»Es brach die Hölle los«

Aus der Bundestags-Debatte zum 75. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion

  • Lesedauer: 10 Min.

Norbert Lammert, Bundestagspräsident

Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dieser Debatte erinnern wir an den deutschen Angriffskrieg gegen die Sowjetunion, einen beispiellosen Vernichtungsfeldzug im Osten Europas, der in der menschenverachtenden nationalsozialistischen Rassenideologie wurzelte, an das unvorstellbare Leid so vieler Russen, Weißrussen und Ukrainer sowie von Millionen von Soldaten und von noch mehr Zivilisten, die Opfer nationalsozialistischen Unrechts geworden sind. Vor allem aber sehen wir heute unsere Verantwortung, mit all unseren Möglichkeiten darauf hinzuwirken, dass etwas Vergleichbares nie wieder geschieht.

Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Teilung Europas wurde in der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa gemeinsam nach Wegen gesucht, die eine geregelte friedliche Entwicklung auf unserem Kontinent ermöglichen. Die KSZE-Schlussakte von 1975 schwor einer Konfrontationspolitik ab. Sie war die Lehre aus einer furchtbaren historischen Gewalterfahrung vor 1945. (...) Wenn wir heute an den deutschen Überfall auf die Sowjetunion erinnern, bekräftigen wir unseren Willen, diesen Lehren einer Geschichte, für die unser Land mehr Verantwortung trägt als alle anderen, gerecht zu werden und nie und nirgends zu dulden, dass diese unumstößlichen Prinzipien von Freiheit und Frieden in Europa infrage gestellt werden.

Frank-Walter Steinmeier, Außenminister

In den frühen Morgenstunden des 22. Juni 1941 brach die Hölle los. Millionen deutsche Soldaten, Hunderttausende Fahrzeuge und Pferde, Tausende Panzer, Flugzeuge und Geschütze wurden auf Befehl Hitlers mit aller Kraft gen Osten geworfen. Über 25 Millionen Menschen in der Sowjetunion, Weißrussen, Ukrainer, Russen und andere, sollten in diesem Angriffskrieg ihr Leben verlieren. Das Ausmaß des Leidens ist nicht in Worte zu fassen. (...)

Mir persönlich ist kaum ein Moment der letzten Jahre so tief in Erinnerung, kaum ein Moment inmitten der vielen aktuellen Turbulenzen hat mich so bewegt wie der Besuch in der Kriegswüste von Stalingrad vor einem Jahr. Am 70. Jahrestag des Kriegsendes stand ich mit meinem russischen Kollegen Lawrow auf den öden Flächen vor den Toren der Stadt. Bis zum grauen Horizont reichen die Kreuze der Kriegsgräber, russische und deutsche darunter; stumm stehen die Kreuze dort, wo unter furchtbaren Qualen Abertausende Menschen ihr Leben verloren. Und Stalingrad - das wissen wir - ist nur ein Ort des Grauens. Was Deutsche in der Sowjetunion angerichtet haben, dürfen wir niemals vergessen, und genau deshalb sind wir hier.

Wir sind hier, um zu erinnern, und wir sind hier, um uns im Erinnern der Verantwortung zu vergewissern, die wir Deutsche für den Frieden auf diesem Kontinent tragen. Denn unserem Land, von dem so viel Unheil ausgegangen ist, ist es über die Jahrzehnte nach dem Krieg vergönnt gewesen, Schritt um Schritt wieder hineinzuwachsen ins Herz der internationalen Gemeinschaft. (...)

Von einem Zeitalter des Friedens sind wir heute weit entfernt, weiter, leider, als wir jemals seit dem Ende des Kalten Krieges waren. Blutige Konflikte toben in Europas Nachbarschaft. Doch auch mitten durch Europa geht ein tiefer Riss. Mit der Annexion der Krim und der Destabilisierung der Ostukraine hat sich erstmals seit dem Ende des Kalten Krieges ein Unterzeichnerstaat der Schlussakte von Helsinki offen gegen eines der leitenden Prinzipien der europäischen Friedensordnung gestellt, die Unverletzlichkeit der Grenzen und die Souveränität eines anderen Staates. Gerade weil wir unsere historische Verantwortung für die europäische Friedensordnung ernst nehmen, war es diese deutsche Bundesregierung, die auf diesen Prinzipienbruch klar und unmissverständlich reagiert hat und die unsere Partner in diese Reaktion eingebunden hat. Das Gefühl der Bedrohung, das insbesondere im Baltikum, aber auch in anderen Teilen Ost- und Mitteleuropas entstanden ist, nehmen wir ernst. (...)

Worauf es ankommt, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist, dass wir bei all dem nicht aus den Augen verlieren, dass wir uns im Bündnis spätestens seit dem Harmel-Bericht von 1967 von zwei gleichrangigen Prinzipien haben leiten lassen: Deterrence and Détente. Oder in Deutsch: Abschreckung und Entspannung durch Dialog - Grundsätze, die uns später zur NATO-Russland-Akte geführt haben und die wir gerade jetzt nicht zur Disposition stellen sollten, wie manche es fordern. Denn zur Verantwortung für den Frieden auf diesem Kontinent gehört auch, die richtigen Lehren aus dem blutigen 20. Jahrhundert zu ziehen. Zu diesen Lehren gehört, sich nicht in einer endlosen Spirale der Eskalation zu verlieren. Zu diesen Lehren gehört die Bereitschaft, und zwar auf allen Seiten, immer wieder Auswege aus der Konfrontation zu suchen, und zu diesen Lehren gehört: so viel Verteidigungsbereitschaft wie nötig, so viel Dialog und Zusammenarbeit wie möglich. Beide Säulen müssen stark sein. (...)

Ich gebe zu: All das sind keine neuen Einsichten, sondern diese Prinzipien erwachsen tief aus unserer gemeinsamen Geschichte. Dauerhafte Sicherheit in Europa kann es nur mit und nicht gegen Russland geben. Seien Sie gewiss, ich sage in Russland genauso: Es kann dauerhafte Sicherheit für Russland nur mit und nicht gegen Europa geben. (...)

Vor einem Jahr, am Abend nach dem Besuch auf den Schlachtfeldern von Stalingrad, kamen der Kollege Lawrow und ich in die Stadt, die heute Wolgograd heißt. Auf dem Paradeplatz gaben russische und deutsche Musiker gemeinsam ein Friedenskonzert. Als wir eintrafen, begrüßten uns Tausende Bürgerinnen und Bürger von Wolgograd, viele von ihnen Veteranen, alte, stolze Menschen in Uniform, die, die die Hölle von Stalingrad überlebt haben. Was mich berührt hat: Sie begrüßten den deutschen Außenminister, den Vertreter des Volkes, das ihnen so viel Leid über die Stadt und über die Familien gebracht hat, nicht mit Ablehnung, sondern mit Herzlichkeit, mit Beifall und mit tränenreichen Umarmungen. Da war kein Vorwurf, sondern das Signal der Menschen an uns beide war: Gut, dass ihr zusammen hier seid. Nehmt eure Verantwortung ernst, gerade in dieser Zeit.

Gregor Gysi, Linksfraktion

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir zwei kritische Bemerkungen zum politischen Umgang mit dem 75. Jahrestag: Die erste Anmerkung. (…) Ohne die Linksfraktion hätte es hier auch nicht die vereinbarte Debatte gegeben. Eine Gedenkveranstaltung des Bundestages wäre angemessen gewesen; denn die Opfer eignen sich nun wahrlich nicht für eine Instrumentalisierung in Abhängigkeit von der Qualität der deutsch-russischen Beziehungen. Die zweite Anmerkung. Zum 75. Jahrestag des Überfalls reist Bundespräsident Gauck durch verschiedene Länder, nur nicht nach Russland. Ich hoffe, dass bald ein Besuch des Bundespräsidenten in Russland nachgeholt wird. (...)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die heutigen Beziehungen des Westens - der USA, der Europäischen Union, darunter auch Deutschland - zur Russischen Föderation könnten wahrlich besser sein. Es gab die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland, aber es gab vorher auch einen völkerrechtswidrigen Krieg der NATO gegen Jugoslawien, und es gab eine völkerrechtswidrige Lostrennung des Kosovo. Russland hat sich strikt dagegen gewandt, hatte jedoch keine Chance. Aber Russland reagierte nicht mit dem Rasseln von Säbeln, sondern hat im Kosovo bei der Befriedung noch mitgewirkt. Die USA und die EU reagieren dagegen auf die völkerrechtswidrige Annexion der Krim mit Sanktionen gegen Russland, die NATO mit der Verlegung von Soldaten nach Osten an die russische Grenze, mit groß angelegten Militärmanövern gegen Russland. Was sollen diese Gebärden des Westens? Wenn sich die Russen eingekreist fühlen, reagieren sie äußerst nervös. Den für sie überraschenden Überfall durch Hitler-Deutschland haben sie bis heute nicht vergessen. Bringt das militärische Gebaren der NATO uns dem Frieden und der Sicherheit in Europa nur einen Schritt näher, hilft das der Ukraine? Nein, im Gegenteil.

Sie, Herr Außenminister, haben kürzlich gesagt: »Was wir jetzt nicht tun sollten, ist, durch lautes Säbelrasseln und Kriegsgeheul die Lage weiter anheizen.« Nur, weshalb nimmt die Bundeswehr dann an dem Säbelrasseln teil? Weshalb haben auch Sie als Außenminister dem Treiben der NATO zuvor zugestimmt? 250 Soldaten der Bundeswehr werden an die russische Grenze verlegt, weil sich Nachbarstaaten durch Russland bedroht fühlen. Was heißt das? Bedeutet das erstens, dass ab jetzt Soldaten entsandt werden wegen eines Gefühls? Bedeutet das zweitens, wenn es eine wirkliche Gefahr gäbe, reichen 250 Soldaten? Die halten nicht einmal einen Tag. Drittens. Meinen Sie, es ist die richtige Symbolik, 75 Jahre nach dem Überfall Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion deutsche Soldaten an die russische Grenze zu entsenden? Ich finde das völlig falsch. Wir wissen doch, dass dieses Säbelrasseln nur zu einem neuen Wettrüsten in Europa nach Überwindung des Kalten Krieges führt, bei dem außer den Rüstungskonzernen niemand gewinnen wird, aber alle in Europa verlieren werden. (...)

75 Jahre nach dem Überfall sollten wir innehalten, der Opfer des Vernichtungskrieges Deutschlands gedenken und mindestens folgende Lehre daraus ziehen: Wir haben in Europa nur eine friedliche, sichere Zukunft mit, nicht ohne Russland und schon gar nicht gegen Russland.

Jürgen Hardt, CDU

Herr Gysi, Sie haben einige Dinge aus der Geschichte angesprochen und diese sicherlich richtig dargelegt. Allerdings möchte ich Ihnen an einem Punkt massiv widersprechen. Dass Sie das Gedenken an den Überfall auf die Sowjetunion in Zusammenhang mit NATO-Einsätzen im ehemaligen Jugoslawien bringen, die zum Ziel hatten, massenweises Ermorden von Menschen und ethnische Säuberungen zu verhindern, finde ich, offen gesagt, weder der Geschichte noch Ihrem Intellekt angemessen. Das möchte ich in aller Klarheit zurückweisen.

Ich sehe es als positives Zeichen, dass die NATO gesprächsbereit ist und die NATO-Mitgliedstaaten auch in vielen anderen Formaten mit den Russen im Dialog sind. Insofern sind wir zuversichtlich, dass der Konflikt letztendlich auf diesem Wege zu lösen ist. Dass wir uns auf der anderen Seite rückversichern müssen, dass wir unseren Partnern Rückendeckung geben müssen, ist auch richtig - wenngleich das Bild des Säbelrasselns meines Erachtens im Zusammenhang mit der NATO völlig unangemessen ist.

Ich habe zuerst gedacht, ich sei vielleicht zu empfindlich. Aber wenn man im Internet einmal schaut, was Säbelrasseln bedeutet, dann liest man: Es ist aggressives Angriffsgehabe. Das ist im Zusammenhang mit der NATO völlig unangemessen. Das Bild des Igels wäre besser. Herr Außenminister, wenn Sie das Bild verwendet hätten, dass sich die NATO nicht einigeln, sondern gesprächsbereit bleiben soll, dann hätten Sie für diese Äußerungen vielleicht auch den Beifall der Union bekommen.

Marieluise Beck, Grüne

Wir debattieren heute an dem Tag, an dem vor 75 Jahren der Krieg, der ein erklärter Vernichtungskrieg war, gegen die Sowjetunion begann. (…) Der Zweite Weltkrieg begann jedoch nicht mit dem Ostfeldzug. Dem hinterhältigen Überfall auf die Sowjetunion ging ein Nichtangriffspakt voraus, den Molotow und Ribbentrop mit Datum vom 23. August 1939 in Moskau unterzeichneten. Diesem Abkommen war ein geheimes Zusatzprotokoll angeheftet, in dem die Aufteilung Mittel- und Osteuropas zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion vereinbart wurde. Das begründet auch die Empfindlichkeit der »Zwischenländer«, wie Timothy Snyder sie nennt.

Am 1. September folgte dann der deutsche Angriff auf Polen, der den Beginn des Zweiten Weltkriegs markiert. Am 17. September marschierte die Rote Armee von Osten in Polen ein. Damit war Polen von zwei Seiten besetzt, und in beiden Teilen des Landes errichteten die totalitären Regime eine Schreckensherrschaft mit Hunderttausenden Toten.

Stalin hatte die Belastbarkeit seines Paktes mit Hitler überschätzt. Herr Gysi hat eben darauf hingewiesen, wie überrascht Stalin war, als Hitler sich gegen ihn wandte. (...)

Weit über 5 Millionen Soldaten der Roten Armee gerieten in Gefangenschaft. Wie die gesamte slawische Bevölkerung wurden auch sie als sogenannte Untermenschen entwürdigt. Der Schutzstatus von Kriegsgefangenen nach der Genfer Konvention wurde ihnen versagt. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen in den sogenannten Russenlagern ähnelten denen in Konzentrationslagern. Über die Hälfte der sowjetischen Kriegsgefangenen starb in der Gefangenschaft. Heute leben nur noch wenige von ihnen. Es ist an der Zeit, dass das schwere Unrecht, das an diesen Kriegsgefangenen begangen wurde, von unserem Parlament als nationalsozialistisches Unrecht anerkannt wird.

Die Sowjetunion existiert nicht mehr. Die historische Schuld, die das Deutsche Reich auf sich geladen hat, und die Verantwortung, die uns bis heute daraus erwächst, gelten also allen Menschen der Nachfolgestaaten, das heißt, den Menschen in Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Estland, Georgien, Kasachstan, Kirgistan, Lettland, Litauen, Moldawien, Russland, Tadschikistan, Turkmenistan, in der Ukraine und Usbekistan. All diesen Ländern müssen wir in dem Wissen gegenübertreten, dass wir ihnen gegenüber eine historische Verantwortung tragen, und für ihre Freundschaft dankbar sein. Ich wünsche mir, dass wir irgendwann einmal in den Hauptstädten all dieser Länder diesen Tag mit unseren Parlamentskollegen als Gedenktag gemeinsam gestalten.

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