die besten in der Branche, dabei wäre alles andere illegal. Wir verteidigen das absolute Minimum.«

Kurier von Lieferando

Es sind vor allem die Beschäftigten, die sich das Mikrofon in die Hand geben. Klar wird: Im Vordergrund steht nicht Angriff, sondern Verteidigung. Ein Fahrer von Uber Eats berichtet von seinen Erfahrungen mit dem Flottenpartnermodell, auf das die Lieferando-Konkurrenten Uber Eats und Wolt maßgeblich setzen: »Uns fehlt es an Lohn, an der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, wir bekommen keine Gehaltsabrechnungen und haben keine Gewerkschaft.« Die Versammelten skandieren immer wieder: »Wir wollen legale Arbeit.«

Ein Lieferando-Mitarbeiter sagt: »Die Bedingungen bei Lieferando gelten als die besten in der Branche, dabei wäre alles andere illegal. Wir verteidigen das absolute Minimum.« Lieferando spricht von Durchschnittsgehältern von 14 Euro pro Stunde und mehr. Viele Fahrer*innen berichten, dass sie das in der Realität kaum erreichen. Auch aus anderen Ländern sind Kolleg*innen da. Ein Fahrer aus Österreich berichtet, dass Lieferando dort im März sämtliche 900 Fahrer*innen entlassen und durch Flottenpartner ersetzt hat. »Ein Tarifvertrag hat uns nicht davor geschützt und hat jetzt, wo wir für andere Firmen fahren, keine Gültigkeit mehr.«

Politik fordert Direktanstellungsgebot

Etliche Politiker*innen bringen ihre Solidarität mit den Beschäftigten zum Ausdruck. »Ihr haltet den Laden am Laufen, ihr seid das Stadtbild«, sagt etwa der Linke-Bundestagsabgeordnete Ferat Koçak. Der Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus, Werner Graf, sagt: »Lieferando muss Abstand davon nehmen, die gewerkschaftlichen Strukturen zu zerschlagen.« Graf spricht sich für eine Pflicht der Festanstellung aus.

Zur Abschlusskundgebung erscheint auch Berlins Arbeitssenatorin Cansel Kiziltepe (SPD). »Der Konkurrenzkampf in der Branche wird auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen.« Gute Arbeitsbedingungen und Arbeitsrechte würden umgangen. Sie sagt, Berlin habe in die diesjährige Konferenz der Arbeits- und Sozialminister*innen, die im November tagt, einen Antrag eingebracht, mit dem ein Direktanstellungsgebot für die Lieferdienste gefordert werde. »Das heißt: Schluss mit diesen dubiosen Subunternehmerketten, Schluss mit dieser organisierten Verantwortungslosigkeit«, sagt Kiziltepe. Dem Ansinnen haben sich andere Bundesländer bereits angeschlossen. Es dürfte am Ende aber wohl beim Appell bleiben.

Die Linke will deshalb noch einen Schritt weiter gehen. Berlin müsse eine entsprechende Bundesratsinitiative einleiten, sagt der Abgeordnete Damiano Valgolio zu »nd«. Seine Fraktion habe daher entschieden, einen entsprechenden Antrag ins Abgeordnetenhaus einzubringen. Darin werden unter anderem das Direktanstellungsgebot analog zu Regelungen in der Fleischindustrie gefordert sowie verstärkte Kontrollen und eine konsequente Umsetzung der EU-Plattformrichtlinie auf Bundesebene.

Die Richtlinie erfordert von den Mitgliedstaaten Regelungen, die Unternehmen auch für Arbeitsrechtsverstöße bei ihren Subunternehmern haftbar machen. Bis Ende 2026 sollen sie in Kraft getreten sein.

Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD), deren Haus derzeit den Gesetzentwurf zur Umsetzung der Richtlinie erarbeitet, lässt den Streikenden in Berlin ein Grußwort übermitteln. Auf »nd«-Anfrage teilt das Ministerium mit, dass der Richtlinie zufolge Plattformtätige beim Subunternehmen denselben Schutz genießen müssen wie bei einer direkten Anstellung bei der Arbeitsplattform. Bei der konkreten Umsetzung lasse die Richtlinie den Mitgliedstaaten Spielraum. Das Ministerium prüfe alle in Betracht kommenden Maßnahmen, so ein Sprecher.

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