Am Himmel und im Hinterhof

Stolpersteine für Astronom Archenhold, Kommunist Langguth und andere Naziopfer

Die Läden im Erdgeschoss verkaufen Kinderschuhe, Naturtextilien und Tee. Es ist eine typische Mietskaserne im alten Berliner Arbeiterbezirk Prenzlauer Berg, aber heute schick saniert wie die ganze Gegend rings um den Helmholtzplatz. Arbeiter wohnen hier fast gar nicht mehr. Sie könnten die Mieten nicht mehr bezahlen.

Als Ernst Langguth 1908 als Sohn eines Tischlers und einer Näherin geboren wurde, war das noch anders. »Hinterhof, zwei Treppen, rechts.« Da ist Ernst aufgewachsen. So erzählt es sein inzwischen 74 Jahre alter Sohn Gerhard. »Anderthalb Zimmer mit Küche. Die Toilette war eine halbe Treppe tiefer.« Lakonisch sein Kommentar: »War ja eine große Wohnung für fünf Personen.« Denn so beengt lebten Arbeiterfamilien damals. Die Kinder spielten auf dem Hof oder auf der Straße. Der kleine Ernst schloss sich einer kommunistischen Kindergruppe an. Käthe Niederkirchner, nach der in der DDR Straßen und Betriebe benannt worden sind, war seine Pionierleiterin. Die SS erschoss Niederkirchner im September 1944 im KZ Ravensbrück.

Im Konzentrationslager landet der Widerstandskämpfer Ernst Langguth nicht. Aber er wird verhaftet und erst in einer SA-Kaserne und dann im Polizeipräsidium am Berliner Alexanderplatz eingesperrt und gefoltert. Er kommt allerdings frei, flieht nach Prag und schließlich nach Großbritannien und überlebt die Nazizeit. Im August 1946 kehrt er nach Ostberlin zurück, arbeitet später zeitweise auch wieder im Untergrund – wenn er von der SED nach Westdeutschland entsandt wird, wo die KPD seit 1956 verboten ist. Sohn Gerhard erinnert sich, dass der Vater immer wieder einfach weg war. Wo er dann ist, für wie lange und was der Vater tut? Das erfährt Gerhard seinerzeit nicht. Es unterliegt der Geheimhaltung.

Bevor die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) 1968 in der Bundesrepublik zugelassen wird, soll Ernst Langguth einen Mann treffen, den er 1949 auf einer Parteihochschule kennenlernte, allerdings nur mit dessen Decknamen. Der richtige Name ist Herbert Mies, DKP-Vorsitzender von 1973 bis 1990. So habe sein Vater bei der Gründung der DKP Pate gestanden, erzählt Gerhard Langguth.

Ernst Langguth gehört zu den Naziopfern, für die der Künstler Gunter Demnig Stolpersteine verlegt hat. Viele dieser Opfer waren Juden und der Stolperstein befindet sich im Gehweg vor ihrem letzten Wohnsitz, bevor sie deportiert und ermordet wurden. Es gibt aber auch Stolpersteine für andere Naziopfer und auch für solche, die wie Ernst Langguth überlebt haben. »Das Leid eines Menschen, der sich verstecken, seine Heimat verlassen musste oder ein KZ überlebt hat, möchten wir nicht bemessen«, erklärt Gunter Demnig.

Im Fall seines Vaters, so erzählt Gerhard Langguth, habe sich die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes VVN-BdA den Stolperstein vor der Dunckerstraße 78 gewünscht, obwohl Ernst Langguth vor seiner Verhaftung noch kurz woanders gewohnt habe. Doch in der Dunkerstraße 78 – Hinterhof, zwei Treppen, rechts – sei der Vater aufgewachsen. »Mein Großvater hat noch bis zu seinem Tod 1966 dort gewohnt.«

In abendlicher Dunkelheit ist der Stolperstein rechts vor dem Eingang gar nicht so leicht zu finden. Er liegt im Schatten eines Blumenkübels, von überhängenden Zweigen beinahe schon verdeckt und ist momentan nicht auf Hochglanz poliert. Am 28. September erinnerte die VVN-BdA zu seinem 115. Geburtstag an den 1983 verstorbenen Widerstandskämpfer. Gerhard Langguth war dabei und erzählte vom Schicksal seines Vaters. Seit dem 20. Mai 2022 liegt dieser Stolperstein dort. Ernst Langguths Witwe Ilse hat es noch erlebt. Sie ist anderthalb Monate später im Alter von 101 Jahren gestorben.

Indessen ließ Gunter Demnig gerade wieder neue Stolpersteine in Berlin und Brandenburg in Gehwege ein – mehrere davon am vergangenen Sonntag an der Alten Jakobstraße 134 für Josef Bohinge Boholle und seine Angehörigen. Es sind unter den inzwischen 1000 Stolpersteinen für Naziopfer im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg die ersten für schwarze Menschen. Der 1880 in Kamerun geborene Josef Bohinge Boholle war 1896 als Teilnehmer der ersten Berliner Kolonialausstellung nach Deutschland gekommen. Die Familie wurde von den Faschisten nicht nur rassistisch verfolgt, sondern hatte auch Verbindungen zum Widerstand.

Am kommenden Freitag um 11 Uhr werden Stolpersteine an der Archenhold-Sternwarte in Berlin-Treptow verlegt. Einer davon würdigt den Gründer und Namensgeber der größten und ältesten Volkssternwarte Deutschlands: Friedrich Simon Archenhold (1861-1939). Die anderen Stolpersteine erinnern an seine Frau Alice und seine Tochter Hilde, die im KZ Theresienstadt ums Leben kamen, sowie an seine aus Deutschland vertriebenen Söhne Günther und Horst. Die Familie hatte jüdische Wurzeln, trat aber zum evangelischen Glauben über. Der Wechsel der Religion schützte nach den Nürnberger Gesetzen von 1935 allerdings nicht vor Verfolgung.

Zur Verlegung der Stolpersteine am Freitag werden Nachfahren von Friedrich Simon Archenhold erwartet. Sein Enkel Simon soll eine Rede halten. Über den berühmten Großvater heißt es in der Einladung: »Nur ihm ist es zu verdanken, dass das größte bewegliche Linsenfernrohr der Welt in Berlin steht und die Sternwarte sich zu einem Ort der öffentlichen Wissensvermittlung entwickeln konnte.« Der Astronom hatte 1891 am Himmel den Perseus-Nebel entdeckt. Er hatte aber Schwierigkeiten nachzuweisen, dass es sich um einen eigenständigen Nebel handelt. Es fehlten dafür einfach die technischen Möglichkeiten. Wohl darum plante Archenhold ein neues großes Teleskop mit 21 Metern Brennweite, die 1896 fertiggestellte Himmelskanone. Sie ist in der Sternwarte im Treptower Park zu besichtigen, die seit 1946 Archenhold-Sternwarte heißt.

In Cottbus wurden am 4. Oktober neun weitere Stolpersteine für jüdische Naziopfer den bereits in der Stadt vorhandenen 90 Stolpersteinen hinzugefügt. »Mit jeder neuen Verlegung von Stolpersteinen wird nicht nur an die Vergangenheit erinnert, sondern auch zur Wachsamkeit gegenüber jeglicher Form von Diskriminierung aufgerufen«, merkte Bildungs- und Sozialdezernent André Schneider bei diesem Anlass an. »Dieses Projekt setzt ein Zeichen der Hoffnung für eine bessere Zukunft.«

In Spremberg verlegte Künstler Demnig am 5. Oktober fünf Stolpersteine, angeregt von der AG Spurensuche der evangelischen Kirchengemeinden der Region. Pfarrerin Jette Förster erforscht seit zwei Jahren mit anderen zusammen das Schicksal von Juden und Widerstandskämpfern in Spremberg. Die jüdischen Spremberger Nathan und Ellen Bernfeld überlebten wie der Berliner Kommunist Ernst Langguth das Naziregime. Die Bernfelds starben 1955, Ernst Langguth wie schon gesagt 1983.

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