Nach dem Absturz

Die neoliberalen Arbeitsmarktbeschlüsse waren so wirkungs- voll, dass die Politik später wieder einschreiten musste

  • Eva Roth
  • Lesedauer: 5 Min.

Hartz IV muss weg - darüber herrscht vor der Bundestagswahl grün-rot-rote Einigkeit. Konkret fordern die drei Parteien mehr oder weniger radikale Änderungen, die jedenfalls alle zugunsten der Hilfebedürftigen gehen. So wollen Linke und Grüne eine sanktionsfreie Mindestsicherung, die SPD will nur »unwürdige« Kürzungen abschaffen. Ein Vorschlag, den sie schon 2019 präsentiert hat, ist in der Pandemie befristet beschlossen worden: Neuen Arbeitslosengeld-II-Empfängern werden die tatsächlichen Wohnkosten erstattet. Verbal hat die SPD Hartz IV komplett entsorgt: In ihrem Wahlprogramm taucht das Wort nicht auf.

Kein Wunder. Hartz IV ist zum besonders umstrittenen und von vielen verhassten Symbol für die neoliberale Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der rot-grünen Koalition um die Jahrtausendwende geworden. Indes ist Hartz IV nur ein Element der marktliberalen Strategie, die lange vor der Agenda 2010 von der deutschen Politik eingeschlagen wurde und die eine enorme Wirkung entfaltete. So sind die Gehälter von Millionen Menschen derart gesunken, dass sich der Bundestag zum Eingreifen genötigt sah. Allerdings wirken die Marktkräfte, die die Politik damals entfesselt hat, in den neu gesetzten Grenzen weiter.

Pläne der Parteien

Mindestlohn: Grüne und SPD plädieren in ihrem Wahlprogramm dafür, den gesetzlichen Mindestlohn auf zwölf Euro anzuheben, Die Linke fordert 13 Euro. Bei FDP und CDU taucht der Mindestlohn nur in Bezug auf geringfügige Beschäftigung auf: Die FDP will die Gehaltsgrenzen für Mini- und Midijobs erhöhen und an den Mindestlohn koppeln. Ähnliches plant die CDU. Minijobber werden meist sehr gering vergütet, zuletzt waren 77 Prozent von ihnen Nieriglohn-Beschäftigte. Sie sind schlecht abgesichert und haben beispielsweise keinen Anspruch auf Kurzarbeitergeld und erwerben oft nur minimale Rentenansprüche. Die AfD schreibt lediglich, dass der Mindestlohn beibehalten bleiben soll.

Hartz IV: Das Arbeitslosengeld II soll nach dem Willen der SPD nicht mehr Hartz IV heißen, sondern »Bürgergeld«. »Sinnwidrige und unwürdige Sanktionen« sollen abgeschafft sowie Vermögen und Wohnungsgröße innerhalb der ersten zwei Jahre nicht überprüft werden. Die Menschen sollen ein Recht auf Förderung beim Nachholen eines Berufsabschlusses erhalten.

Die Linkspartei schlägt eine sanktionsfreie Mindestsicherung von 1200 Euro vor, und zwar »für alle, die es brauchen: ob in Rente, Kurzarbeit, Erwerbslosigkeit oder im Studium«. Als Sofortmaßnahme fordert sie, die Regelleistungen in der Grundsicherung auf 658 Euro zu erhöhen und zusätzlich die tatsächlichen Wohn- und Stromkosten zu erstatten.

Die Grünen fordern eine Garantiesicherung, die »ohne Sanktionen das soziokulturelle Existenzminimum garantiert«. Der Regelsatz soll um mindestens 50 Euro angehoben werden und Erwerbstätigkeit »immer zu einem spürbar höheren Einkommen« führen.

Die CDU plädiert ebenfalls für »mehr Anreize zur Aufnahme einer Beschäftigung«. Dafür sollen die Regeln zur Anrechnung von Einkommen geändert werden. Nach dem Willen der FDP sollen zudem Sozialleistungen auch direkt in Lohnkostenzuschüsse umgewandelt werden können. Ein Teil des Gehalts würde damit vom Staat bezahlt.

Auch die AfD fordert, dass »dem Erwerbstätigen stets ein spürbarer Anteil des eigenen Verdienstes« verbleibt.

Die CDU spricht sich zudem explizit für die Beibehaltung von Sanktionen aus. Die FDP will Sozialleistungen wie Arbeitslosengeld II, Grundsicherung im Alter und Wohngeld in einem »Bürgergeld« zusammenfassen. rt

Privat vor Staat: Nach dieser Devise hat die Politik ab den 1980er Jahren die Privatisierung staatlicher Unternehmen vorangetrieben, etwa der Lufthansa, der Telekom und der Post. Auf den Märkten wurde der Wettbewerb zwischen Firmen gefördert, etwa im Verkehrssektor, der Energiebranche und Paketzustellung, später auch im Gesundheitswesen. In Ostdeutschland erledigte die Treuhand die Privatisierung der Wirtschaft. Tarifgebundene Unternehmen verloren an Bedeutung, der Wettbewerb wurde oft über die Lohnkosten ausgetragen.

Die Entfesselung der Marktkräfte führte nicht zu einem stabilen Wachstum des Wohlstands für alle. Ende der 1990er Jahre stieg die Zahl der Arbeitslosen auf mehr als vier Millionen, nach der Jahrtausendwende sank dann auch noch die Wirtschaftsleistung, noch mehr Menschen wurden erwerbslos. Die rot-grüne Regierung reagierte mit der Agenda 2010 und liberalisierte den Arbeitsmarkt, förderte Minijobs und Leiharbeit, kürzte die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld und führte Hartz IV ein, um den Menschen Druck zu machen, nahezu jede Arbeit anzunehmen. Dahinter stand die Ideologie: Die Menschen sind selbst hauptverantwortlich für ihre Arbeitslosigkeit, nicht die Rezession oder Unternehmen, die Beschäftigte entlassen.

Die Folge: Seit Ende der 1990er Jahre sanken die realen Bruttolöhne von Menschen, die ohnehin wenig verdienten. Auch die verfügbaren Einkommen der ärmsten Haushalte, also Nettogehälter inklusive Sozialleistungen, sanken. Im Jahr 2005, als Hartz IV in Kraft trat, erreichten die verfügbaren Einkommen einen Tiefpunkt und stiegen danach wieder etwas. Ein Grund war das starke Wirtschaftswachstum - 2006 wuchs das preisbereinigte Bruttoinlandsprodukt um vier Prozent und im Folgejahr noch mal um drei Prozent. Firmen stellten wieder mehr Personal ein, die Arbeitslosigkeit sank.

Trotz dieses Aufschwungs gingen jedoch die preisbereinigten Löhne weiter zurück, und zwar in allen Einkommensgruppen, besonders stark aber bei Geringverdienenden. Die sinkende Tarifbindung und die Agenda 2010 wirkten: Statt ordentlich bezahlten Postbot*innen klingelten miserabel entlohnte Paketzusteller an der Tür, Minijobber*innen räumten für wenig Geld Supermarktregale ein und entlassene Facharbeiter heuerten bei Leiharbeitsfirmen an. Im Jahr 2008 erhielten 1,2 Millionen Beschäftigte weniger als fünf Euro pro Stunde, brutto. Fast sechs Millionen bekamen weniger als 8,50 Euro - das war mehr als jeder sechste abhängig Beschäftigte. Das zeigen Analysen des Instituts Arbeit und Qualifikation an der Uni Duisburg-Essen.

Marktliberale behaupteten, dass Firmen den Menschen nicht mehr zahlen können, weil ihre Arbeit nicht mehr wert ist. Höhere Arbeitskosten auf die Preise abzuwälzen, sei oft nur begrenzt möglich.

Und so warnten 2008 die Präsidenten und Direktoren von sieben großen Wirtschaftsforschungsinstituten die Politik davor, einen Mindestlohn einzuführen. Mit dabei: die Chefs des DIW, des Ifo und des RWI. »Der Mindestlohn führt zu erheblichen Beschäftigungsverlusten. Im Osten werden sie erschütternde Ausmaße annehmen«, prophezeiten die Professoren.

Doch die angeblich »richtigen« und marktgerechten Niedriglöhne fanden immer mehr Menschen nicht mehr akzeptabel, und so beschloss die schwarz-rote Bundesregierung 2015 trotz der Warnungen der »Top-Ökonomen« einen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro. Die erschütternden Jobverluste blieben aus und der neoliberal legitimierten Ausbeutung ist seither eine Grenze gesetzt.

Ähnlich wie die Löhne wurden Sozialleistungen für Arbeitslose und Rentner über Jahre nach unten geschraubt, bis eine gesellschaftliche Schmerzgrenze unterschritten war. Bei den Altersbezügen reagierte die CDU/SPD-Koalition wieder mit einem etwas besseren Basisschutz in Gestalt der Grundrente. Bei Hartz IV musste das Bundesverfassungsgericht 2019 eingreifen: Die Richter urteilten, dass der Staat mittellosen Menschen nicht jegliche Hilfe verweigern darf, auch dann nicht, wenn Betroffene ihre »Mitwirkungspflichten« versäumen. Das Existenzminimum, das Hartz IV sicherstellen soll, darf laut Gericht zwar gekürzt werden, aber nicht in dem bis dahin praktizierten Maße.

Mit alldem ist die Hartz-IV-Ideologie nicht ausgehebelt, sondern eingegrenzt worden: Die Menschen müssen weiterhin fast jede Arbeit annehmen, neu ist, dass der Mindestlohn eine Vergütungsuntergrenze setzt. Die Grundsicherung darf immer noch gekürzt werden, nur nicht mehr so stark.

Auch bei den Gehältern wirken die Marktmechanismen weiter - nunmehr oberhalb des Mindestlohns. In Branchen wie dem Kliniksektor und der Altenpflege, der Post und dem Verkehr konkurrieren Privatunternehmen um Marktanteile und tragen den Wettbewerb auch über die Arbeitskosten aus.

Die sinkende Tarifbindung führt dazu, dass immer mehr Beschäftigte nicht durch Kollektivverträge geschützt sind. Im vorigen Jahr arbeiteten nur noch 43 Prozent der Beschäftigten in Betrieben mit Branchentarifvertrag. Wenn sie ihre Gehälter individuell aushandeln müssen, unterliegen sie direkt den Marktkräften, in denen sie in einer strukturell schwächeren Position sind als Unternehmen. Die meisten Menschen sind nun mal auf Erwerbsarbeit angewiesen. Manche gesuchten Fachkräfte können hohe Vergütungen durchsetzen, andere nicht, was man derzeit beispielsweise in der Altenpflege sieht. Insgesamt dämpft das freie Spiel der Marktkräfte die Lohnentwicklung und erhöht die Einkommensungleichheit, das zeigt die Erfahrung.

So ist der Anteil der Niedriglohnbeschäftigten in Deutschland dank Mindestlohn und sinkender Arbeitslosigkeit zwar gesunken, aber mit rund 20 Prozent immer noch groß. Insbesondere die Privatisierungen und die Deregulierung der Märkte haben Mechanismen geschaffen, durch die der Sozialstaat über die Löhne systematisch ausgehöhlt wird, sagt der Arbeitsmarktforscher Gerhard Bosch von der Uni Duisburg-Essen. Denn niedrige Löhne bedeuten niedrige Renten und niedriges Arbeitslosengeld. Allgemeinverbindliche Tarifverträge könnten Gehälter und Sozialleistungen stützen. SPD, Grüne und Linke fordern, die Allgemeinverbindlichkeit zu erleichtern. Den Marktkräften würden damit neue Grenzen gesetzt.

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