Orbán beim EU-Gipfel: Einer gegen alle in Brüssel

Den letzten EU-Gipfel des Jahres beherrschte der Ukraine-Streit mit Ungarns Premier Orbán

Nach einem verspätetem Gipfel-Start ist es bei der Abstimmung über die Aufnahme von offiziellen Beitrittsgesprächen mit der Regierung in Kiew fast wie geschmiert gelaufen. Ohne Gegenstimme wurde am Donnerstagabend von 26 EU-Staats- und Regierungschefs der Empfehlung der EU-Kommission für Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine entsprochen.

Das zuvor seit Tagen angesagte Kontra des nationalkonservativen ungarischen Regierungschefs Viktor Orbán war irrelevant. Denn der Fidesz-Politiker hatte nach einem Hinterzimmerdeal während der Abstimmung den Saal verlassen, womit formal die nötige Einstimmigkeit hergestellt war. Die geplanten 50 Milliarden Euro Hilfsgelder für Kiew blockierte er jedoch.

Orbáns Veto-Drohungen gegen die Aufnahme von Beitrittsgesprächen entpuppten sich diesmal als Luftnummer, nachdem ihn vor allem Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz in Einzelgesprächen ins Gebet genommen hatten. Es war nicht allein Gotteslohn, der zur Enthaltung des Mitgliedsstaates führte, dessen Regierung sich als Wahrer christlicher Werte in Europa verkauft. Unmittelbar vor Beginn des zweitägigen Gipfeltreffens in Brüssel gab die EU-Kommission zehn Milliarden Euro frei, die Ungarn wegen Rechtsstaatsverstößen vorenthalten worden waren. Die Budapest auferlegten Justizreformen gelten nun als abgearbeitet. Im Pott sind aber weiterhin Haushaltsmittel in Höhe von knapp zwölf Milliarden Euro sowie milliardenschwere Corona-Hilfen.

Das Zeichen der Geschlossenheit und Stärke, das das zweitägige Gipfeltreffen senden sollte, hat Ungarns Ministerpräsident mit seinem Vorstoß abgeschwächt. Kiew jubiliert dennoch und verbucht den Beschluss des Europäischen Rates als »historisch« und politisch als das, was das Land militärisch gegen die russischen Invasoren absehbar nicht erreichen kann – als einen Sieg.

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Der steht zunächst nur auf dem Papier, als »Annahme des Verhandlungsrahmens«. Geht alles mit rechten Dingen zu, dürfte es bis zur Aufnahme der Ukraine in die Union noch Jahre oder Jahrzehnte dauern. Davon können die Westbalkan-Länder ein Lied singen, die zum Teil noch nicht einmal den Kanditatenstatus erhalten haben und weiter auf Verhandlungen warten müssen.

Doch gerade vollzieht die EU einen Paradigmenwechsel, bei dem geopolitische Interessen oberste Priorität erhalten. Bei der weiteren Expansion der Europäischen Union als Gemeinsamer Markt und gegen Russland gerichteter Block könnte im Südosten Europas und im postsowjetischen Raum der Turbo angeworfen werden. Eine Brückenfunktion solcher Staaten wird für obsolet erachtet, seit der Kreml versucht, den Konflikt um die Ukraine mit Gewalt für sich zu entscheiden. Entsprechend hatten Präsidentin von der Leyen und ihre Kommission Anfang November aus dem Reich der Märchen verkündet, dass Kiew bei der Erfüllung der ihm mit einer Zehnjahresfrist auferlegten Reformprojekte bereits »deutlich über 90 Prozent des Wegs« gespurtet sei.

Das schwächt die Durchschlagskraft von Orbáns Argumenten. Der Ungar hatte darauf hingewiesen, dass der osteuropäische Nachbar für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen nicht »alle Bedingungen vollständig erfüllt«, wie es ein Gipfelbeschluss vom Juni 2022 verlangt. Darum scheren sich jetzt weder der Europäische Rat noch die Kommission. Was zählt, ist die große symbolische Geste. Und weil Orbán weiter einen Draht zu Kremlchef Wladimir Putin hat, mit dem der Ungar – ähnlich wie Fidesz mit der CSU – die Werteskala teilt, kann er als russischer Einflussagent abgetan werden. Ebenso sein politischer Weitblick, dass ein Stopp des Krieges in der Ukraine durch Verhandlungen vorrangiges Ziel europäischer Diplomatie sein muss.

Neben denen mit der Ukraine hat der Europäische Rat in Brüssel die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Republik Moldau beschlossen. Der vor drei Jahrzehnten abgespaltene und von Russland gestützte Landesteil Transnistrien ist nur ein Konfliktherd in diesem Kontext. Der Status eines Bewerberlandes soll demnächst auch Georgien schmücken. Bosnien und Herzegowina ist etwas näher an Beitrittsverhandlungen herangerückt, Nordmazedonien und der Westbalkan werden dazu angehalten, aufs Tempo zu drücken, um ihre Adaption an die EU während des Erweiterungsprozesses »auf umkehrbare und leistungsorientierte Weise weiter voranzubringen«.

Verglichen mit der kriegsgeplagten Ukraine sind diese Staaten alle nur kleine Fische. Mit den Erweiterungen sollen interne Reformen der EU verbunden sein, für die der Europäische Rat bis zum Sommer 2024 einen Fahrplan erstellen will. Zu Beginn des neuen Jahres stehen aber zunächst die geplanten 50 Milliarden Euro für Kiew erneut auf der Agenda. Bei dieser Abstimmung ging Orbán nicht vor die Tür.

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