«Holocaust-Disney» in der Ukraine

In der Gedenkstätte Babyn Jar sollen Besucher künftig die Nazi-Massaker an der jüdischen Bevölkerung nachspielen

  • Denis Trubetskoy, Kiew
  • Lesedauer: 6 Min.

Vier Minuten dauert es, um in der U-Bahn-Haltestelle Dorohoschytschi mit der Rolltreppe nach oben zu fahren. Dann steht man inmitten einer der schönsten Gegenden Kiews. Bis in die frühe Nachkriegszeit gab es hier nichts als eine große Schlucht, heute ist sie zu großen Teilen mit Erde aufgefüllt und als Park gestaltet, der besonders bei Familien und Sportlern geschätzt ist. Daran angrenzend reiht sich ein fünfstöckiger Wohnblock neben den anderen. Der Ort könnte geradezu idyllisch sein, wenn nicht der Verkehr über die breiten Straßen tosen würde, die als wichtige Verkehrsadern die Bezirke der Stadt miteinander verbinden.

«Ganz ehrlich: Ich bin 2016 in die Nähe von Dorohoschytschi gezogen. Und ich habe erst drei Monate später realisiert, dass ich fast unmittelbar neben Babyn Jar wohne», erzählt Danylo, ein ukrainischer Journalist, der in die Gegend übersiedelte, weil sie nur zwei Metrostationen vom Stadtzentrum entfernt ist.

Das Massaker von Babyn Jar
Bis um die Jahrtausendwende hielt sich in Deutschland der Mythos von der »sauberen« Wehrmacht. Kriegsverbrechen, Völkermord und Holocaust waren demnach einzig das Werk Adolf Hitlers und seiner willigen Vollstrecker, der SS und dem Sicherheitsdienst (SD). Das Massaker von Babyn Jar und die Aufarbeitung nach Kriegsende widerlegten diese These jedoch schon frühzeitig.
Die Schlucht am damaligen Stadtrand von Kiew war 1941 der Schauplatz des größten einzelnen Massakers an jüdischen Männern, Frauen und Kindern im Zweiten Weltkrieg. Über 100 000 Menschen wurden dort ermordet, mehr als 33 000 allein zwischen dem 29. und 30. September 1941.
Die Wehrmacht spielte bei der Planung und Durchführung des Massakers eine entscheidende Rolle. Generalfeldmarschall Walter von Reichenau forderte im Oktober 1941 seine Truppen explizit dazu auf, in den besetzten Ostgebieten »über das hergebrachte einseitige Soldatentum hinausgehen«. Mit dem »Reichenau-Befehl« verfolgte er den Zweck, »Erhebungen im Rücken der Wehrmacht, die erfahrungsgemäß stets von Juden angezettelt wurden, im Keime zu ersticken«.
Nach der Befreiung Kiews durch die Rote Armee im November 1943 untersuchten Mitarbeiter der »Außerordentlichen Staatlichen Kommission für die Feststellung und Untersuchung der Verbrechen der deutschen faschistischen Eindringlinge« die Vorfälle. In einem ersten Kriegsverbrecherprozess von Kiew im Januar 1946 wurden fünfzehn Deutsche angeklagt. Das Massaker von Babyn Jar war auch einer der Anklagepunkte in den Nürnberger Prozessen. SS-Standartenführer Paul Blobel, einer der verantwortlichen Organisatoren, wurde im Jahr 1948 im Einsatzgruppen-Prozess zum Tode verurteilt. Felix Jaitner

Wie ihm dürfte es vielen anderen Anwohnern gehen, und das hat auch einen Grund: Erst im Herbst 2016 hat die Ukraine zum ersten Mal gebührend an den 75. Jahrestag des Massakers in der Kiewer Schlucht erinnert. Der Park wurde renoviert, entstanden ist eine Gedenkstätte aus rund 20 Denkmälern und Tafeln, die an den Ort des Grauens erinnern. Alleine im September 1941 haben Einheiten der Wehrmacht und der SS in Babyn Jar rund 34 000 Juden ermordet, insgesamt liegt die Opferzahl von Babyn Jar bei über 100 000 Menschen.

Dass die Erinnerung an Babyn Jar lange Zeit vernachlässigt wurde, hat einen guten Grund. Denn das Massaker am Stadtrand von Kiew ist in der Ukraine seit jeher ein kompliziertes Thema. Zur Sowjetzeit hat Moskau großen Wert auf das Image des Sowjetvolkes als größten und bedeutendsten Leidtragenden des Zweiten Weltkrieges gelegt, der Massenmord an den Juden passte nicht zu dieser Erzählung. Erst in den 1970er Jahren begann man in der UdSSR, sich an Babyn Jar zu erinnern, wenngleich Juden dabei nach wie vor keine Rolle spielten. Das änderte sich erst mit der Auflösung der Sowjetunion. Aber die tatkräftige Unterstützung durch die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) bei dem Morden in Babyn Jar, wird noch immer gerne verschwiegen. Als etwa der israelische Präsident Reuven Rivlin diese Kolaboration im Rahmen der Gedenkveranstaltungen im September 2016 ansprach, hagelte es Kritik von Kiewer Seite. Rivlin verbreite einen sowjetischen Mythos, hieß es seinerzeit.

In den vergangenen Monaten wurde das Thema noch einmal komplizierter. «In Kiew erinnern sich viele nicht daran, was in Babyn Jar passierte. Wir müssen etwas tun, damit die Kiewer die Tragödie wahrnehmen», meint Maxym Jakower, Generaldirektor des Holocaustgedenkzentrums Babyn Jar, das zuletzt mit seinen Appellen häufiger für kontroverse Debatten gesorgt hat.

Bei dem Zentrum handelt es sich um eine Stiftung, die seit 2015 versucht, aus Babyn Jar ein Holocaustmuseum zu machen. Das Projekt wird unter anderem vom Kiewer Bürgermeister Witali Klitschko, dem bekanntesten Sänger der Ukraine und Parlamentsabgeordneten, Swjatoslaw Wakartschuk, oder von dem mächtigen Oligarchen Wiktor Pintschuk unterstützt. Die wichtigsten Geldgeber sind allerdings zwei aus der Ukraine stammende russische Juden und Unternehmer, Michail Fridman und German Chan. Allein das hat schon für Kritik gesorgt, denn spätestens seit der russischen Annexion der Krim und dem Beginn des Donbass-Krieges im Frühjahr 2014 werden jegliche russischen Investitionen in Kiew mit Skepsis betrachtet.

Heftig kritisiert wurde auch die Einstellung des russischen Regisseurs Ilja Chrschanowskij als künstlerischer Leiter Ende des vergangenen Jahres. Chrschanowskij wurde durch sein umstrittenes Filmprojekt DAU bekannt, welches das Leben des sowjetischen Nobelpreisträgers Lew Landau in der Stalin-Zeit realistisch darzustellen versucht. Dafür hat Chrschanowskij rund 700 Stunden Filmmaterial gedreht, unter anderem eine zehnstündige Dokumentation. Die Zustände am Drehort warfen jedoch viele ethische Fragen auf. Eine Szene, auf der die Misshandlung von Landaus Kindern zu sehen ist, hatte sogar Ermittlungen durch die ukrainische Staatsanwaltschaft zur Folge.

Im April drang dann ein Konzept für das Gedenkzentrum an die Öffentlichkeit, das Chrschanowskijs Vision für Babyn Jar zeigt. Sollten davon auch nur Teile verwirklicht werden, dann wäre das neue Holocaustmuseum tatsächlich umstritten. Die Gedenkstätte möchte künftig durch psychometrische Algorithmen personalisierte Besucherprofile erstellen, die den Datenschutz aufweichen könnten. Chrschanowskij plant darüber hinaus auch soziale Experimente für seine Gäste. Verschiedene Reisen sollten angeboten werden, bei denen Besucher auch in die Rolle der Opfer, Kollaborateure, Nazis und Kriegsgefangenen übernehmen«, hieß es in der Präsentation. »Das ist eine Arbeitsversion. Wir brauchen noch etwa ein Jahr, um das Konzept wirklich fertigzukriegen«, sagte der 44-Jährige, als er auf das durchgestochene Dokument angesprochen wurde.

Seitdem das Papier bekannt ist, protestieren ukrainische Kulturschaffende und fordern Chrschanowskijs Entlassung. Der niederländische Historiker Karel Berkhoff, vorher Wissenschaftsleiter des Gedenkzentrums, ist aus dem Projekt ausgestiegen. Der österreichische Experte Dieter Bogner tat es ihm gleich und begründete seinen Schritt mit einem offenen Brief, in dem er Chrschanowskijs Pläne als »Holocaust-Disney« bezeichnete.

Neben den umstrittenen Plänen für das Holocaustmuseum sorgte die Leitung des Gedenkzentrums um Maxym Jakower für Schlagzeilen, als sie vorschlug, den U-Bahnhof Dorohoschytschi in Babyn Jar umzubenennen. Es sei jetzt nicht an der Zeit dafür, erklärte das Staatliche Institut für die Nationale Erinnerung. »Aber wir können uns gut vorstellen, dass man beim Ausstieg aus der U-Bahn extra daran erinnert wird, dass sich dort die Gedenkstätte Babyn Jar befindet«, sagte dessen Chef Anton Drobowytsch. Dieser Hinweis wurde bereits angebracht.

Drobowytschs Mission ist es eigenen Angaben zufolge, im Gegensatz zu seinem umstrittenen Vorgänger Wolodymyr Wjatrowytsch, positive Helden für alle Ukrainer zu finden, nicht nur solche wie der einstige OUN-Anführer Stepan Bandera, der teilweise mit Nazi-Deutschland kollaborierte und deswegen unter den Ukrainern polarisiert. Tatsächlich unterscheidet sich die Geschichtspolitik unter dem Präsidenten Wladimir Selenskyj und Drobowytsch kaum von der vor 2019.

»Wir haben nicht nur mit dem Namen ein Problem«, sagt Josef Sissels, ehemaliger sowjetischer Dissident und Vorsitzender der Vereinigung der jüdischen Organisationen und Gemeinden der Ukraine (Vaad), zur möglichen U-Bahn-Umbenennung. »Wenn wir solche Vorschläge ablehnen, wird uns gleich von russischer Seite Antisemitismus und Nationalismus vorgeworfen.«

Aber auch die jüdische Gemeinde ist gespalten. Die Umbenennung des U-Bahnhofs wird nur selten befürwortet, vielen Gemeindemitgliedern ist der Name Babyn Jar zu negativ besetzt. Der ewige rhetorische Gegner von Sissels, der Direktor des Ukrainischen Jüdischen Komitees, Eduard Dolinskyj, sieht die Situation aus einem anderen Blickwinkel: »Diese Umbenennung würde nichts ändern, solange Babyn Jar von Straßen umgeben wird, die allesamt nach OUN-Mitgliedern benannt werden.«

Ilja Chrschanowskij betont seinerseits sein Unverständnis dafür, dass das Gedenkzentrum als russisches Projekt abgestempelt wird: »Michail Fridman ist im westukrainischen Lwiw geboren und aufgewachsen, dort leben nach wie vor seine Eltern. German Chan stammt aus Kiew, seine Vorfahren wurden in Babyn Jar ermordet. Die Vorfahren meiner Mutter wurden in der Zentralukraine ermordet. Wir haben russische Pässe, aber heißt das, dass wir deswegen nicht unseren Vorfahren Tribut zollen dürfen?«

Klar ist, dass Babyn Jar noch weiter für Schlagzeilen sorgen wird, das zeigt auch die Debatte innerhalb der Gemeinde. Der Kiewer Jude Ihor Lewenschtejn fasst die Hoffnungen und Sorgen vieler Juden in der ukrainischen Hauptstadt zusammen: »Ich begrüße diese Idee an sich. Also endlich ein richtiges Gedenkzentrum in Babyn Jar zu gründen, das von seriösen internationalen Partnern unterstützt wird. Aber nicht über den Weg, den man gegangen ist.«

Die Einstellung von Chrschanowskij sei laut Lewenschtejn eine Sackgasse. »Es gibt Ambitionen, möglichst extravagant zu sein. Die gehen aber völlig an die ukrainischen Realitäten vorbei.« Doch letztlich, so Levenschtejn, wäre alles gut, was die Menschen daran erinnert, dass Babyn Jar nicht nur ein Riesenpark mitten in einer Kiewer Schlucht ist, sondern vor allem ein Ort des Gedenkens.

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