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Wolfgang Berghofer: »Da mache ich nicht mit!«

Wolfgang Berghofer über den Herbst 1989, die deutsche Einheit, Erfolge und Enttäuschungen, Ungerechtigkeit und Unfrieden

Hans Modrow (links), 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Dresden, und Wolfgang Berghofer (Mitte), Oberbürgermeister der Elbestadt, im Gespräch mit Demonstranten, Oktober 1989
Hans Modrow (links), 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Dresden, und Wolfgang Berghofer (Mitte), Oberbürgermeister der Elbestadt, im Gespräch mit Demonstranten, Oktober 1989

Herr Berghofer, ich stelle Ihnen nicht die berühmte Frage: Wo waren Sie, als die Mauer fiel? Ich würde aber gerne wissen: Was haben Sie am 3. Oktober 1990 gemacht, was an jenem Tag empfunden?

Es gab in meinem Leben Tage, die mir viel wichtiger waren. Etwa der 7.Oktober, weil ich damit in verschiedenen Funktionen, die ich damals ausübte, auch konkrete Erinnerungen habe.

Am 7. Oktober 1989 waren Sie Oberbürgermeister in Dresden. In DDR-Städten gingen die Menschen auf die Straßen, auch in Dresden. Dort hatte es wenige Tage zuvor Zusammenstöße gegeben; die »Sächsische Zeitung« berichtete von »antisozialistischen Ausschreitungen« und von »Mordhetze«. Das »Neue Deutschland« druckte am 10. Oktober einen Beitrag der SED-Bezirkszeitung nach, in dem es hieß: »In Dresden haben sich in den vergangenen Tagen größere Gruppen junger Menschen zu rowdyhaften staatsfeindlichen und verfassungswidrigen Aktionen zusammengerottet ... So grölten sie: ›Schlagt die Kommunistenschweine und hängt sie auf!‹« Fürchteten Sie um Ihr Leben?

Nein. Ich denke, dass man stets unterscheiden muss zwischen dem, was in der Zeitung steht, und jenem, was tatsächlich geschieht. Die Wirklichkeit und deren Abbildung in den Medien sind wie verschiedene Paar Schuhe. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Die Mechanismen sind andere, der Missmut der Leser, Fernsehzuschauer und Rundfunkhörer aber ist der Gleiche und auch begründet. Halten wir doch einmal fest: 1989 hatten die DDR-Bürger, auch die Dresdner, mehrheitlich nicht nur von der Informationspolitik die Nase gestrichen voll. Das Zerwürfnis zwischen denen »da oben« und jenen »da unten« begann nicht erst mit der Kommunalwahl im Mai des Jahres, aber diese Wahl war einer unserer Sargnägel.

Interview

Wolfgang Berghofer, geboren 1943 in Bautzen, lernte Maschinen­schlosser und arbeitete zunächst in diesem Beruf, war dann als Sportlehrer tätig, bevor er 1969/70 an der FDJ-Jugendhochschule »Wilhelm Pieck« am Bogensee studierte und beim Zentralrat der Freien Deutschen Jugend in Berlin für Westarbeit sowie dann für die Organisation der Weltfestspiele der Jugend und Studenten 1973 in Berlin und anderer nationaler Großveranstaltungen mitverantwortlich war. 1986 wurde er Oberbürgermeister in Dresden und trug dazu bei, dass der Herbst 1989 nicht in Gewaltexzesse mündete. Nach 1990 war Berghofer als freier Unternehmensberater vor allem für ostdeutsche Firmen tätig. Im Eulenspiegel-Verlag erschienen von ihm »Meine Dresdner Jahre«, »Keine Figur im Schachspiel« sowie in diesem Jahr »Zwischen Wut und Verzweiflung« (Edition Ost, 256 S., geb., 20 €).

Wie meinen Sie das?

Das für die Parteiorgane zuständige Politbüromitglied Horst Dohlus hatte angewiesen, dass das Wahlergebnis nicht schlechter sein dürfe als beim letzten Mal, wohl wissend, dass die vorangegangenen 99 und noch was Prozent bereits geschummelt waren. Ich bin daraufhin zu Hans Modrow gegangen, damals 1. Sekretär der Dresdner SED-Bezirksleitung, und habe gesagt: »Hans, da mache ich nicht mit.« Modrow, der gerade eine Parteiüberprüfung überstanden hatte, sah wie ich das Problem, meinte aber den Ball flach halten zu müssen: »Wolfgang, wenn wir nicht mitspielen, können wir alles vergessen, was wir in Dresden verändern wollen!«
Ich war der Überzeugung, dass wir trotz des gestiegenen Unmuts in der Bevölkerung – auf meinem Tisch lagen ungefähr 25 000 Ausreiseanträge von Dresdner Bürgern – mindestens 80 Prozent Zustimmung bekommen würden. Immer noch eine überzeugende und ehrliche Mehrheit. Hans sah mir in die Augen – und ich wurde weich, habe mich breitschlagen lassen. Also wurde auch diesmal wieder der Stift angesetzt.

Brachte die Fälschung der Wahlen das Fass zum Überlaufen?

Nein, die Wahlen allein nicht. Es gab viele Tropfen in den folgenden Monaten, die den Pegel fortgesetzt erhöhten. Da waren die Massenfluchten über die ungarisch-österreichische Grenze, die Botschaftsbesetzungen, das Verschweigen in unseren Medien, die Flut an Ausreiseanträgen, schließlich die hirnrissige Anweisung Honeckers, die Prager Botschaftsflüchtlinge über DDR-Territorium ausreisen zu lassen. Ausgerechnet über Dresden.
In der Nacht vom 30. September auf den 1. Oktober waren bereits sechs Züge aus Prag durchgefahren, ohne dass es bemerkt wurde. Dann aber sprach sich die Sache herum, es kamen immer mehr Menschen an die Strecke zum Hauptbahnhof. Am Ende waren es einige Tausend. Die Sache lief völlig aus dem Ruder, die Gewalt eskalierte. Durchaus gewaltbereite Jugendliche fühlten sich von Bereitschaftspolizei, Kampfgruppen, Offiziersschülern und Eisenbahnern, die ihren Bahnhof verteidigten, bedroht. Bedroht fühlten sich allerdings auch die anderen, die loyalen Staatsdiener. Sie wurden beschimpft, mit Steinen beworfen und geschlagen. Polizeiautos gingen in Flammen auf, die Prager Straße und der Bahnhof wurden verwüstet ...
Ich hatte an diesem Tag in Dresden-Gorbitz als OB die 75 000. Neubauwohnung übergeben und sah mir am Abend das Schlachtfeld an. Hans Modrow sagte mir am Telefon, ich solle dafür sorgen, dass die Schäden bis zum 7. Oktober beseitigt werden, damit der 40. Geburtstag ordentlich begangen werden könne – um »das andere« kümmere er sich.

Es wurde in Dresden am 7. Oktober 1989 wie üblich gefeiert?

Gefeiert? Wir hielten im Rathaus vor ausgewähltem Publikum – wir kennen das heute von den Einheitsfeiern – die üblichen Reden. Ich stand am Fenster und schob den grünen Vorhang beiseite. Da marschierten Menschen auf der Straße, schweigend. Ihr stummer Protest galt uns. Während wir drinnen unsere darniederliegende DDR hochleben ließen, sagten sie mit ihrem Schweigen, dass sie sich entschieden hatten. Gegen diesen Staat, gegen den Sozialismus, wie sie ihn real erlebten.

Glaubten Sie wirklich, dass die Demonstranten sich prinzipiell gegen den Sozialismus entschieden hatten? Wollten jene ihn nicht eher reformieren?

Keine Frage: Es gab damals nicht wenige, die für einen anderen, tatsächlichen Sozialismus auf die Straße gegangen sind. Auch unter diesen Demonstranten vorm Dresdner Rathaus waren sie. Aber die »schweigende Mehrheit« wollte Reisefreiheit, Westgeld und Bananen. Sie hatten mit der DDR abgeschlossen.

Die Mehrheit?

Die Hälfte bestimmt. Anders lässt sich doch nicht erklären, weshalb binnen weniger Wochen die Stimmung derart kippte. Erinnern Sie sich an die Kundgebung mit Helmut Kohl vor der Dresdner Frauenkirche, fünf Tage vor Heiligabend? An dieses Meer von Deutschlandfahnen und sächsischen Landesfahnen? Die hingen doch dem Kanzler geradezu an den Lippen.

Das war am 7. Oktober, auch 1989 ein Samstag wie heute, noch nicht abzusehen?

Nein, ganz gewiss nicht, wir waren keine Hellseher. Niemand von den kritischen Verantwortlichen wusste, ob der Punkt, an dem eine Erneuerung, eine Reform des bestehenden Sozialismus nicht mehr möglich sein würde, noch vor uns lag oder ob er nicht bereits überschritten war.
Am Sonntagabend, am 8. Oktober, rief mich mein Stellvertreter für Inneres, Hans Jörke, an und signalisierte mir, dass Superintendent Christof Ziemer, Landesbischof Johannes Hempel und ein Oberkirchenrat mich zu sprechen wünschten. Ohne zu dramatisieren: Ein solches Treffen konnte in Berlin als Kollaboration mit dem politischen Gegner ausgelegt werden, was unter Umständen ernste Konsequenzen nach sich gezogen hätte. Andererseits: Verweigerte ich mich einem solchen Gespräch, unterschied ich mich in den Augen der Kirchenleute nicht von den Betonköpfen, die einen Dialog ablehnten und den Flüchtlingen »keine Träne nachweinten«, wie es in Ihrer Zeitung stand.
Das Treffen fand schließlich kurz vor 21 Uhr am Sonntagabend im Dresdner Rathaus statt. Auf der Prager Straße seien seit Stunden 4000 Menschen von der Polizei eingekesselt, sagten die Kirchenleute. Die Situation sei explosiv. Ich sollte etwas unternehmen, als Oberbürgermeister sei ich für das friedliche, gewaltfreie Zusammenleben in unserer Stadt verantwortlich. Damit hatten sie natürlich recht. Ich bat um eine Bedenkpause und versuchte Hans Modrow telefonisch zu erreichen. Doch der saß in der Semperoper und sah »Fidelio«. Also musste ich selbst entscheiden. »Wir formulieren eine kurze Erklärung«, schlug ich vor. »Mit der schicken Sie die Leute nach Hause, und mein Stellvertreter Hans Jörke informiert den Diensthabenden der Bezirksleitung der VP, dass dieser den Einsatzleiter in der Prager Straße anweist, die Menschen abziehen zu lassen.« – »Einverstanden«, sagte Ziemer, einzige Bedingung: »Sie empfangen morgen eine Abordnung der Demonstranten zum Gespräch.« So wurde die Idee von der Gruppe der 20 geboren.

Und was war nun mit Modrow?

Er rief mich nach Mitternacht zurück. Ich informierte ihn. Er stimmte zu. Und bat mich um 6.30 Uhr in der Früh am nächsten Tag zur Sekretariatssitzung der SED-Bezirksleitung: »Ich lasse einen Text vorbereiten, den du im Sekretariat vorträgst und der von uns ohne Diskussion gebilligt wird.« Und so geschah es. Wir handelten auf eigene Faust. Ohne den Segen Berlins – den wir vielleicht nicht bekommen hätten. So begann dann am 9. Oktober der Dialog mit den Demonstranten in Dresden. Er wurde am Abend in allen Kirchen im Bezirk ausgewertet und trug zur Entspannung bei.

Es war Ihnen nicht an der Wiege gesungen worden, dass Sie eine solche beachtliche politische Karriere machen und an einem entscheidenden historischen Wendepunkt an einer exponierten Stelle stehen würden. Sie wuchsen bei der Großmutter in einem Dorf in der Lausitz auf, weil sich Ihre Eltern getrennt hatten. Ihre Mutter lebte in Westberlin

Nun ja, meine Biografie ist nicht untypisch für einen Ostdeutschen. Ich war bei den Pionieren, in der FDJ; mit 19 wurde ich Mitglied der SED, weil mir die alten Genossen sagten: »Wenn du was verändern willst, dann musst du zu uns kommen.« Ich fand das alles richtig. Und normal. Meine Vita und meine Haltung kann man in meinen Büchern nachlesen, das will ich hier nicht alles repetieren.
1986 wurde ich nach Dresden geschickt. Die Barockstadt war inzwischen Barackstadt. Es regnete durch 6000 Dächer. In der Stadt gab es offiziell nur noch zwölf Dachdecker. Die Partei beschloss ein »Dächer dicht«-Programm, die »Sächsische Zeitung« erklärte selbstbewusst: »In einem halben Jahr sind alle Dächer dicht.« Und niemand hatte den Mut zu erklären, dass das schlechterdings nicht möglich sein würde.
Der Mut zur Wahrheit geht übrigens auch heutigen Politikern ab, das ist anscheinend eine Berufskrankheit. Wir fürchteten die Kritik »von oben«, die heutigen Mandatsträgern die »von unten«, nämlich bei der Wahl nicht genügend Stimmen zu bekommen. Wir schönten die Berichte – die reden sich die Wirklichkeit schön. Da ist zum Beispiel das umweltschädlich geförderte Fracking-Gas, das zudem über den Atlantik mit Tankern gebracht wird, angeblich wesentlich umweltfreundlicher als billiges russisches Erdgas, das durch Pipelines in der Ostsee gepumpt würde ...

Dresden stand im Vergleich zu anderen ostdeutschen Städten 1989 noch ganz gut da, oder?

Ja, es gab in Dresden bedeutende Bauwerke und bemerkenswerte Betriebe. Aber die Stadt zerfiel schneller, als wir sie reparieren und aufbauen konnten. Und so, wie die Fassaden verfielen, bröckelte auch das Vertrauen der Menschen. Uns verließen Ärzte, Lehrer, Ingenieure, Facharbeiter, Wissenschaftler – Menschen, die jeder Staat zum Existieren braucht. Ein Staat, dessen personelle Basis aber erodiert, hat keine Zukunft. Er ist dem Untergang geweiht. Diese gleichermaßen traurige wie niederschmetternde Erkenntnis hielt mich auch davon ab, die Nachfolge von Hans Modrow in Dresden anzutreten, als er Mitte November 1989 nach Berlin gerufen und Ministerpräsident wurde.

Aber Sie verweigerten sich nicht, Stellvertreter von Gregor Gysi zu werden, als der auf dem Sonderparteitag Anfang Dezember zum SED-/PDS-Vorsitzenden gewählt wurde.

Ich muss vorausschicken, dass es vor dem Parteitag ein Sechs-Augen-Gespräch zwischen Hans Modrow, Wolfgang Herger, Leiter der Abteilung Sicherheitsfragen beim ZK der SED, und mir im Gästehaus Johannishof gab. Hans versuchte mich zu überzeugen, den Parteivorsitz zu übernehmen. Zum zweiten Mal wünschte er also, dass ich hauptamtlicher Parteifunktionär würde. Das lehnte ich ab. Allerdings war ich bereit, ehrenamtlich aktiv zu werden. Wie es wirklich war, kann man in einem 2013 erschienenen Gesprächsband nachlesen, erschienen bei Edition Ost: »Ostdeutsch oder angepasst. Gysi und Modrow im Streitgespräch«. Gysi erklärt darin: »Wir hatten zuvor im Arbeitsausschuss diskutiert, wer den Parteivorsitzenden machen sollte. Erst wurde Herbert Kroker vorgeschlagen, der lehnte ab. Danach wurde Wolfgang Berghofer vorgeschlagen, der lehnte auch ab, schlug aber mich vor. Ich zögerte ebenfalls. Daraufhin hat Berghofer ein Gespräch mit mir geführt und mich bearbeitet. Schließlich willigte ich ein – allerdings mit der Maßgabe, dass ich es nur machte, wenn er mein Stellvertreter würde. Darauf sagte er: Ja.« Ich hatte allerdings keine Frist vereinbart.»

Sie warfen schon nach wenigen Tagen den Bettel hin, was Ihnen von einigen Genossen verübelt wurde. Und als Sie dann auch noch zur SPD gehen wollten, beschimpfte man Sie als Renegat.

Die mich damals einen Renegaten nannten, sind auch nicht mehr in der Partei. Am 21. Januar 1990 erklärte ich mit vier weiteren Parteivorständlern in einem Brief an Hans Modrow unseren Parteiaustritt und forderte auch Hans zu diesem Schritt auf. 40 Dresdner Genossen folgten unserem Beispiel. Ich räume ein, dass ich mich mit der Absicht, die Partei zu verlassen, bereits 14 Tage nach meiner Wahl zum Partei-Vize trug. Anfang Januar stand mein Entschluss endgültig fest. Ich konnte mir ein Leben ganz ohne Partei sehr gut vorstellen. Meine Berufstätigkeit als Kommunalpolitiker füllte mich aus. Und da diese Arbeit im Dresdner Rathaus ein absehbares Ende hatte, reizte mich durchaus die Vorstellung, in die Wirtschaft zu wechseln und etwas gänzlich anderes zu machen. Parteipolitiker bis zum Ende meiner Tage zu sein, bewegte sich jenseits meiner Vorstellung.

Würden Sie mir zustimmen, dass Sie es nach 1990 leichter als andere DDR-Bürger hatten, in die freie Marktwirtschaft zu gehen? Allein wegen Ihrer Kontakte als OB zu westdeutschen Wirtschaftskapitänen und Bankmanagern.

Das bestreite ich nicht. Aber lassen Sie mich erst noch erklären, wie das mit der SPD damals war. Da kursieren noch immer wilde Gerüchte. Ja, ich spielte zunächst mit dem Gedanken, mich dieser Partei anzuschließen. Nicht weil ich hoffte, dort Karriere zu machen, oder um mit einem SPD-Ticket weiter Oberbürgermeister von Dresden bleiben zu können, sondern weil mir damals die sozialdemokratische Programmatik recht nahe war. Aber die eingeschriebenen Sozialdemokraten verhielten sich so, wie man es den Sozialdemokraten seit 1914 nachsagte: Sie fallen um, wenn’s Spitz auf Knopf steht. Ihre Gefallsucht ist größer als der Ehrgeiz, sich in den Wind zu stellen.
Anfang 1990 blies der Sturm der SED-PDS heftig um die Ohren, Die SPD befürchtete, einiges davon abzubekommen, wenn sie ehemalige Genossen der SED Aufnahme und Obdach bot. Dem wollte sie offenkundig aus dem Weg gehen. Ich habe später einmal mit Willy Brandt darüber gesprochen. Der sagte nur lakonisch: «Berghofer, seien Sie froh, dass Sie nicht in die SPD eintreten durften. Ihnen würde wie Herbert Wehner bis zum Ende seiner Tage vorgehalten werden, einmal Kommunist gewesen zu sein.»

Möglicherweise wäre eine halbe Million SED-Mitglieder in die SPD gewechselt, wenn Sie denn aufgenommen worden wären. Das hätte die SPD vermutlich grundlegend verändert, was die Funktionäre wohl fürchten mussten.

Die SPD wäre total verändert worden. Und die Bundesrepublik würde heute auch anders aussehen.

Zurück zu Ihrem Wechsel von der Politik ins freie Unternehmertum. Galten Sie in der bundesdeutschen Wirtschaft als Alibi-«Ossi»?

Ich bin ein links denkender und fühlender Unternehmensberater. Und das akzeptieren meine westdeutschen Kollegen. Mehr oder weniger. Ich ahne aber, worauf Sie hinauswollen. Ja, ich sehe die Vereinigung – die ja keine Vereinigung war, sondern eine Übernahme – bei aller berechtigten Kritik tendenziell positiv. Dresden wäre heute eine Ruine, andere Städte im Osten auch. Das Versprechen «blühender Landschaften» wurde jedoch so wenig eingelöst, wie die Fähigkeiten der Ostdeutschen wahrgenommen und honoriert wurden. Mir hat einmal der VW-Chef Ferdinand Piëch gesagt: «Herr Berghofer, ich habe durch die Vereinigung 8000 hoch qualifizierte Facharbeiter in Eisenach und Zwickau gewonnen. Das sind die besten Leute in meinem ganzen Laden von 150 000 Arbeitern. Ihre Leute jammern nicht, sind hoch qualifiziert und finden für jedes Problem eine Lösung.»

Politisch aber hatten solche Urteile keine Folgen.

Sehen Sie: Genau das ist das Dilemma dieses Landes. Die Wirtschaft handelt pragmatisch und hat darum keine Probleme, etwa mit der Volksrepublik China, der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt, zu kooperieren und diesen Markt zu erschließen. Sie sichert die Existenz des Landes, indem sie die Mittel erwirtschaftet, die der Staat verbraucht – allerdings für eine zunehmend ideologisch motivierte Politik, die unter Realitätsverlust leidet.
Ich sehe auch keine Reihenfolge oder Prioritätenlisten, nach denen Probleme gelöst werden könnten. Gemäß der Feststellung von Willy Brandt, dass Frieden nicht alles sei, aber ohne Frieden alles nichts, muss sowohl die Klimakatastrophe als auch die Gefahr eines globalen Krieges abgewendet werden. Zeitgleich und nicht nacheinander. Die Lunte am atomaren Pulverfass glimmt, und die Klimakatastrophe leuchtet am Horizont – auch wenn wir das gern verdrängen und uns stattdessen lieber mit Gendersternchen und Cancel Culture, veganem Essen und der Breite von Fahrradwegen beschäftigen. Wir werden täglich mit Nachrichten vom Krieg in der Ukraine bombardiert, aber liefern lieber schwere Waffen statt gewichtige Vorschläge, wie die Beteiligten das Morden beenden können.

Sind Sie ein Pessimist?

Trotz aller Zweifel bleibe ich ein grimmiger Optimist.

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