Ein Buch, das an jede Schule gehört

Dringend nötig und erschwinglich: Die Bundeszentrale für politische Bildung bringt das Protokoll des NSU-Prozesses heraus

Zunächst muss man diese vier Namen nennen: Annette Ramelsberger, Wiebke Ramm, Tanjev Schulz und Rainer Stadler. Denn diese vier Journalistinnen und Journalisten haben Presse- und Demokratiegeschichte geschrieben, über Jahre hinweg, mit dem Laptop auf den Knien, denn Tische gibt es nicht in den Zuschauerreihen der Gerichtssäle: Sie haben den gesamten NSU-Prozess dokumentiert. Von 2013 bis 2018, fünf Jahre lang, standen in München Beate Zschäpe und einige Helfer jener Neonazi-Terrorgruppe vor Gericht, die sich Nationalsozialistischer Untergrund nannte und mindestens neun Menschen aus migrantischen Familien sowie eine Polizistin ermordete.

Sechs Jahre zog sich die Mordserie des NSU hin, sehr lange tappten die Behörden - bewusst oder unbewusst - im Dunkeln und folgten einer falschen Spur im migrantischen Milieu. Erst nach dem Suizid der Terroristen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos im November 2011 wurde die Dimension der rechtsextremistischen Gewalt deutlich.

Weil von dem Prozess gegen den NSU-Komplex, der unter verschärften Sicherheitsmaßnahmen stattfand, kein offizielles Protokoll angefertigt wurde, übernahmen vier Journalisten diese Aufgabe, die für die »Süddeutsche Zeitung« tätig waren und zum Teil noch sind. An jedem der 438 Verhandlungstage war einer von ihnen anwesend, um den Verlauf des juristischen Geschehens zu dokumentieren. Fünf Jahr in unmittelbarer Nähe zu Opfern und Hinterbliebenen, aber auch zu den Tätern. Eine enorme körperliche, mehr noch aber eine seelische Strapaze. Sie habe sich, sagte Mitautorin Annette Ramelsberger in einem Interview, irgendwann gefühlt »wie die Zellennachbarin von Beate Zschäpe«.

Fünf Angeklagte, 14 Verteidiger, 91 Nebenkläger, mehr als 600 Zeugen, zahlreiche Gutachter - das ist das Personal dieses Dramas, das teilweise eine Farce war. 12 000 Seiten Mitschrift sind entstanden - die Motivation der Autoren: einerseits eine Art Schuldgefühl, trotz aller Recherchen zu der Mordserie nicht auf die richtige Spur gekommen zu sein; andererseits die dokumentarische Aufgabe zu erfüllen, der sich das Gericht nicht widmete. Die Protokollanten haben nicht jedes Wort festgehalten, das konnten sie gar nicht, da keine Tonmitschnitte zur Verfügung standen. Aber alles auch nur halbwegs Wichtige, für das Verständnis des Geschehens Hilfreiche ist in den Mitschriften konserviert.

Viel, sehr viel ist über den NSU und den NSU-Prozess geschrieben worden. Die renommierte Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen hat erst kürzlich ihr Buch »Der Prozess« vorgelegt. Es gibt Filme, Theaterstücke, unzählige publizistische Beiträge. Das alles ist richtig und notwendig, aber nichts kann so authentisch Auskunft geben über diesen Prozess wie diese Protokolle. Auszugsweise waren sie Jahr für Jahr im Magazin der »Süddeutschen Zeitung« erschienen; 2018 veröffentlichte sie der Kunstmann-Verlag in einer aufwändigen, teuren, fünfbändigen Ausgabe.

Nun, ein Jahr nach dem Urteil, hat die Bundeszentrale für politische Bildung die Prozessprotokolle neu herausgebracht - in zwei Bänden, für nur sieben Euro. Erschwinglich für jedermann. Volksausgabe hätte man so etwas früher wohl genannt. Diese Bücher gehören an jede Schule, in jede Bibliothek. Denn sie geben Auskunft über eine Gesellschaft, in der solche Verbrechen wie die des NSU möglich werden. Über überlebende Opfer und Hinterbliebene, die der Einäugigkeit der Behörden hilflos gegenüber stehen. Über Ermittler, die in einer Mischung aus Unwilligkeit und Unfähigkeit ihren Teil zu den Verbrechen beigetragen und deren Aufklärung erschwert, wenn nicht verhindert haben.

Die Protokollanten erlebten einige erschütterte, aber auch einige in ihrer Naziüberzeugung unerschütterliche Angeklagte. Sie erlebten die Fassungslosigkeit von Menschen, die bei den NSU-Anschlägen ihre nächsten Angehörigen verloren; das joviale Auftreten mancher Anwälte, die diesen Prozess als Durchlauferhitzer für ihre Karriere betrachteten; den öffentlichen Druck, unter dem die Juristen arbeiten mussten. Im Zeugenstand hörten sie eingefleischte Nazis, gedankenlose Mitläufer der rechten Szene, hilflose Eltern, die sich das Abdriften ihrer Kinder nach rechts nicht erklären können.

Dieses Buch ist keine erbauliche Lektüre; sie ist belastend, aber dringend nötig. Sie ist anstrengend, denn neben all der Gewalt und Menschenverachtung der rechtsextremen Täter wird deutlich, wie schwierig und mühsam die juristische Aufarbeitung ist. Ein »Hochamt der Zermürbung« nannte Ramelsberger den ganzen Prozess. Und die Lektüre ist umso erschreckender, da im Umfeld des Mordes an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke NSU-Bezüge auftauchten, was die Vermutung bestärkt: Es handelt sich nicht um Einzeltäter.

Mit den Protokollen des NS-Prozesses ist ein wichtiges Stück politischer Aufklärung gelungen; insofern ist es nur folgerichtig, dass sich die Bundeszentrale für politische Bildung der Sache annahm. Die Autoren haben einen wesentlichen Teil des Journalistenberufs aufleben lassen, der bei der Jagd nach Sensationen, im Zeitalter der Selbstdarstellung, im Kampf um die Hoheit an den analogen und virtuellen Fake-News-Stammtischen in den Hintergrund tritt: nämlich ernsthafte, akribische Chronisten der Zeitgeschichte zu sein, die sich selbst nicht wichtiger nehmen als ihr Thema.

Dafür ist die Gesellschaft Annette Ramelsberger, Wiebke Ramm, Tanjev Schulz und Rainer Stadler zu Dank verpflichtet. Ihr Buch gehört ganz unbedingt zum Kanon des demokratischen Grundwissens.

Annette Ramelsberger/Wiebke Ramm/ Tanjev Schultz/Rainer Stadler: Der NSU-Prozess. Das Protokoll. Band 1: Beweisaufnahme, Band 2: Plädoyers und Urteil, Materialien. Hrsg. v. d. Bundeszentrale für politische Bildung, 2015 S., br., 7 €.

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