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Manager der Welt

Die USA sind kein Staat wie jeder andere – die Theoretiker Leo Panitch und Sam Gindin beschreiben, was den globalen Hegemon ausmacht

  • Julian Hitschler
  • Lesedauer: 7 Min.
Der globale Kapitalismus dreht sich auch weiter um ein unangefochtenes Machtzentrum: die USA.
Der globale Kapitalismus dreht sich auch weiter um ein unangefochtenes Machtzentrum: die USA.

Totgesagte leben bekanntlich länger. In den vergangenen Jahrzehnten wurden viele Worte über den vermeintlichen Abstieg der USA als Weltmacht verloren – eigentlich seit dem Moment, als der Kalte Krieg in ihrem Sinn entschieden wurde. Aufstrebende Wirtschaftsmächte Asiens, zuerst Japan, dann China, würden die Vereinigten Staaten bald in den Schatten stellen. Spätestens seit der Finanzkrise von 2008 wird der stagnierende Lebensstandard vieler US-Amerikaner*innen als Indiz dafür herangezogen, dass die USA den Zenit ihrer Macht überschritten hätten. Als Frankreich und Deutschland sich 2003 weigerten, sich am Irakkrieg zu beteiligen, erschien dies wie ein Epochenbruch. Noch 2019 erklärte der französische Präsident Emmanuel Macron die Nato für »hirntot«. In Europa wurde offen über eine eigenständige Sicherheitspolitik unabhängig vom transatlantischen Bündnis gesprochen.

Nach einem Jahr Krieg in der Ukraine wirkt die Aussage Macrons, als stammte sie aus einem längst vergangenen Zeitalter. Das Bündnis zur Unterstützung der Ukraine versammelt sich wie selbstverständlich um die USA als zentralen geopolitischen Akteur. Für die europäische Sicherheitspolitik spielt die Nato eine größere Rolle als seit vielen Jahren. Die USA sind und bleiben die einzige Supermacht der Welt – und die europäischen Staaten kämen aus ihrem Gravitationsfeld kaum los, selbst wenn sie es wollten. Denn auch die Krise von 2008 löste Europa nicht nur aus eigener Kraft – die Regierung Obama und die US-Notenbank mussten koordinierend eingreifen und das europäische Bankensystem stützen, wozu sie dank der Sonderstellung des US-Dollars als Weltreservewährung in der Lage waren.

Die beiden marxistischen Theoretiker Leo Panitch und Sam Gindin hatten bereits seit Jahrzehnten vor vorschnellen Abgesängen auf den Status der USA als Supermacht gewarnt. In den Büchern »Globaler Kapitalismus und amerikanisches Imperium« und »The Making of Global Capitalism« entwickeln sie eine Analyse, wonach die USA nicht einfach nur der stärkste und mächtigste kapitalistische Staat der Welt, sondern als globaler Hegemon für das Funktionieren des globalen Kapitalismus als Gesamtsystem verantwortlich ist.

Panitch, der 2020 verstarb, und Gindin stehen in der Tradition des marxistischen Staatstheoretikers Ralph Miliband. Diese weist Staaten als koordinierenden Instanzen eine zentrale Rolle im Kapitalismus zu: Sie sind zwar auf den Fortbestand erfolgreicher Kapitalakkumulation auf ihrem Territorium angewiesen. Gleichzeitig genießen sie aber gegenüber einzelnen Kapitalinteressen – und sogar der kapitalistischen Klasse als Ganzes – eine relative Autonomie, die ihnen ihrerseits erst ermöglicht, diese koordinierende Funktion überhaupt einzunehmen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass sich widersprüchliche Klasseninteressen – und die Interessen einzelner Kapitalfraktionen – in der institutionellen Funktionsweise von Staaten niederschlagen. Aus Interessen- und Verteilungskonflikten können Konflikte im Staat werden.

Zwischen 1914 und 1945 erbten die USA Schritt für Schritt die Rolle der Weltmacht Nummer eins. Die Voraussetzungen dafür wurden durch den New Deal und die drastische Ausweitung der staatlichen Kapazitäten während des Kriegs geschaffen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde immer deutlicher, dass Kolonialreiche wie das Britische Empire ein Auslaufmodell waren. Die USA nahmen nach 1945 eine Rolle als koordinierender Hegemon der kapitalistischen Welt ein, doch sie waren und sind ein Hegemon neuen Typs an der Spitze eines »informellen Imperiums«, der nach anderen Prinzipien agiert als die Kolonialmächte des 19. Jahrhunderts.

Die USA hatten nie den Anspruch, Kolonialmacht im Stil des Empire zu werden. Sehr wohl nahm der US-amerikanische Staat nach dem Zweiten Weltkrieg aber die Rolle an, den globalen Kapitalismus in einer Welt politisch unabhängiger Staaten zu verwalten und zu erhalten. Während des Kalten Krieges tat er dies auf vielfältige Art: Der »Kommunismus« wurde geopolitisch eingehegt, auch mit militärischen Mitteln, wie im Korea- und Vietnamkrieg, und durch Regime-Change-Interventionen wie in Chile und Indonesien. Doch ebenso sicherten die USA den Fortbestand des globalen Kapitalismus durch das Bretton-Woods-System und, auch nach dessen Ende, ihren Einfluss auf Institutionen wie die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds. Auch die wirtschafts- und sicherheitspolitische Nachkriegsordnung in Europa kann als Teil dieses Projekts aufgefasst werden.

Panitch und Gindin warnen ausdrücklich davor, gesellschaftliche Zerfallserscheinungen und die zunehmende Prekarisierung der US-Arbeiter*innenklasse nach der neoliberalen Wende zum Ende der siebziger und Beginn der achtziger Jahre als Zeichen einer geschwächten US-Hegemonie zu lesen. Denn die Sicherung des globalen Kapitalismus kann aus ihrer Sicht nur als Klassenprojekt, nicht als nationales Projekt verstanden werden.

Der US-Staat als Hüter und Verwalter der globalen Wirtschaftsordnung agiert nicht im Sinne der US-Bevölkerung als Ganzes, sondern als Interessenvertreter der globalen kapitalistischen Klasse – hierzu gehören die Oberschicht in den USA, aber auch in anderen westlich orientierten kapitalistischen Ländern. Er begründet seine Politik zwar durch eine Rhetorik des nationalen Interesses, doch – ganz im Sinne Milibands – bestehen Panitch und Gindin darauf, dass man sie in Klassenbegriffen analysieren muss. Der US-amerikanische Staat schützt also sowohl die Interessen von US-amerikanischem Kapital, das in ausländischen Unternehmen investiert ist, als auch von ausländischen Investoren an US-Unternehmen.

Hieraus ergibt sich – und auch dies hat sich nach einem Jahr Ukraine-Krieg nochmals verdeutlicht –, dass auch im großen und komplexen Staats- und Sicherheitsapparat der USA unterschiedliche, widersprüchliche Interessen und Agenden vorherrschen können. Verantwortlich für den Krieg ist und bleibt die Regierung von Wladimir Putin und ihre bewusste Entscheidung, das Völkerrecht zu brechen. Doch auch eine widersprüchliche Politik der USA und des Westens gegenüber der Ukraine hat die geopolitischen Voraussetzungen mit geschaffen, in denen die kurzsichtige Auffassung des Eigeninteresses der herrschenden Klasse in Russland diese Entscheidung begünstigte.

Der Westen gewährte der Ukraine im Budapester Memorandum Sicherheitsgarantien, die nie eingelöst wurden, und machte dem Land Hoffnungen auf eine Eingliederung in die EU und die Nato, für die es keine echte Perspektive gab. Bis heute hat die westliche Koalition kein eindeutig ausformuliertes strategisches Ziel im Konflikt, was seine Gefährlichkeit erhöht. Ranghohe Vertreter von US-Regierung und Militär widersprechen sich in dieser Frage öffentlich.

Der geopolitische Konflikt der USA mit Russland und China rührt in der Analyse von Panitch und Gindin nicht daher, dass diese Länder anstreben, den USA ihren Status als globaler Hegemon streitig zu machen. Weder Russland noch China haben ein Interesse daran, die Verantwortung für die Verwaltung der globalen Wirtschaftsordnung zu übernehmen. Gindin weist darauf hin, dass die chinesische Währung Renminbi für internationale Handelsgeschäfte weiterhin eine untergeordnete Rolle spielt. Damit die chinesische Währung die Rolle des US-Dollars übernehmen könnte, müsste China seine Finanzmärkte viel weitreichender liberalisieren und glaubhaft die individuellen Eigentumsrechte – auch von ausländischen Investoren – sicherstellen. Dies stehe im unauflösbaren Widerspruch zum dortigen politischen System.

Der Konflikt mit Russland und China rührt dieser Lesart zufolge vielmehr daher, dass diese Staaten – als wichtige Rohstoffproduzenten beziehungsweise Werkbank der Welt – einerseits für die Weltwirtschaft eine zentrale Rolle einnehmen. Die USA können sie nicht ignorieren. Gleichzeitig fügen sie sich nicht auf eine für die USA akzeptable Art und Weise ins globale System. Wie der ukrainische Soziologe Volodymyr Ishchenko betont, schützt Russland seine eigene oligarchische Klasse, die den dortigen Staat gekapert hat, vor ausländischer Konkurrenz. Diese Klasse weiß, dass eine Öffnung gegenüber dem Westen mit dem eigenen Machtanspruch und Geschäftsmodell unvereinbar ist. Sie reagiert ebenso rabiat auf Versuche des Westens, russische Märkte zu »öffnen« wie auf die Westorientierung bestimmter Teile der eigenen Mittelschicht – mit militantem Nationalismus, autoritärem Durchregieren und letztlich militärischer Gewalt zur Sicherung der eigenen »Einflusssphäre«.

Chinas Entwicklung ist den USA vor allem deshalb ein Dorn im Auge, weil es seine eigenen Milliardäre dazu ermutigt, durch Investitionen in den Hochtechnologiesektor der Werkbank zu entwachsen. Weder für die eigene Entwicklung noch für chinesische Investitionen im Ausland werden primär die internationalen Kapitalmärkte und die Vermittlerfunktion der Wall Street genutzt. Zwar war es Wunsch und Agenda der USA, dass China kapitalistisch wird, nicht aber, dass es seine eigenen – und vor allem eigenständigen – Kapitalmärkte entwickelt. In beiden Fällen – Russland wie China – stören sich die USA nicht am Aufstieg wirtschaftlich mächtiger Schwellenländer per se, sondern daran, dass sie sich einer Eingliederung in den institutionellen Rahmen des globalen Kapitalismus verweigern.

Auch Gindin verurteilt Russlands Angriff auf die Ukraine klar und nennt den Aggressor beim Namen. Er warnt Sozialist*innen aller Länder jedoch davor, in geopolitisches Lagerdenken zu verfallen und sich die nationalen Agenden kapitalistischer Staaten zu eigen zu machen. Die Linke dürfe nie vergessen, dass hinter der Politik von Nationalstaaten – im Guten wie im Schlechten – die Interessen bestimmter Klassenkonstellationen stehen.

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