Krieg verhindern, statt siegen zu wollen

Linke müssen über ein nichtmilitärisches Sicherheitssystem als Alternative zu dauerhaftem Wettrüsten nachdenken

  • Kathrin Vogler
  • Lesedauer: 8 Min.
Kathrin Vogler ist seit 2009 Abgeordnete der Linken im Bundestag , war zeitweilig friedenspolitische Sprecherin. Seit Langem ist sie in der Friedensbewegung aktiv. Unter anderem gehört sie zu den Initiatoren eines Parlamentskreises Atomwaffenverbot, der sich für den Beitritt Deutschlands zum UN-Atomwaffenverbotsvertrag einsetzt. Der hier veröffentlichte Beitrag ist die gekürzte Fassung eines längeren Textes, der auf der Webseite der Rosa-Luxemburg-Stiftung erschien und unter dasND.de/Vogler nachzulesen ist.
Kathrin Vogler ist seit 2009 Abgeordnete der Linken im Bundestag , war zeitweilig friedenspolitische Sprecherin. Seit Langem ist sie in der Friedensbewegung aktiv. Unter anderem gehört sie zu den Initiatoren eines Parlamentskreises Atomwaffenverbot, der sich für den Beitritt Deutschlands zum UN-Atomwaffenverbotsvertrag einsetzt. Der hier veröffentlichte Beitrag ist die gekürzte Fassung eines längeren Textes, der auf der Webseite der Rosa-Luxemburg-Stiftung erschien und unter dasND.de/Vogler nachzulesen ist.

Seit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine am 24. Februar 2022 ist viel die Rede von »Zeitenwende« und »Paradigmenwechsel«. Auch in der Partei Die Linke und in der Friedensbewegung, der ich mich verbunden fühle, wird heftig diskutiert, ob wir unsere Positionen angesichts dieser brutalen Völkerrechtsverletzung verändern müssen. Wir müssen unsere außenpolitischen Positionen auf friedenspolitischer Grundlage weiterentwickeln. In einer Situation, in der alle anderen Parteien einer nahezu ungebremsten Aufrüstung das Wort reden, muss Die Linke die Stimme sein, die Alternativen zur herrschenden Sicherheits- und Gewaltlogik aufzeigt.

Linke, Krieg und Frieden

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine stellt die Linke vor neue Fragen. Die Linkspartei und die gesellschaftliche Linke überhaupt. Nato, EU, Uno, Russland, Waffenlieferungen, Sanktionen – dies sind einige Stichworte eines Nachdenkens über bisherige Gewissheiten und neue Herausforderungen. Wir beginnen eine Debatte über »Linke, Krieg und Frieden«, die uns lange Zeit begleiten wird.

Wir haben immer darauf verwiesen, dass das Völkerrecht das zentrale Instrument zur Wahrung des Friedens darstellt - und das war richtig, aber unzureichend. Es beruht darauf, dass Staaten sich gemeinsamen Regeln unterwerfen, weil deren universelle Geltung auch ihnen selbst nutzt. Jeder einzelne Bruch des Völkerrechts ist daher ein weitergehendes Problem: Er untergräbt den Willen zur Einhaltung bei allen anderen Staaten.

Insofern ist es kein Wunder, dass die Putin’sche Erzählung an vielen Stellen an die Geschichten erinnert, mit denen die USA und/oder die Nato völkerrechtswidrige Kriege begründet haben: Ein angeblicher Genozid und Massenvernichtungswaffen, ein neuer Hitler und eine verfolgte nationale Minderheit - das sind die Stoffe, aus denen erfolgreiche Kriegspropaganda gemacht wird. Eine friedensorientierte Politik muss daher aufklärerisch sein und Propaganda entgegentreten. Und linke Politik muss sowieso immer an der Seite der Beherrschten und nie auf der Seite der Herrschenden sein.

Die Kraftlosigkeit der internationalen Ordnung gegenüber Völkerrechtsbrüchen ist zuallererst die Schuld des Westens, der nach 1990 aus dem Gefühl der eigenen Stärke heraus das Völkerrecht gezielt ausgehöhlt hat, um geopolitische und ökonomische Interessen möglichst ungestört verfolgen zu können.

Angesichts des Krieges scheint es weit weg, über die Uno oder die OSZE nachzudenken, aber es ist bitter notwendig, sie zu stärken und nicht weiter zu schwächen. Die Alternative dazu ist die Hoffnung auf eine militärische Dominanz des Westens. Das bedeutet nicht nur einen ungebremsten Rüstungswettlauf; die Wahl von Donald Trump und auch die über 40 Prozent von Marine Le Pen zeigen deutlich, dass diese Dominanz mittelfristig vielleicht nicht einmal das kleinere Übel wäre. Eine internationale Friedensordnung kann nur auf den Grundpfeilern der Konfliktbearbeitung durch Verhandlungen, des Gewaltverzichts und der Abrüstung basieren. Linke Forderungen müssen Schritte in diese Richtung sein, nicht in die Gegenrichtung.

Linke müssen über den Tag hinausdenken: Ein nichtmilitärisches Sicherheitssystem für Europa, das auf Diplomatie, Recht und Kooperation gegründet ist, ist die einzige Alternative zu dauerhaftem Wettrüsten mit ständiger Eskalationsgefahr.

Der Krieg in der Ukraine kann auf zweierlei Art gelesen werden: In der militärischen Logik wird er zum Menetekel, das Waffenlieferungen, eigene Aufrüstung und eine weitere Marginalisierung Russlands begründet. Mit dem rücksichtslosen Überfall auf die Ukraine hat Russland die Bereitschaft zur Berücksichtigung seiner Interessen in der internationalen Ordnung verspielt. Gerade weil diplomatische Bemühungen kurz vor dem Einmarsch ins Leere liefen, sind diese diskreditiert.

In einer Friedenslogik muss aber gefragt werden: Was kann auf allen Ebenen getan werden, um den Krieg so schnell wie möglich zu beenden, weitere Opfer zu vermeiden und dem Primat des Gewaltverzichts in den internationalen Beziehungen wieder Geltung zu verschaffen? Auch, wenn es angesichts der rauchenden Trümmer von Charkiw, Mariupol und Kiew wie eine Dystopie klingen muss: Wir sind bei Strafe des Untergangs zur Zusammenarbeit verurteilt. Mit Russland auf jeden Fall, eventuell sogar eine Zeit lang mit Putin. Dafür ist es jetzt notwendig, dass Russland dazu gebracht wird, sich wieder an das Völkerrecht und das allgemeine Gewaltverbot zu halten, denn sonst können Staaten, in denen Regierungen gewählt und abgewählt werden können, diese Zusammenarbeit nicht vor ihren Bürger*innen vertreten.

Wenn also Deutschland und seine Partner aus guten Gründen nicht selbst in den Krieg ziehen, um die russischen Truppen aus der Ukraine zu vertreiben, was sind dann geeignete Mittel, um die Bereitschaft zur Kooperation in Moskau zu erhöhen? Was sind friedenspolitische Perspektiven auf den notwendigen Wandel? Die Lieferung von Waffen macht diesen Krieg immer stärker zu einem Abnutzungskrieg. Auch wenn selbst Expert*innen überrascht sind, wie erfolgreich die Ukraine bei der Abwehr der russischen Aggression ist, bleibt klar: Je länger dieser Krieg dauert, desto höher sind die Kosten, vor allem für die ukrainische Seite. Mit jeder Stunde, jedem Tag sterben mehr Menschen, werden mehr Städte und Fabriken zerstört, werden mehr Soldaten und Zivilisten verletzt und traumatisiert, mehr Menschen vertrieben. Wer Waffen liefert, übernimmt einen Teil der Verantwortung dafür, welche Zerstörung dieser Krieg anrichtet.

Wer bisher Waffenlieferungen in Konfliktgebiete abgelehnt hat und im Angesicht des Ukraine-Kriegs dafür ist, der sagt implizit auch: Für die Konflikte, die bisher auf der Tagesordnung stehen, habe ich mich nicht so sehr interessiert. Denn in den meisten Konflikten lässt sich Partei ergreifen für die eine oder die andere Seite. Eine konsistente Politik müsste, wenn sie jetzt Waffenlieferungen für die Ukraine unterstützt, auch in anderen Konflikten eine militärische Lösung zugunsten einer Seite suchen. So sehr das Gerechtigkeitsempfinden verlangt, dass Russland diesen Krieg verlieren soll - wenn die Kosten dafür sind, dass die verteidigten Städte so aussehen wie jetzt Mariupol, dann muss die Frage erlaubt sein, ob dieser Preis angemessen ist.

Der Verzicht auf militärischen Widerstand bedeutet nicht Kapitulation. Bereits jetzt wenden Ukrainer*innen Methoden der gewaltfreien sozialen Verteidigung an, etwa wenn unbewaffnete Zivilist*innen den Panzern entgegentreten und den Soldaten erklären, dass sie nicht als Befreier, sondern als Aggressoren gesehen werden. Oder wenn Straßenschilder so verändert werden, dass sie nur noch nach Den Haag, aber nicht mehr zu ukrainischen Städten weisen. Tausende gehen in den von Russland eroberten Städten auf die zerstörten Straßen, um deutlich zu machen: Wir werden uns nicht unterwerfen. Dieser mutige zivile Widerstand kann die russischen Truppen mehr demoralisieren als einzelne militärische Niederlagen, die in jeder Kriegsstrategie in Kauf genommen werden.

Ebenso mutig sind die russischen und belarussischen Menschen, die sich im eigenen Land gegen den Krieg stellen und bereits zu Tausenden verhaftet wurden. Dass das Verbot der größten russischen Menschenrechtsorganisation »Memorial« von uns nicht öffentlich wahrnehmbar kritisiert wurde, ist ein Versagen der deutschen und europäischen Linken. Wenn das Betätigungsverbot prorussischer Parteien in der Ukraine angesprochen wird, aber nicht gleichzeitig die Abschaltung wichtiger sozialer Medien und das Verbot jeglicher Friedensaktivitäten in Russland, stellen wir uns auf die falsche Seite. Russland braucht eine kritische Gegenöffentlichkeit dringender denn je. Deserteure und Kriegsgegner*innen brauchen unsere Solidarität. Jede Person, die sich unter hohem Risiko weigert, Krieg zu führen, sollte in der EU dauerhaften Schutz erhalten.

Wirtschafts- und Finanzsanktionen, die sich unmittelbar gegen die russischen Eliten und die Kriegsindustrie richten, sind ein wichtiges Druckmittel. Über die Wirksamkeit und Verhältnismäßigkeit von Sanktionen muss allerdings im Detail gesprochen werden. Der Abbruch von sozialen und kulturellen Kontakten zur russischen Zivilgesellschaft ist auf jeden Fall kontraproduktiv. Peinlich ist es, wenn die Umsetzung mancher Sanktionen gegen russische Oligarchen in Deutschland an der Intransparenz von Eigentumsverhältnissen und Finanzströmen scheitert, weil sich gar nicht klären lässt, welche Villen oder Geschäftsimmobilien sanktionierten Oligarchen gehören. Mehr Transparenz, das Stopfen von Steuerschlupflöchern und die Unterbindung der Geldwäsche müssen wir vor allem der eigenen Kapitalistenklasse abtrotzen.

Einer der Hauptprofiteure von Putins Krieg ist die Kriegsindustrie. Die Aufrüstungspläne der Ampel-Koalition sind ein wirklicher Paradigmenwechsel. Werden sie umgesetzt, wird Deutschland nach den USA und China zur drittstärksten Militärmacht der Welt. Die Erzählung, die Bundeswehr sei seit Jahren kaputtgespart worden, ist pure Propaganda. Tatsächlich wuchs der Rüstungsetat in Deutschland von 2014 bis 2021 um fast 45 Prozent. Die Aufrüstungspläne werden nur taktisch als Reaktion auf Putins Angriffskrieg dargestellt; tatsächlich lagen die Wunschlisten längst in den Schubladen des Verteidigungsministeriums. Deshalb steht für die Umsetzung des Milliarden-Rüstungspakets nicht die Frage im Vordergrund, welche Waffen die Bundeswehr für die Verteidigung brauchen könnte, sondern was die heimische Rüstungsindustrie schnell liefern kann. An der Aufrüstung für Militäreinsätze überall in der Welt wird nämlich weiterhin festgehalten. Wir brauchen aber eine Politik, die Kriege verhindert, statt sie gewinnen zu wollen.

Dass jetzt viele Menschen in ihrer berechtigten Empörung über den brutalen Angriff auf die Ukraine glauben, dass der russischen Aggression nur mit erhöhter Abschreckung und Aufrüstung begegnet werden kann, zeigt Versäumnisse der letzten Jahre und Jahrzehnte auf. Wir haben es zu wenig geschafft, gewaltfreies Handeln und zivile Konfliktbearbeitung als Alternative zur militärischen Sicherheitslogik populär zu machen. Dabei ist längst belegt, dass gewaltfreie Aktionen und ziviler Ungehorsam viel wirksamer zum Schutz der Bevölkerung sind als Militär.

Wir sehen in der Ukraine, dass eine industrialisierte Gesellschaft nur um den Preis massiver Zerstörungen militärisch verteidigt werden kann und dass etwa die absichtliche oder versehentliche Beschädigung von Chemiefabriken, Atomkraftwerken oder Öllagern schlimme Folgen haben kann. Zum Schutz der Zivilbevölkerung gibt es etwa das Instrument des zivilen unbewaffneten Peacekeepings, das die Bundesregierung auf Initiative der Linksfraktion in ihre Leitlinien zur Krisen- und Konfliktbewältigung aufgenommen hat. Die Idee ist, dass unbewaffnete, gut ausgebildete Friedensarbeiter*innen durch Beratung, Begleitung und Unterstützung der Bevölkerung in einem bewaffneten Konflikt Sicherheit schaffen und Angriffe gegen Zivilpersonen verhindern oder zumindest dokumentieren.

Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass dies in einem Krieg wie in der Ukraine unwirksam wäre. Es fehlt allerdings an Kapazitäten bei Finanzierung und ausgebildetem Personal. Zur Selbstverteidigung von demokratischen Gesellschaften eignen sich die in den 80er Jahren entwickelten Konzepte der gewaltfreien sozialen Verteidigung und des zivilen Ungehorsams. Für den Ausbau und die Weiterentwicklung solcher Instrumente genügte ein Bruchteil von 100 Milliarden Euro.

So sehr das Gerechtigkeitsempfinden verlangt, dass Russland den Krieg nicht gewinnt – ist der Preis angemessen, wenn die verteidigten Städte dann so aussehen wie Mariupol?
So sehr das Gerechtigkeitsempfinden verlangt, dass Russland den Krieg nicht gewinnt – ist der Preis angemessen, wenn die verteidigten Städte dann so aussehen wie Mariupol?
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