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Reproduktion als Handgemenge

Überall auf der Welt sind Frauen staatlichem Zugriff auf ihre körperliche Selbstbestimmung ausgesetzt. Der Ansatz der reproduktiven Gerechtigkeit analysiert und bekämpft diese Regimes

Ein Plakat der militanten feministischen Gruppe Rote Zora aus den 1980er Jahren
Ein Plakat der militanten feministischen Gruppe Rote Zora aus den 1980er Jahren

Die Kämpfe um den Schwangerschaftsabbruch sind ein gesellschaftspolitischer Dauerbrenner. Das liegt unter anderem daran, dass bestehende Rechtsansprüche jederzeit zurückgenommen werden können, wenn ein entsprechender staatlicher Wille besteht – selbst nach vielen Jahrzehnten, wie dies seit einigen Jahren in den USA zu beobachten ist. Dass der Zugang zu Abtreibung allerdings nur die Spitze eines Eisbergs ist, stellt das bereits 2021 erschienene Buch »Mehr als Selbstbestimmung! Kämpfe für reproduktive Gerechtigkeit« der Gruppe Kitchen Politics klar. Die Lektüre verdeutlicht, dass feministischer Handlungsbedarf auch in solchen Staaten besteht, in denen derzeit kein Abtreibungsverbot droht.

Analyse und Gegenentwurf

Zur Erfassung des gesamten Themenkomplexes präsentiert das Buch das Konzept reproduktive Gerechtigkeit. Was ist darunter zu verstehen? Mit der Klärung dieser Frage befasst sich das Herzstück von »Mehr als Selbstbestimmung!«, ein Grundlagentext zu Bedeutung und Geschichte des Konzeptes, verfasst in den frühen 1990er Jahren von der Schwarzen Feministin Loretta J. Ross aus den USA. Verstanden als genuin antirassistische Perspektive nicht nur auf die US-Gesellschaft, sondern auch auf einen weiß-bürgerlichen Feminismus, will reproduktive Gerechtigkeit nicht allein eine Methode zur Analyse der Verhältnisse sein, sondern auch ein kämpferischer Gegenentwurf: Sie »umfasst sexuelle Freiheit und körperliche Autonomie und macht sichtbar, welche materiellen Konsequenzen die Verkörperlichung sozialer Verhältnisse hat.«

Als die Bestimmungsinstanz über reproduktive Politiken wird bei Ross der Staat erkennbar: »Obwohl die reproduktive Unterdrückung weißer Frauen sich in Ausprägung und auch in Umfang von Unterdrückungsformen von Frauen of Color unterscheidet, zeigt dies, dass alle Frauen durch staatliche Kontrollmechanismen verwundbar sind.« Auch dass die Bevölkerungspolitik bürgerlicher Staaten ihren ganz wesentlichen Zweck in der Zurichtung für die Produktionssphäre hat, findet Erwähnung. Dennoch bleiben das Verhältnis der Reproduktions- zur Produktionssphäre und die Funktion des Staates darin insgesamt etwas unterbelichtet. Anstatt die Systematik menschenfeindlicher Politik im Kapitalismus zu benennen, spricht Ross von einem »Versagen der USA«, Menschen vor Diskriminierung zu schützen und schlägt vor, »Regierungen und Unternehmen … zur Verantwortung zu ziehen«.

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Eine ähnliche Problematik findet sich im Bezug der Autorin (aber auch der Herausgeber*innen) auf die Menschenrechte: Diese werden nicht als – oft genug wirkungsloses – Feigenblatt desselben Rechts verstanden, das Frauen den Zugang zu Abtreibung verwehrt, sondern als eigentliches Ziel der Kämpfe: Es gehe darum, »basierend auf einer antifaschistischen Analyse eine kohärente Menschenrechtsbewegung aufzubauen.« Diese rechtsidealistische Schlagseite prägt das gesamte Konzept der reproduktiven Gerechtigkeit schon dem Begriff nach. Dabei wäre es notwendig, die Kämpfe um reproduktive Selbstbestimmung gänzlich von der Rechtsform zu lösen – ein Schluss, der sich eigentlich auch ziehen lässt, wenn die Herausgeber*innen in der Einleitung schreiben, »der Kampf um Abtreibungsrechte ist zu sehr auf formale Rechtsfragen reduziert« und ließe den »ungleichen Zugang zu Gesundheitsversorgung sowie alltägliche Erfahrungen der Gewalt und Diskriminierung als strukturelle Bedingungen von Reproduktion außer Acht«.

Deutsche Zustände

Die fünf weiteren Beiträge des Buches setzen sich auf unterschiedliche Weisen mit der Frage auseinander, was reproduktive Gerechtigkeit für den deutschen Kontext bedeuten kann. Dies ist ein sinnvolles Unterfangen angesichts der Tatsache, dass reproduktive Gerechtigkeit als Konzept doch sehr auf den spezifischen Bedingungen der US-Gesellschaft heraus entwickelt wurde.

Die Autorin Anthea Kyere setzt sich in ihrem Aufsatz »Kämpfe verbinden« mit reproduktiver Bevölkerungspolitik in Deutschland auseinander, mit historisch-analytischer Stoßrichtung, aber auf der Basis von Gesprächen mit »feministisch-aktivistisch organisierten BPoC-Gruppen in Berlin«. Nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland, betont Kyere, »gibt es eine lange Geschichte von Kämpfen aus verschiedenen Bereichen der Marginalisierung, die in den Bereich der reproduktiven Gerechtigkeit fallen.« Dennoch gehe es darum, spezifisch deutsche Beispiele weiß-dominierter Bevölkerungspolitik herauszuarbeiten; so etwa die »pronatalistische Programmatik in deutschen Kolonien, um etwas nach den Massenmorden und der Verwüstungspolitik in «Deutsch-Ostafrika» wieder einen kolonialen Arbeitskräftebestand zu sichern«. Zum anderen die Familienpolitik des Nationalsozialismus mit ihrer Ideologie des »Volkskörpers«, welche die typische bevölkerungspolitische Janusköpfigkeit von Geburtenförderung bei bestimmten deutschen Frauen und Zwangssterilisierungen und -abtreibungen bei anderen aufwies.

Eben diese Vielschichtigkeit will das Konzept der Reproduktiven Gerechtigkeit übrigens erfassen: Nicht alle Frauen* sind in derselben Weise von solchen staatlichen Programmen und Maßnahmen betroffen, vielmehr sind diese strukturiert durch verschiedene Unterdrückungsformen; neben Sexismus sind hier zumeist Rassismus und Klasse gemeint. Dabei erweist sich der Ansatz der Intersektionalität, der dem Prinzip Reproduktive Gerechtigkeit zugrunde liegt, als sinnvoll – zumal etwa für die Analyse der NS-Bevölkerungspolitik, in der tatsächlich rassistische/antisemitische Parameter den – eigentlich für eine kapitalistische Gesellschaft grundlegenderen – Klassenstandpunkt überlagern: Einzig relevant für die staatliche Festlegung der Fortpflanzungswürdigkeit einer Frau war ihre Bestimmung als »arisch«, wobei die Zugehörigkeit etwa zum Bürgertum vollkommen unerheblich war.

In der bundesrepublikanischen Gegenwart, so hält es Kyere ganz richtig fest, folgt die staatliche Bevölkerungspolitik »zwar einer anderen Rhetorik und nutzt andere politische Mittel, enthält aber weiterhin entlang rassistischer und eugenischer Achsen auch antinatalistische Komponenten«. Als Schauplätze für die Kämpfe um reproduktive Selbstbestimmung nennt sie die Familien- und Sozialpolitik ebenso wie die Gesundheits- und Asylpolitik, als Beispiel für weiße Akademiker*innen als Adressatinnen für die gewünschte Geburtenratensteigerung behandelt sie das 2007 eingeführte Elterngeld, das vor allem Leuten zukommt, die ohnehin ein höheres Einkommen haben, während von Armut betroffene Menschen oder solche ohne langfristige Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis keinen Anspruch haben. In diesen Beispielen wird deutlich, dass die liberale bürgerliche Demokratie ihre Bevölkerungspolitik stark utilitaristisch-klassenspezifisch ausrichtet. Angesichts des Berichts einer geflüchteten Frau, deren zweimonatige Schwangerschaft durch die vom Lager bereitgestellte Gynäkologin fälschlicherweise als Zyste diagnostiziert wurde, wird aber auch klar: Kyere ist darin absolut zuzustimmen, dass die Bedürfnisse etwa von Geflüchteten »nicht nur in Bezug auf finanzielle Leistungen oder formale Zugänge massiv missachtet« werden, sondern auch aufgrund von schlichtem Rassismus etwa derjenigen, die mit ihrer medizinischen Versorgung beauftragt sind.

Marginalisierte Aktivist*innen

Ein weiterer Beitrag dokumentiert einen »Austausch mit und in einem Berliner Netzwerk« und liefert damit einen Einblick ebenso in konkrete Kämpfe in Deutschland wie in die spezifischen Auswirkungen von reproduktiver Bevölkerungspolitik auf marginalisierte Personengruppen. Vertreter*innen von vier verschiedenen Gruppen äußern sich zu der Frage »Was bringt uns das Konzept der reproduktiven Gerechtigkeit«: das Netzwerk behinderter Frauen in Berlin, die Geflüchteten-Organisierung Women in Exile, das Community-Zentrum für ganzheitliche Gesundheitsversorgung Casa Kuà und die Erwerbsloseninitiative BASTA. Während die Tätigkeitsfelder dieser Gruppen ganz verschiedene Diskriminierungsformen abdecken, kann die Aussage von Kiamsha Braithwaite-Hall von Causa Kuà sicher für allgemeingültig genommen werden: »Mein grundlegendes Verständnis von reproduktiver Gerechtigkeit ist der Zugang zu reproduktiver Gesundheit für alle, unabängig von ihrer Identität, ihrem Geschlecht oder ihrer ›Rasse‹. Reproduktive Gerechtigkeit meint, dass mein Körper nicht von anderen kontrolliert werden sollte.«

Zumal dieser Fokus auf reale Organisierungsprozesse dürfte sehr im Sinne des Ansatzes reproduktive Gerechtigkeit sein – wie bei Loretta Ross zu lesen ist, gelang es Aktivist*innen of Color in den USA, »durch den Aufbau von Kollektiven, Organisationen und Allianzen … den Pro Choice-Rahme zu sprengen.« Das Faktum, dass auch in Berlin nicht-weiße und weiße Frauen gemeinsam kämpfen, berührt einen integralen Bestandteil reproduktiver Gerechtigkeit. Es ist eine Anerkennung des Vorhandenseins von Rassismus auch in der feministischen Bewegung selbst und die Notwendigkeit, diese unterschiedlichen Bedingungen zum Gegenstand der Kämpfe zu machen. Auch wenn hier das Bestehen von Differenz sehr im Fokus steht, lässt sich doch am Ende für alle Frauen festhalten: »Reproduktive Unterdrückung« bedeutet die »Ausbeutung unserer Körper, unserer Sexualität, unserer Arbeit und unserer Fruchtbarkeit, um soziale und ökonomische Kontrolle über unsere Communitys zu erlangen«. Diesem Zustand ein Ende zu setzen, muss Bestandteil jeglicher emanzipatorischen Politik sein.

Wir haben nichts zu verlieren als unsere Ketten: Schwarze US-Feministinnen entwickelten den Ansatz reproduktive Gerechtigkeit
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