Die Pushbacks haben System

Nicole Vögele deckte illegales Zurückdrängen von Flüchtlingen durch die kroatische Polizei mit auf

Menschenrechtsorganisationen weisen seit Jahren auf illegale »Pushbacks« an der kroatisch-bosnischen Grenze hin. Warum hat die breite Öffentlichkeit das Problem dennoch lange ignoriert?

Ich denke, dass politische Gründe dahinterstehen. Und ich glaube, dass wir an vielen Orten, wo Menschenrechtsverletzungen stattfinden, zum Teil im großen Stil, einfach nicht hinschauen. Die ganze Situation in Bosnien und Herzegowina und eben die Pushback-Praxis durch Kroatien sind dafür ein perfektes Beispiel. Ihre Opfer überleben irgendwie. An Bosnien geht genug Geld, damit die Flüchtlinge dort in einem Zelt schlafen können und zwei Suppen am Tag kriegen. Also kann man mit beruhigtem Gewissen wegschauen und es sich in seiner warmen Wohnung gemütlich machen. In Bezug auf die Zustände an der griechischen EU-Grenze ist das ja ähnlich.

Interview
Die 1983 in der Schweiz geborene Filmemacherin und Reporterin für das Schweizer Fernsehen (SRF) Nicole Vögele dokumentierte mit ihrem Team erstmals das systematische Vorgehen kroatischer Polizisten, die Asylsuchende illegal über die EU-Grenze zurückdrängen. Die Recherchen waren koordiniert von Lighthouse Reports, beteiligt waren etliche europäische Medien, darunter SRF, ARD, und »Der Spiegel«. Mit Nicole Vögele sprach für »nd« Peter Steiniger.

Ihre Recherchen zeigen, wie kroatische Polizisten Asylsuchende, darunter Kinder, Schwangere und alte Menschen, systematisch und brutal zurück über die EU-Außengrenze nach Bosnien zwingen. Seit wann sind Sie an dem Thema dran?

Ende 2018 bis ins Frühjahr 2019 habe ich in der bosnischen Hauptstadt bei einer Organisation mitgeholfen, die dort Flüchtlinge betreut hat. In Sarajevo habe ich so gut wie täglich Leute vor mir gehabt, die von der Grenze im Norden kamen und ausgeschlagene Zähne hatten. In einem Fall kam ein Mann an, der einen Schädelbruch erlitten hatte, furchtbar zugerichtet war. Ich war dort auch am kollektiven Reporting beteiligt, das entlang der Balkanroute von einem Netzwerk von NGOs seit Jahren betrieben wird und Gewalttaten gegen Schutzsuchende dokumentiert. Border Violence Monitoring Network macht das seit Jahren sachlich und seriös und findet dafür auch bei der EU in Brüssel viel Beachtung.

Sie wollten aber noch mehr bewirken.

Als Journalistin fragte ich mich, wie es sein kann, dass sich solche brutalen Pushbacks an denselben Orten immer wieder ereignen. Da lag der Gedanke nahe, dass solche Vorgänge nicht nur von Aktivisten aus NGO-Kreisen aufgezeichnet werden sollten. Es war einfach an der Zeit, dass sich Journalisten des Themas annehmen. Ich hatte die Hoffnung, dass es etwas bewirkt, wenn ein öffentlich-rechtlicher Sender aus einem Schengen-Land diese illegalen Aktivitäten und Misshandlungen dokumentiert und Beweise sammelt.

Die Enthüllungen über das brutale Vorgehen kroatischer Polizisten sind für die dortige Regierung und die EU mit ihrer Grenzschutzagentur Frontex brisant. Wie riskant war die Arbeit im Grenzgebiet?

Auf der bosnischen Seite konnten wir uns problemlos bewegen. Die Menschen, die dort direkt an dieser Grenze leben, die ihre Felder bestellen, welche bis an den Grenzfluss Korana heranreichen, die erleben den Horror ja jeden Tag. Wenn dann ein Journalistenteam kommt und fragt, könnt ihr uns helfen, zeigt uns bitte einen Schleichweg oder einen guten Beobachtungspunkt - dafür haben wir wirklich tolle Verbündete gefunden. Die große Schwierigkeit besteht darin, dass Polizei und Grenzschutz in Kroatien extrem gut ausgerüstet sind mit Überwachungstechnik. Die Frage war nur, wie gut sie uns auf dem Schirm haben. Spionieren sie unsere Handys aus? Wie viel sehen sie durch Drohnen aus der Luft? Mitunter haben wir zwei Wochen lang gewartet und es ist nichts passiert. An Punkten, wo nach Hinweisen von Einheimischen sonst fast täglich Vorkommnisse mit Flüchtlingen auftraten. Das heißt, es war deutlich, dass zumindest ungewöhnliche Bewegungen im Grenzgebiet registriert und entsprechend vorsichtiger agiert wurde. Die Herausforderung bestand darin, sie trotzdem zu erwischen.

Die Regierung in Zagreb kann die gewaltsamen Zurückdrängungen nun nicht mehr rundweg leugnen. Sie spricht jetzt von Einzelfällen. Grundsätzlich würde man sich an die Regeln zum Flüchtlingsschutz halten. Wie schätzen Sie das ein?

Also, das ist komplett absurd. Als jemand, der sich seit inzwischen drei Jahren und sehr oft vor Ort mit diesem Thema beschäftigt, habe ich für solche Behauptungen nicht mehr als ein trauriges und müdes Lächeln übrig. Wir stützen uns nicht auf Hörensagen, wir haben mit Leuten gesprochen, die zum Teil erst vor kurzem aus der Polizei ausgeschieden sind oder noch immer bei der kroatischen Interventionspolizei aktiv sind.

Und was sagen die über ihre Führung?

Diese Quellen sagen ganz klar, dass es für diese Pushbacks einen Befehl gibt, und dieser Befehl kommt von Innenminister Davor Božinović. Der Befehl lautet: Schafft diese Leute, jeden Migranten, den ihr findet, jeden, der sich illegal auf unserem Territorium bewegt und hier einen Asylantrag stellen möchte, aus unserem Land. Sowohl der Innenminister als auch der Polizeichef verantworten gemäß unseren Quellen diese Praxis. Dieser Befehl ist in den Archiven der Behörden, dieser Befehl wird Tag für Tag als Nummer - natürlich nicht ausformuliert - über den Polizeifunk gesendet. Hier von Einzelfällen zu sprechen, ein paar Sündenböcke zu präsentieren, ist einfach nur ein absurder Witz. Aber es war klar, dass sie diese Strategie anwenden würden, nachdem wir sie so entlarven konnten.

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Die EU hat den Grenzschutz in Kroatien mit mindestens 110 Millionen Euro gesponsert. EU-Innenkommissarin Ylva Johansson sagt nun, dass sie von den Verstößen an der EU-Außengrenze dort schockiert ist und verspricht Aufklärung. Wie glaubwürdig ist die EU an dieser Stelle?

Ich differenziere hier zwischen der Frage, wie glaubwürdig die EU ist, und wie glaubwürdig sind zum Beispiel die Bemühungen von Ylva Johansson zur Verbesserung der Lage der Flüchtlinge. Doch die Sache hängt nicht am guten Willen einer einzelnen Person. Denn den gibt es bestimmt. Es gibt viele Leute - auch in Brüssel -, die ernsthaft etwas verändern wollen. Dem entgegen steht aber ein ganzes System, das auf Abschottung setzt, sowie eine gewisse politische Atmosphäre in weiten Teilen der EU. Wir klopfen uns zwar als Hüter der Menschenrechte groß auf die Brust, aber wenn man sich die Dinge genauer anschaut, etwa den jetzt von Zagreb auf Druck der EU eingeführten Überwachungsmechanismus, wird schnell deutlich, dass es sich um Feigenblätter und die Begrenzung des Imageschadens handelt. Für mich scheint klar erkennbar, dass die harte Abwehr der Asylsuchenden von der EU gewollt ist oder zumindest in Kauf genommen wird, dass sie sich damit zum Komplizen macht.

Länder wie Kroatien oder Griechenland handeln doch letztlich nur im Auftrag.

Das, was Kroatien macht, führt unter dem Strich dazu, dass deutlich weniger Migranten in Länder wie Deutschland, in die Schweiz oder nach Frankreich gelangen. Es reduziert die Zahl der Menschen, die Schutz beantragen können und die dann auch untergebracht und versorgt werden müssen. Würde Kroatien diese Leute nicht unterwegs aufgreifen und unter Missachtung ihrer Rechte über die Grenze zurückschicken, würden sie weiterziehen nach Slowenien - wo auch viele Pushbacks vorkommen. Die meisten Flüchtlinge wollen weder in Kroatien noch in Slowenien dauerhaft bleiben. Diese Länder haben eigentlich null Interesse, diese Migranten aufzuspüren, gefangenzunehmen und in ihren Polizeiautos herumzufahren. Mir scheint es darum glasklar, aus welcher Richtung der Auftrag kommt.

Dennoch ist eine fremdenfeindliche Linie gerade in Osteuropa populär. Was für ein Echo haben die Bericht in Kroatien selbst?

Mit dem entsprechenden politischen Willen wurde das Thema dort lange weitgehend unter den Teppich gekehrt. Bis auf vereinzelte Artikel - und deren Tenor war dann meist: Deutsche oder Schweizer Journalisten haben etwas gegen Kroatien. Wir, die Kroaten, machen nur unseren Job. Warum also sagt man uns jetzt Böses nach? Das war die übliche Erzählweise. Was dort an dieser Grenze wirklich passiert, war nicht präsent.

Diese Ausrede gilt nun nicht mehr.

Unsere Publikation zur Misshandlung von Flüchtlingen durch vermummte kroatische Polizisten in der vergangenen Woche hat auch in der dortigen Öffentlichkeit Wellen geschlagen. Als Recherchegruppe haben wir uns mit wichtigen Medien zusammengeschlossen und uns gesagt: Wir müssen jetzt einfach mal mit der großen Kelle anrühren! Interessanterweise kamen in den ersten Tagen sogar aus eher konservativen Kreisen Aussagen, dass man sich dafür schäme, dass ihr Land die Menschenrechte so mit Füßen tritt. Das Pendel schwang aber auch schnell wieder zurück. Eine anti-migrantische Stimmung ist in Kroatien weiterhin spürbar.

Haben Sie Hoffnung, etwas gegen die gesetzlosen Zustände an der EU-Grenze bewirken zu können?

Absolut. Vor zweieinhalb Jahren habe ich das Ganze sozusagen angezettelt und seitdem immer mehr Verbündete gefunden. Wenn ich sehe, wo wir damals standen, dann hat sich doch einiges getan. Der kroatischen Regierung hat das wehgetan. Der griechischen ging es ähnlich. Und Rumänien weiß jetzt, dass wir genau hinschauen. Wir haben zum ersten Mal bewiesen, dass hinter den brutalen Pushbacks ein System steckt. Und wir werden weiter den Richtigen wehtun.
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