Putsch in Peru: »Es geht nicht um Fragen des Gesetzes«

Anwalt Guido Croxatto über politische Justiz und strukturellen Rassismus im Fall des gestürzten Präsidenten Perus Pedro Castillo

  • Interview: Martin Ling
  • Lesedauer: 10 Min.

Ecuadors Präsident Guillermo Lasso hat angekündigt, bei den Präsidentschaftswahlen im August nicht mehr antreten zu wollen. Am 17. Mai hatte er die Auflösung der Nationalversammlung angekündigt. Lasso warf dem Parlament vor, es habe »die Destabilisierung der Regierung, der Demokratie und des Staates zum politischen Ziel«. Die Entscheidung blieb ohne Folgen. Am 7. Dezember 2022 hatte Pedro Castillo die Auflösung des peruanischen Parlaments mit derselben Begründung angekündigt und landete daraufhin im Gefängnis. Worin besteht der Unterschied?

Der Unterschied ist, dass Castillo ein Dorfschullehrer ist, der vom Hochland stammt und sich für die indigene Bevölkerung einsetzt und für die Verstaatlichung der Ressourcen Perus. Lasso dagegen ist ein Banker, der Linke verfolgt. Das ist der einzige Unterschied. Der Fall Pedro Castillo zeigt die Ungleichbehandlung vor dem Gesetz in Lateinamerika. Die Justizsysteme in Lateinamerika – das sagte zum Beispiel Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador, das sagte auch Brasiliens Präsident Luiz Inácio »Lula« da Silva, das zeigt sich auch in Argentinien – sind so korrupt, sie werden von einer kleinen Elite beherrscht, die gegen die Mehrheitsinteressen der Bevölkerung agiert. Deswegen gab es in Bolivien einen Haftbefehl gegen Evo Morales, der ihn zwang, ins Exil zu gehen. Deswegen saß Lula im Gefängnis, deswegen wird der Peronismus in Argentinien juristisch verfolgt, deswegen musste Ecuadors Präsident Rafael Correa ins belgische Exil. Castillo sitzt nicht im Gefängnis, weil er eine Rede hielt, in der er die Auflösung des Parlaments ankündigte. Er sitzt im Gefängnis für das, was er ist, und für das, was er repräsentiert: die Marginalisierten der Gesellschaft. Er organisierte schon als Dorfschullehrer Streiks für würdige Löhne seiner Kollegen.

Interview

Guido Leonardo Croxatto ist Menschenrechtsanwalt und Direktor der argentinischen Anwaltskammer Escuela del Cuerpo de Abogados del Estado (ECAE). Er koordiniert die Verteidigung des peruanischen Präsidenten Pedro Castillo.

Weshalb hat Perus Elite Castillo abgesetzt?

Er wurde abgesetzt, weil er die Rohstoffe verstaatlichen wollte. Der Vergleich mit Ecuador ist sehr interessant. Auf die Rede von Castillo zur Parlamentsauflösung reagierte die US-Botschaft in Peru mit vehementer Kritik. Auf das Vorgehen von Lasso reagierte die US-Botschaft in Ecuador mit Unterstützung. In beiden Fällen ging es um die angekündigte Auflösung eines Parlaments, das den Präsidenten blockierte. Das zeigt, dass es nicht um Fragen des Gesetzes geht. Handelt es sich beim Präsidenten um eine Person, die der wirtschaftlichen Macht nahesteht, wird sie anders behandelt, als wenn es sich um einen Präsidenten handelt, der sich für nationale Souveränität, für die lateinamerikanische Integration und Verstaatlichung der Rohstoffe einsetzt.

Pedro Castillo befindet sich seit Dezember 2022 in Untersuchungshaft und soll dort 18 Monate bleiben. Wie sehen die Haftbedingungen aus? Kann Castillo Anwälte und Familienangehörige empfangen?

Castillo ist willkürlich in Isolationshaft. Er hat keinen Kontakt zu seiner Familie im mexikanischen Exil. Seit er verhaftet wurde, wurde ihm verwehrt, seine Kinder auch nur anzurufen. Das ist illegal. Die Menschenrechtsinstitutionen in Peru sagen dazu nichts. Das ist schwerwiegend. Seinen ausländischen Anwälten wie meinem Mentor Eugenio Raúl Zaffaroni und mir wurde der Zugang verwehrt. Mit absurden formalen Begründungen, dass Zaffaroni in Peru nicht als Anwalt zugelassen sei. Zaffaroni ist ein international anerkannter Strafrechtler und war Richter am Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte und am Obersten Gerichtshof in Argentinien. Die peruanische Staatsanwaltschaft schert das nicht. Mit allen möglichen bürokratischen Mitteln wird verhindert, dass Castillo seine ausländischen Anwälte sehen kann. In einer normalen Demokratie hat ein Angeklagter das Recht, seine Anwälte zu sehen. Einen Tag, nachdem die Pflegetocher von Castillo, Jeniffer Paredes, Zaffaroni und mich um rechtlichen Beistand bat, erließ das Nationale Institut für Strafvollzug (Inpe) in Peru ein Verdikt, wonach ausländische Anwälte keinen Zugang zu den Gefängnissen haben, bis ihre Anwaltslizenz anerkannt worden ist. Dieser formale Akt dauert mehrere Monate. Das sind illegale Maßnahmen, um ausländischen Anwälten den Zugang zu erschweren und zu verweigern.

Aber gibt es die Möglichkeit einer Zusammenarbeit mit den peruanischen Anwälten von Castillo?

Ja. Das geht und das läuft auch sehr gut und sehr koordiniert. Die peruanischen Anwälte konzentrieren sich auf die nationale Ebene, und wir versuchen, die internationalen Institutionen anzusprechen.

Gegen Castillo läuft ein Ermittlungsverfahren wegen des mutmaßlichen Verbrechens der Rebellion und Verschwörung. Der ehemalige Präsident soll gegen die Verfassung verstoßen haben, indem er versucht hat, den Kongress ohne Begründung aufzulösen. Lasso konnte sich in Ecuador auf die sogenannte »muerte cruzada« (etwa: gegenseitige Zerstörung) aus der Verfassung von 2008 berufen, mit der der Präsident die Nationalversammlung unter bestimmten Voraussetzungen auflösen darf. Lasso hat sie erstmals angewendet. Castillo konnte auf ein solches Konstrukt nicht zurückgreifen. War das sein Fehler?

Nein. Ich sehe den Fall anders. Der peruanische Kongress, das Einkammerparlament, hat vom ersten Tag an Castillo am Regieren gehindert. Die Abgeordneten haben alle Register gezogen, um seine Maßnahmen zu unterlaufen. Und Castillo hatte den Auftrag, seine Wahlversprechen einzulösen. Er brachte Gesetzesinitiativen auf den Weg, die systematisch zurückgewiesen wurden. Und warum? Weil sie ihn von Anfang an stürzen wollten. Das ist ein korrupter Kongress, der von über 80 Prozent der Peruaner abgelehnt wird. Mit diesem Kongress wollte Castillo nicht verhandeln. In Castillos Amtszeit bis Ende 2026 enden langfristige Verträge aus der Ära der Fujimori-Diktatur (1990-2000), die Bergbaukonzernen höchst lukrative Bedingungen einräumten, sodass sie 70 Prozent der Wertschöpfung für sich behalten konnten. Castillo hatte nicht vor, diese Abkommen zu verlängern. Er wollte die Rohstoffe verstaatlichen. Dass die ausländischen Unternehmen Castillo nicht an der Regierung haben wollten, ist offensichtlich, weil er gegen ihre Interessen vorging. Der Kongress ist von den rechten Kräften des Fujimori-Lagers dominiert, und sie sind mit dem Big Business verbunden. Castillo war das nicht und wollte das nicht sein. Das ist der wahre Hintergrund, warum Castillo gestürzt wurde und nicht wegen einer Rede, in der die Parlamentsauflösung ankündigte, zu der es nie kam. Sein zweites Vergehen aus Sicht des Kongresses war, eine neue Verfassung ausarbeiten zu wollen, die indigene Gruppen anerkennen und ihnen Repräsentanz im Kongress verschaffen sollte, wo sie bisher nicht gehört werden.

Wer dominiert im peruanischen Kongress?

Dort sitzen Kriminelle wie der ehemalige Gesundheitsminister von Fujimori, Alejandro Aguinaga. Er war für die Zwangssterilisationen von 300 000 indigenen Frauen verantwortlich. Der sitzt nicht im Gefängnis, der ist Abgeordneter. Und Aguinaga gehörte zu denjenigen, die Castillo am 7. Dezember wegen »permanenter moralischer Unfähigkeit« absetzten. Ich frage mich, welche moralische Fähigkeit Aguinaga hat. Der fujimoristische Kongressabgeordnete Juan Carlos Lizarzaburu bezeichnete die Wiphala-Flagge der Indígenas als eine »Chifa-Tischdecke«, wie sie in Billigrestaurants Verwendung findet. Dieser Kongress gehört reformiert. Peru hat den mexikanischen und den kolumbianischen Botschafter rausgeworfen, weil sie gegen die Absetzung Castillos protestiert haben. Peru liegt mit Argentinien im Clinch, weil sie Abgeordneten die Einreise verweigert haben.

Und der Kongress billigte die Repression gegen die Proteste ...

Ja. Peru hat die Proteste gegen die Absetzung von Castillo mit Gewalt niedergeschlagen, bei der Dutzende Menschen ums Leben kamen. In Frankreich gab es gewalttätige Proteste gegen die Rentenreform, aber keinen einzigen Toten. In Peru waren die Demonstrationen gegen die Absetzung von Castillo viel friedlicher und trotzdem sind laut eines Berichts von Amnesty mindestens 49 Menschen gestorben. Es wurden keine Menschen im reichen Stadtteil Miraflores in Lima getötet, sondern Indigene in der Provinz. Was würde in Europa passieren, wenn eine Regierung für 49 tote Demonstranten verantwortlich wäre? Sie bliebe keinen Tag länger im Amt, oder? Warum tolerieren die europäischen Regierungen das Vorgehen der peruanischen Regierung und sagen nichts dazu? Nichts zur Zensur von Journalisten, der Verfolgung von Juristen. In Peru werden liberale Grundrechte mit Füßen getreten. Peru ist auf dem Weg in eine Diktatur, und Europa schaut zu. Peru wandelt auf den Spuren der Fujimori-Diktatur und ähnelt der Pinochet-Diktatur in Chile (1973-90). Es wird ein Klima der Angst geschaffen.

Aus der EU und den USA ist keine Kritik an der Regierung Boluarte und der Gewalt zu vernehmen, von Kolumbiens linkem Präsidenten Gustavo Petro und Mexikos Präsidenten Andrés Manuel López Obrador aber schon, die zusammen mit Peru und Chile im Staatenbündnis Pazifik-Allianz sind.

Vom chilenischen Präsidenten Gabriel Boric bin ich schwer enttäuscht, er gilt ja als Linker. Mexiko und Kolumbien haben Dina Boluarte und ihre Regierung nicht anerkannt, sie verurteilen die willkürliche Absetzung von Castillo als illegal und rassistisch motiviert. Kolumbien sieht das ähnlich. Wer mit dieser Einschätzung nicht konform geht, ist Boric. Seine erste Außenministerin Antonia Urrejola Noguera war den Menschenrechten verpflichtet. Der seit dem 10. März amtierende Alberto von Klaveren ist ein Konservativer, der in Bezug auf Peru das Geschäftemachen offensichtlich höher gewichtet als die Einhaltung der Menschenrechte. Er teilt nicht die Position Mexikos und Kolumbiens, die die Regierung Perus nicht anerkennen.

Die indigene Bewegung sieht hinter dem Sturz von Castillo strukturellen Rassismus. Was halten Sie von diesem Argument?

Es gibt offensichtlich strukturellen Rassismus in Peru. Aber nicht nur da, auch in Bolivien, Ecuador, Brasilien oder in Argentinien. In Lateinamerika wurde mit dem strukturellen Rassismus nicht gebrochen. Dafür reicht ein Blick in die Gefängnisse. Dort sitzen keine weißen Reichen, sondern arme Indígenas. Deshalb leistet die Elite in diesen Ländern Widerstand, wenn ein Pedro Castillo Präsident ist, wenn ein Evo Morales Präsident ist, aber auch wenn ein Gewerkschaftsführer wie Lula in Brasilien Präsident ist. Sie werden allesamt nicht akzeptiert und bekämpft. Diese Eliten verteidigen ihre ökonomischen Interessen, sie verteidigen, dass der Reichtum in wenigen Händen konzentriert bleibt, während die Mehrheit arm bleibt.

War Castillos Ankündigung, das Parlament auflösen zu wollen – erkennbar ohne Rückhalt bei Militär oder Polizei – nicht allein deswegen schon ein politischer Fehler?

Nein. Es war ein sehr ehrgeiziges Unterfangen, es hätte einer besseren Organisation bedurft. Aber man muss schon sehen: Der Kongress hat Castillo daran gehindert, auf Auslandsreisen zu gehen. In Peru wie in vielen lateinamerikanischen Ländern muss für jede Reise die Erlaubnis beim Parlament eingeholt werden. Castillo wurde sie mehrfach verweigert, so wie auch seine mehr als 70 Gesetzesinitiativen, die das Leben der schwächsten Bevölkerungsgruppen verbessern sollten, torpediert wurden. Der Kongress ließ Castillo nicht regieren, und der hat versucht, sich zu wehren. Die Ereignisse nach seiner Verhaftung bestätigen Castillos Sicht. Nur in Peru gibt es die juristische Konstruktion »quasi in flagranti erwischt«. Weil er quasi, aber nicht wirklich das Parlament aufgelöst hat, sitzt er in Haft. Sein Verbrechen war, die Wahlen zu gewinnen und für die Armen regieren zu wollen. Es bedarf in Peru und in ganz Lateinamerika einer Reform des Justizwesens. Es gibt überall Fälle politisch motivierter Rechtsbeugung gegen linke Präsidenten wie Evo Morales in Bolivien, Rafael Correa in Ecuador, Lula in Brasilien, Mel Zelaya in Honduras, Fernando Lugo in Paraguay, Cristina Kirchner in Argentinien. Castillo ist der bisher letzte dieser Fälle.

Was fordern Sie für Castillo?

Wir fordern die Wiedereinsetzung ins Präsidentenamt, weil die Absetzung illegal und willkürlich war. Und wir fordern ein faires Verfahren mit rechtsstaatlichen Garantien, die ihm bisher verwehrt bleiben, unter Einhaltung der Verfassung. Für ein solches faires Verfahren muss er vorher wieder als Präsident eingesetzt werden, damit alles seinen rechtmäßigen Gang gehen kann. Ihm muss als Präsident Perus der Prozess gemacht werden, nicht als rechtlosem Gefangenen. Deswegen haben wir im Juni bei der Interamerikanischen Menschenrechtskommission eine Beschwerde eingereicht, in der wir erklären, dass Castillo Opfer einer Verletzung seiner politischen Rechte und einer willkürlichen Inhaftierung ist. Und es muss ein Referendum über die Rechtmäßigkeit der Regierung Boluarte abgehalten werden. Ich bin sicher, dass die Bevölkerung da ihre klare Ablehnung ausdrücken wird.

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