Ankommen, Kraft schöpfen - und dann wieder auf die Straße

Wohnungslose Frauen in Berlin sind nicht immer als solche zu erkennen. Ihre Problemlagen sind vielfältig und die Schutzräume rar

  • Claudia Krieg
  • Lesedauer: 5 Min.
Bildstrecke aus feministischen Archiven
Bildstrecke aus feministischen Archiven

Eine Frau läuft allein mit einem Koffer durch Berlin. Eine Touristin, mögen viele denken. Aber Natalie Kulik hat andere Erfahrungen gemacht. »Einen Großteil der Besucherinnen, die zu uns kommen, wird man nicht als wohnungslos erkennen«, sagt sie. Kulik leitet seit fünf Jahren Evas Obdach, eine ganzjährige Notunterkunft für Frauen in der Neuköllner Fuldastraße.

Im Wohnzimmer, einem der Räume einer ehemaligen Arztpraxis, stehen Sofas, es gibt Bücherregale, einen Fernseher und viele mehrsprachige Informationen und Hinweise zu Hygienemaßnahmen aufgrund der anhaltenden Covid-Pandemie. Auch auf dem Balkon dürfen sich zum Rauchen derzeit höchstens vier Frauen versammeln. Alle Zimmer, ob Büro, Küche oder Gemeinschaftsräume sind sachlich, aber nicht steril eingerichtet. Kuliks Kolleginnen sind gerade überall unterwegs, es sind die Stunden am Nachmittag, in denen keine Besucherinnen da sind, in denen Zimmer und Bäder gereinigt werden, Abendessen zubereitet wird, Teambesprechungen stattfinden. Über zwei Etagen erstreckt sich die Einrichtung: »Beim Einzug haben wir der Nachbarschaft angeboten, sich ein Bild davon zu verschaffen, was wir hier machen, das wurde auch angenommen.« Zur Zeit können hier pandemiebedingt 17 Frauen für bis zu vier Wochen »ein Zuhause auf Zeit« finden. Sonst wäre in den Zimmern, die alle Frauennamen tragen, Platz für 30 Menschen. Nach den vier Wochen ist das Verfahren, dass die Frauen zwei Wochen woanders unterkommen, aber wenn sie weiter Obdach benötigen, es dann auch wieder in Anspruch nehmen können. Kinder und Tiere dürfen nicht mitgebracht werden, dafür gibt es andere Orte im Berliner Hilfesystem.

Evas Obdach ist einer von drei Schutzräumen für Frauen, die der Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) betreibt. Der Träger unterhält seit 25 Jahren die Tagesstätte Evas Haltestelle in der Müllerstraße in Wedding und eine weitere Notübernachtung in der Großbeerenstraße in Kreuzberg. Insgesamt kann so - ohne Pandemie - bis zu 67 Frauen Unterschlupf gewährt werden, zur Zeit ist etwa die Hälfte der Plätze belegt. Der Bedarf ist größer und wächst stetig an. Der SkF hat seine Kapazitäten seit der Gründung von Evas Haltestelle vor 25 Jahren ständig erweitert.

In Neukölln sei man nach dem Umzug von einem Gebäude in der Nähe der Hedwig-Kathedrale am Gendarmenmarkt aus verschiedenen Gründen besser aufgehoben, sagt Kulik. »Wir sind hier gut angebunden und leicht zu finden. Und die Frauen sind in der Gegend, wenn sie vor der Tür stehen, zudem etwas unauffälliger und nicht gleich als Besucherinnen einer Notunterkunft zu erkennen.«

Denn das gilt es für viele zu vermeiden. »Frauen versuchen sich sehr lange zu pflegen, damit man ihnen ihre Situation nicht ansieht«, erklärt die Sozialarbeiterin. Auch, weil es ihnen einen gewissen Schutz biete. Und weil von Wohnungslosigkeit alle betroffen sein können. »Wir sehen Frauen aller Nationalitäten, aus allen Bildungsschichten, jeden Alters«, sagt Kulik. Zwischen 18 und 80 Jahren alt seien die Besucherinnen ihrer Einrichtung.

Wohnungslose Frauen: Ankommen, Kraft schöpfen - und dann wieder auf die Straße

»Manchmal verständigen wir uns mit Händen und Füßen, wenn eine Sprache gesprochen wird, für die es gerade keine Sprachmittlerin gibt«, berichtet Natalie Kulik. So halten es auch die Frauen, die kommen, untereinander. Selten kennen sie sich, häufig müssen sie sich in der Unterkunft miteinander arrangieren, mitunter Konflikte austragen. »Wir werben für die Akzeptanz von Eigenheiten, aber es ist auch unsere Verantwortung darauf zu achten, dass uns die Einrichtung nicht um die Ohren fliegt«, beschreibt die Leiterin das Spannungsfeld. Mitunter entstehen aus der gemeinsam verbrachten Zeit auch freundschaftliche Verbindungen, ist Kulik Eindruck. »Es gibt ein Gefühl von Gemeinschaft«. Und eine Verabredung, die geltenden Regeln einzuhalten: Kein Alkohol- und Drogenkonsum in der Einrichtung, keine Gewalt. Denn gerade Gewalterfahrungen haben die meisten Frauen bereits machen müssen. Umso wesentlicher, dass Evas Obdach auch in dieser Hinsicht einen Schutzraum darstellt.

Was dann passiert, richtet sich nach den Frauen. »Wir nehmen sie so auf, wie sie sind«, beschreibt es Kulik. Die Ressourcen und Bedürfnisse der Besucherinnen stehen im Mittelpunkt. Von der Einrichtung gibt es nur Angebote: zum einen Schlafplatz, Duschen, Kleiderkammer, Mahlzeiten, zum anderen Angebote zu Gesprächen und Beratung oder zur Weitervermittlung. Nichts davon ist verpflichtend. »Wenn eine Frau sagt, lass mich in Ruhe, dann ist das okay«, erklärt Kulik den Ansatz, mit den Ressourcen, die die Besucherinnen zur Verfügung haben, umzugehen. Die seien in jedem Fall enorm individuell und immens - »denn sie haben Strategien und Fähigkeiten entwickelt, mit ihrer Situation umzugehen und wir haben nicht das Recht, diese zu beurteilen.«

Für manche Frauen sei es ein Erfolg, zu duschen, sich etwas zu essen zu besorgen. Für manche ist der Aufenthalt bei Evas Obdach der Anfang vom Weg hin zu einer eigenen Wohnung, zum Beispiel über Housing First.

Spät ist dieses Konzept in der Bundesrepublik angekommen, dabei gilt es als das zuverlässigste, um Menschen von der Straße zu kriegen oder aus der Zwangslage, aus der Wohnungslosigkeit heraus Arrangements einzugehen, die sie eigentlich nicht wollen.

»Wir brauchen mehr solcher Ideen«, sagt auch Natalie Kulik. Seit sie als 18-Jährige ein Praktikum bei Evas Haltestelle gemacht hat, gerade als diese eröffnet wurde, hat sie den Bereich der Unterstützung wohnungsloser Frauen beim SkF nicht mehr verlassen. Und viel Dankbarkeit erfahren: »Für das Stückchen Würde, die Kleidung, Seife, Essen.«

Die meisten Frauen auf der Straße erlebtem, dass auf sie herabgeblickt wird, sagt Kulik. Dabei sei es relativ leicht, in die Situation zu geraten, aber schwer wieder heraus. »Nicht alle Menschen haben ein funktionierendes soziales Netz. Man darf einfach die Bereiche nicht totsparen, in denen man sich um Menschen kümmert, in denen es um gesellschaftliche Verantwortung geht. Man darf sie auch nicht so kürzen, dass es gerade noch funktioniert.« Spätestens die Coronakrise dürfte das gezeigt haben.

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