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  • 30 Jahre Rostock-Lichtenhagen

Zugespitzter Dauerzustand

Das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen steht wie kein zweites für die rassistische Mobilisierung und Straßengewalt der Neunzigerjahre.

  • Caro Keller (NSU-Watch)
  • Lesedauer: 6 Min.

Zum 30. Mal jährt sich in diesen Tagen das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen. Die Bilder, die entstanden – von den Brandsätzen, die in rassistischer Mordabsicht auf das Sonnenblumenhaus geschleudert wurden, und der applaudierende Menge ringsrum – gingen um die Welt. Seit der Selbstenttarnung des NSU 2011 wurden die Neunzigerjahre detaillierter aufgearbeitet als zuvor. Dabei zeigte sich: Was in Lichtenhagen passierte, war die Zuspitzung eines Dauerzustands der Ermutigung von Neonazis und nicht-organisierten Rechten, der letztlich auch den NSU-Komplex ermöglichte.

Rostock-Lichtenhagen ist zum Schlagwort geworden für die rechte Mobilisierung der frühen 1990er-Jahre in Deutschland. Das Pogrom zwischen dem 22. und dem 24. August 1992 richtete sich gegen die Bewohner*innen der »Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber« und das »Sonnenblumenhaus«, ein Wohnheim für vietnamesische Vertragsarbeiter*innen. Durch den Fokus auf die Ereignisse dieser Tage wird häufig wenig beachtet, was zu den medienwirksam angreifenden Neonazis und der johlenden Menge geführt hatte.

Die dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen vorausgehende und es begleitende rechte Hetze in der Naziszene sowie in Medien, Politik und weiten Teilen der Gesellschaft, die zum Mord bereiten und dazu ermutigten Neonazis und rassistischen Anwohner*innen, die Konsequenzlosigkeit für die Täter*innen: All das war keine krasse Ausnahme, sondern die Zuspitzung eines Dauerzustands. Ein Dauerzustand, der bis heute mindestens 200 Tote forderte.

Der NSU und die Generation Terror

Die rechte Mobilisierung der Neunzigerjahre kam vehement zurück ins kollektive Gedächtnis, als sich der » Nationalsozialistische Untergrund« (NSU) im November 2011 selbst enttarnte. Denn schon in den ersten Wochen nach der Selbstenttarnung zeichnete sich ab, dass der NSU und sein Netzwerk ihre Wurzeln im nationalistischen Taumel der Neunzigerjahre haben. Um den NSU zu verstehen, brauchte es eine Beschäftigung mit eben diesen Jahren.

Das reicht aber nicht. Denn schaut man nur auf dieses Jahrzehnt, gerät aus dem Blick, wie viele Menschen schon vor 1990 durch rechte, rassistische und antisemitische Gewalt ihr Leben verloren, verletzt wurden oder den Verlust geliebter Menschen ertragen mussten. Um die Zeit nach der Wiedervereinigung zu verstehen, bedarf es daher einer Analyse des rechten Terrors nach 1945, insbesondere ab etwa Mitte der 1970er Jahre. Dann wird klar, dass mit dem Zusammengehen von BRD und DDR auch die beiden deutschen (Neo-)Naziszenen mit ihren jeweiligen Erfahrungen bezüglich rechter Gewalt und rechtem Terror wiedervereinigt wurden.

Die Wurzeln von Rostock-Lichtenhagen

Noch heute fällt es vielen schwer, ostdeutsche Städte vor 1990 mit rechter Gewalt in Verbindung zu bringen. Die Erinnerung daran wurde erst in den letzten Jahren zurück erkämpft. Rechte Gewalt in der DDR war geprägt durch Pogrome gegen und Morde aus Gruppen heraus an Menschen, die von der DDR als sogenannte Vertragsarbeiter*innen in den »Bruderstaat« gerufen worden waren. In Westdeutschland war rechter Terror von Akteur*innen bestimmt, die zunächst in (neo-)nazistischen Strukturen organisiert waren und dann in Kleingruppen oder als (vermeintlich) einzeln handelnde Täter*innen aktiv wurden. Dabei wählten sie ihre Opfer meist nach antisemitischen und rassistischen Gesichtspunkten aus.

Der Mauerfall bedeutete für die Neonaziszenen die Möglichkeit einer bundesweiten Vernetzung und gegenseitiger organisatorischer Hilfe, sei es beim Aufbau von Strukturen oder bei der Durchführung von Taten. Aus alltäglicher rechter Straßengewalt entstand durch diese Organisierung eine reisefreudige und bundesweit aktive Neonazi-Szene, deren Akteur*innen sich bei Konzerten oder Demonstrationen immer wieder sahen und weiter vernetzten.

Rostock-Lichtenhagen als Dauerzustand

Rechter Terror erschöpft sich nicht in der rechten, rassistischen, antisemitischen Tat, sondern soll gerade darüber hinausweisen: Er soll potenzielle Betroffene in Angst versetzen und potenzielle Täter*innen ermutigen. Diese Gewalt birgt den Wunsch eines autoritären Systemumsturzes. Jede Tat, jedes Pogrom der Neunzigerjahre inspirierte weitere rechte Gewalt. Während des Pogroms von Hoyerswerda (vom 17. bis zum 21. September 1991) unterhielt sich beispielsweise laut einer Zeugin der Neonazi Peter Schlappal in einer Kneipe in Saarlouis begeistert über die Ereignisse. Am 19. September 1991 ging ein Wohnheim für Asylsuchende in Saarlouis in Flammen auf – Samuel Yeboah wurde ermordet und weitere Bewohner wurden verletzt.

Auf die Pogrome von Mannheim-Schönau im Juni 1992 folgten die Pogrome von Rostock-Lichtenhagen. Es folgten viele weitere Taten, etwa im November 1992, als der Hausbesetzer Silvio Meier in Berlin-Friedrichshain von Neonazis getötet wurde und Bahide Arslan, Yeliz Arslan und Ayşe Yılmaz bei den rassistischen Brandanschlägen von Mölln ermordet wurden. Am Morgen nach dem Anschlag in Mölln versuchte Stephan Ernst, der spätere Mörder von Walter Lübcke, auf der Bahnhofstoilette in Wiesbaden in rassistischer Absicht eine Person zu erstechen.

Die unzähligen Angriffe hatten für die rechten Angreifer*innen selten ernsthafte Konsequenzen. Von den Dorf- und Stadtgesellschaften wurden sie, wenn nicht unterstützt, so doch verharmlost oder ignoriert. Konsequente Strafverfolgung blieb meist aus. Die faktische Abschaffung des Asylrechts 1993 erlebten Neonazis dann als weiteren Erfolg ihrer Aktivitäten.

Der lange Schatten des Pogroms

Im NSU-Komplex kommen die Erfahrungen mit Straßengewalt während der politischen Sozialisation der NSU-Täter*innen in den Neunzigerjahren und der ganzen sogenannten Generation Terror, die Vernetzung bei Konzerten, die Organisation in neonazistischen Strukturen und die Umsetzung von rechtsterroristischen Kleingruppenkonzepten zusammen.

Ab 2013 und verstärkt ab 2015 waren die Angehörigen dieser Generation Terror wieder auf den Straßen – bei rechten Aufmärschen gegen Geflüchtetenunterkünfte. Im NSU-Prozess haben sie selbstbewusst und dreist gelogen, die meisten sind damit davon gekommen. Und sie haben wieder zu Gewalt gegriffen – gemeinsam mit einer neuen Generation Terror und angefeuert von der neuen rechten Mobilisierung, die nicht nur bei ihnen Erinnerungen an die Neunziger wach rief: Brandanschläge, unzählige Angriffe, das rassistische Attentat am Münchener OEZ 2016, der Mord an Walter Lübcke 2019, der antisemitische und rassistische Anschlag von Halle 2019, der rassistische Anschlag von Hanau 2020 – das sind die Folgen dieser rechten Mobilisierung. Und wieder gab es meist viel zu späte und zu wenige Konsequenzen. Rechtem Terror wurde wieder nicht die Grundlage entzogen. Die nächste rechte Mobilisierung – zum Thema Corona – hat in Deutschland bereits zu einem Mord geführt.

Raus aus dem Dauerzustand

Es gibt aber auch einen Weg aus dem rechten Dauerzustand. Angehörige von Ermordeten, Überlebende und Betroffene rechter Gewalt, Aktivist*innen, Antifaschist*innen, Abgeordnete und kritische Journalist*innen lassen nicht locker. Sie erzählen die Geschichte rechter Gewalt, die die Mehrheitsgesellschaft verdrängt hat. Durch diese Öffentlichkeit erinnern sich andere an das, was war. So werden Namen und Geschichten bekannt, die die Neonazis auslöschen wollten. Der Ruf nach Konsequenzen und Veränderungen wird lauter. Die aufgrund dieses gesellschaftlichen Drucks erwirkten Ermittlungen treffen dabei auch die Generation Terror. Peter Schlappal beispielsweise: Er steht ab Herbst wegen des Vorwurfs des Mordes an Samuel Yeboah in Koblenz vor Gericht. Und in Mecklenburg-Vorpommern hat der zweite NSU-Untersuchungsausschuss seine Arbeit aufgenommen.

Wenn das Wissen über rechten Terror und seine gesellschaftlichen Bedingungen weiter wächst, ist das ein wichtiger Schritt, um ihn nicht nur benennen und aufklären zu können, sondern ihm die gesellschaftliche Grundlage zu entziehen. Auch das kann der 30. Jahrestag der Pogrome von Rostock-Lichtenhagen bedeuten.

Caro Keller ist Redakteurin des bundesweiten antifaschistischen Bündnisses NSU-Watch, das die Aufarbeitung des NSU-Komplexes und von rechtem Terror kritisch begleitet: nsu-watch.info.

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